01.05.2003

Die erfundene Welt der Öl-Fetischisten

Analyse von Brendan O’Neill

„Kein Blut für Öl!“ und ähnliches skandierte die internationale Friedensbewegung. Für Brendan O’Neill sind das einfältige und weltfremde Sprechblasen.

Nicht nur die Länder der Antikriegs-Koalition, auch Großbritannien hatte seine Antikriegs-Proteste: Straßenproteste, Weglauf-Proteste (gegen die Rückkehr der amerikanischen B52-Bomber) und Hafen-Appelle an die britischen Truppen („Um Himmels willen, bitte geht nicht!”). Umweltfreundliche Kriegsgegner entwickelten sogar eine völlig neue Protestform: Tankstellen-Proteste. Am 24. Februar verursachten Greenpeace-Aktivisten in ganz London verheerende Schäden an Esso-Tankstellen. Über 100 Tankstellen mussten schließen, nachdem die Stromzufuhr zu den Zapfstellen unterbrochen und Benzinschläuche zusammengeknotet worden waren. Einer der Aktivisten erklärte, die Aktion sei ein symbolischer Protest gegen die Unterstützung der Öl-Lobby für Bushs „Krieg für Öl im Irak”. Keine Öl-Firma habe mehr getan, um den Krieg voranzutreiben, als Bushs Zahlmeister bei Esso, hieß es.

Der Slogan „Kein Blut für Öl” wird in vielen Teilen der Friedensbewegung gebetsmühlenartig wiederholt. Viele Kriegsgegner sehen das Interesse an den im arabischen Raum lagernden weltweit größten und einfach zu fördernden Ölreserven als Hauptursache für die amerikanische Aggression. Doch ist Amerika wirklich in den Krieg gezogen, weil die Bush-Familie ihre schmierigen Finger nach noch mehr Öl ausstreckte?

„Die moderne Antikriegs-Haltung ist zu einer zynischen Position verkommen.“

Zweifellos ist die Frage, was nach dem Ende des Krieges mit dem irakischen Öl passiert, für die Bush-Regierung von großer Bedeutung. Aber das Krieg-für-Öl-Argument ist alles andere als das Produkt einer tief gehenden Analyse der ökonomischen Dimension der Irak-Krise. Im Gegenteil: Die Popularität solcher Theorien zeigt vielmehr, wie sehr die Antikriegs-Haltung heute zu einer leeren und zynischen Position verkommen ist. „Kein Blut für Öl“ ist als griffiger Slogan ausgezeichnet dazu geeignet, die eigene Unzufriedenheit und Skepsis gegenüber allem, was man nicht mag, zum Ausdruck zu bringen – gegen Politiker und Institutionen, gegen den Kapitalismus, gegen Öl-Barone und Autofahrer.

Zwar ist es richtig, dass der Irak einer der wichtigen „Öl-Staaten” ist. Er besitzt geschätzte 11 Prozent der weltweit nachgewiesenen Ölreserven und steht damit gleich auf dem zweiten Platz nach Saudi Arabien, das 25 Prozent besitzt. Es wird davon ausgegangen, dass in irakischer Erde zwischen 120 und 200 Milliarden Barrel Öl lagern – genug, um den amerikanischen Öl-Bedarf für 20 Jahre zu decken.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Amerika einen Krieg um Öl führte. Saddam Hussein stellte zu keinem Zeitpunkt ein ernst zu nehmendes Hindernis für die amerikanische Kontrolle der Ölreserven im Nahen Osten dar. Im Gegenteil: In der Zeit, als Saddam vom Weißen Haus hofiert und unterstützt wurde, kennzeichnete es seine Herrschaft, dass er repressive Stabilität in eine Gegend brachte, die ökonomisch für die USA von Interesse war. Gleichzeitig fungierte der Irak als Bollwerk gegen die islamischen Fundamentalisten im Nahen Osten, insbesondere im Iran.

„Die „Enthüllung“, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von Kapitalisten unterstützt wird, kann nur die Naivsten unter uns schockieren.“

Die Antikriegs-Demonstranten wiesen immer wieder darauf hin, dass Präsident Bush enge Beziehungen zur Öl-Industrie unterhalte. Tatsächlich stammt er aus einer langen Tradition von Öl-Baronen; sein Vize-Präsident Dick Cheney war führendes Mitglied der Ölfirma Halliburton; und nach seiner Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wurde sogar ein Öltanker benannt. Aber die „Enthüllung”, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Unterstützung durch Kapitalisten hat, kann nur die Naivsten unter uns schockieren. Von Franklin D. Roosevelts Beziehungen zur Eisenbahn bis hin zu Ronald Reagans Werbung für die amerikanischen Wirtschaftsinteressen in Übersee – amerikanische Präsidenten haben schon immer die Unterstützung der Wirtschaft gesucht.

Der Wirtschaftsjournalist Michael Hirsh machte in einem Artikel in der amerikanischen Wochenzeitung Newsweek deutlich, dass ein Krieg für Öl keinen Cent bringt: „Die Ausgaben für einen amerikanischen Krieg und der späteren Besetzung übertreffen den Nutzen des irakischen Förderungsvolumens von 2,5 Millionen Barrel Öl pro Tag bei weitem. Selbst eine zweite Legislaturperiode von Bush wäre lange vorbei, bevor die zerstörte irakische Wirtschaft wieder in der Lage wäre, ihr volles Potenzial von 6 Millionen Barrel oder mehr zu realisieren.”[1]

Warum ist trotz allem die Sichtweise, dass es im Golfkrieg ums Öl ging, so populär? Das Argument hat Tradition! Schon immer hat die alte Linke versucht, eine direkte ökonomische Erklärung für westliche Kriege zu finden, anstatt die unterschiedlichen Facetten militärischer Interventionen zu verstehen. Sehr häufig wurde daher Kriegen eine mitunter seltsam klingende ökonomische Dimension angedichtet, um somit der eigenen plumpen Weltsicht Legitimation zu verschaffen.

In den 90er-Jahren änderte sich das Image westlicher Einmischung. Es wurde nun aus „humanitären Gründen” interveniert, was viele der alten linken Argumente aus den Angeln hob. Ob in Somalia und in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan, alle diese Interventionen galten – so die westlichen Pressestellen – nicht egoistischen oder ökonomischen Interessen, sondern dem Schutz der betroffenen Menschen, der Wahrung ihrer Würde und der Verteidigung ihrer Menschenrechte, die von brutalen Regimes mit Füßen getreten wurden.

Doch diese humanitären Aktionen waren weder humanistisch motiviert, noch geschahen sie aus moralischer Selbstlosigkeit: Sie wurden vor allem aus innenpolitischen Motiven in Szene gesetzt. Nach dem Ende des Kalten Krieges versuchten westliche Eliten, über „gerechte“ und humanitär motivierte militärische Aktivitäten die moralische Unterstützung und das Selbstvertrauen zurückzugewinnen, die sie in der Innenpolitik verloren hatten. Diese „humanitären Kriege“ führten zu großer Verwirrung unter den Kriegsgegnern, da ihre ökonomisch orientierten Argumente zunehmend realitätsfremder wurden.

In den 90er-Jahren gingen in der Konsequenz viele Liberale und Linke, die früher ausgesprochene Gegner von westlicher Intervention gewesen waren, dazu über, humanitäre Interventionen zu befürworten. Sie konnten dem Argument, dass etwas gegen die Verletzung der Menschenrechte vor Ort getan werden müsse, nichts entgegensetzen.

Auch die radikalere Linke, die immer schon Großbritanniens und Amerikas Kriegspropaganda zynisch gegenüberstand, zeigte sich angesichts der „humanitären Interventionskriege“ zum Schutze verfolgter Minderheiten desorientiert: Viele suchten verzweifelt nach materiellen und ökonomischen Interessen des Westens, um die Ursachen und Hintergründe dieser Kriege zu erklären. Sogar die amerikanische Invasion in Somalia 1993 wurde als gerissene Öl-Mission gedeutet: So berichtete damals ein Journalist, der die Intervention kommentierte, von „bedeutenden Mengen Öl und Naturgas”, die den Amerikanern zugute kämen, „wenn die US-geführten Militärs Frieden in Somalia herstellen könnten”.[2]

Angesichts der großen Irritation und des Fehlens adäquater Erklärungen stieg der Kein-Blut-für-Öl-Slogan zu einem Allround-Slogan auf, den man versuchte bei nahezu jeden Konflikt aus der Schublade zu holen. Populär wurde dabei auch die Pipeline-These, nach der die Amerikaner in sämtlichen neuen Konfliktregionen den Bau von Ölpipelines plante.

In der breiten Öffentlichkeit fand die Theorie, dass Kriege wegen des Öls geführt werden, indes nur wenig Unterstützung. Zu unglaubwürdig schien es, dass hinter dem Kosovo-Konflikt oder der Intervention in Somalia wirklich die Öl-Lobbyisten stecken sollten. Stattdessen machte sich Zynismus gegenüber der amerikanischen Außenpolitik breit: Viele glaubten, dass der damalige US-Präsident Bill Clinton in anderen Ländern Krieg führte, um von den innenpolitischen Problemen abzulenken. So habe Clinton 1998 den Irak und 1999 das Kosovo bombardiert, um von seinem Sex-Skandal abzulenken.

Heute regiert George W. Bush die Vereinigten Staaten, und die Krieg-für-Öl-Theorie ist nicht nur rehabilitiert, sondern erlebt eine neue Hochphase. Natürlich gibt die Person Bushs Anlass, dieser Idee zu neuem Leben zu verhelfen: schließlich ist er der Prototyp des texanischen republikanischen Ölbarons.

Doch das Öl-Argument ist in erster Linie Ausdruck eines weit verbreiteten Zynismus gegenüber Amerikas Politik, den viele Menschen nicht nur in Europa und anderen Teilen der Welt, sondern auch in Amerika empfinden. Nichts scheint heute einfacher, als sich der vorgefertigten, wenn auch halbseidenen Theorie zu bedienen, nach der die USA Kriege führen, um ihre Sucht nach Öl zu befriedigen.

„Die Friedensbewegung missversteht nicht nur moderne Konflikte – sie liefert auch keine überzeugenden Argumente gegen den Krieg.“

Sogar während des Afghanistankrieges wurde diese Theorie hervorgekramt. Viele Demonstranten argumentierten damals, im „Krieg gegen den Terror” gehe es in Wirklichkeit darum, ein US-freundliches Regime an die Macht zu bringen, um den Zugang zu den Öl-Reserven am Kaspischen Meer zu garantieren. Die Krieg-für-Öl-Theorie wurde zur Alternativerklärung des „Krieges gegen den Terror”, der offensichtlich in dieser Form nicht glaubwürdig war und nicht akzeptiert wurde.

In Wirklichkeit waren es nicht angebliche ökonomische Hintergedanken, sondern vielmehr die Inkohärenz der westlichen Kriegsziele in Afghanistan, die den Nährboden für Verschwörungstheorien boten. Und je verwirrender der Krieg in Afghanistan mit seinen immer wieder wechselnden Kriegszielen und verunglückten Aktionen wurde, desto mehr klammerte sich die Antikriegs-Bewegung an das alte Öl-Argument, um den Krieg halbwegs verständlich zu machen. Anstatt also den Krieg zu kritisieren, der tatsächlich stattfand, richteten die Antikriegs-Aktivisten ihre Proteste gegen einen Krieg (um Öl), der nur in ihrer Fantasie existierte. Zum Verständnis des „Kriegs gegen den Terror” hat das ganz sicher nicht beigetragen.

Gegen den Krieg zu sein, bedeutet heute nicht, dass man sich deutlich und grundsätzlich gegen westliche Interventionen ausspricht, sondern es zeigt nur, dass man politischen Führern und Institutionen nicht mehr glaubt und frustriert und misstrauisch ist.

Auf den Anti-Öl- und den Antikriegs-Plakaten brachten verschiedene Gruppen ganz unterschiedliche Sorgen zum Ausdruck. Für Greenpeace war es wichtig, Esso wegen Umweltzerstörung an den Pranger zu stellen. Die Grünen in den USA stellten abenteuerliche Zusammenhänge zwischen dem Irak und dem Benzin her und kritisierten Autofahrer, sie würden den Krieg unterstützen. So schaltete eine amerikanische Antikriegs-Gruppierung im Januar 2003 eine Werbekampagne, die Fahrer von Jeeps beschuldigte, die Öl-gierige Außenpolitik aktiv zu unterstützen.

Die Friedensbewegung missversteht nicht nur moderne Konflikte – sie liefert auch keine überzeugenden Argumente gegen den Krieg. Anstatt die innenpolitische Krise der Bush-Regierung unter die Lupe zu nehmen, suggeriert die Demonstration von Greenpeace bei Esso, das eigentliche Problem sei Bushs „Abhängigkeit“ vom Öl. Diesem narrenhaften Verständnis internationaler Politik zufolge müssten wir einfach nur aufhören, Erdöl zu nutzen, um den Weltfrieden herzustellen. Es bleibt zu hoffen, dass die Antikriegs-Bewegung endlich ihre eigene Abhängigkeit vom Öl überwindet und möglichst bald im 21. Jahrhundert ankommt.

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