01.05.2006

Die Eigentümer des Intellekts

Essay von Boris Kotchoubey

„Jeder beschwert sich über sein Gedächtnis, aber niemand beschwert sich über seinen Intellekt“, sagte La Rochefoucauld. Vielleicht deshalb glauben wir alle, der biologischen Art von „vernünftigen Menschen“ anzugehören. Und doch gibt es welche, die mehr können. Sie sind mit ihrem Intellekt nicht bloß zufrieden – sie machen ihn zu ihrer Sonderbezeichnung, zu ihrem Differenzierungsmerkmal. Nur relativ wenige Männer (und noch weniger Frauen) bezeichnen sich als „Intellektuelle“, was offensichtlich darauf hinweist, dass ihr Intellekt etwas anderes sein sollte als die Vernunft eines normalen Otto Homosapiens.

Testpsychologen können ruhig sitzen bleiben: Ihr Messzeug ist hier völlig irrelevant. Es gibt genug Schreiner, Computerfreaks und Bauern mit einem IQ von 130; das macht sie nicht zu Intellektuellen. „Die Intellektuellen“ sind ein soziales, kein psychologisches Phänomen. Diesen Status hatten sie aber nicht immer. In der klassischen Soziallehre, etwa bei Karl Marx, wurde ihnen die Rolle einer selbstständigen gesellschaftlichen Gruppe nicht zugesagt. Im Gegenteil stellte man sich vor, dass jede Klasse aus ihrem Milieu eine Untergruppe von gebildeten und redebegabten Menschen aussondert, die diese Klasse im theoretischen Bereich darstellt, sozusagen den Klassenkampf auf der geistigen Ebene fortsetzt. Und wäre es nicht schön: ein Intellektueller, der die Gefühle und Gedanken seiner Klasse (noch besser: des ganzen Volkes; aller guten Menschen der Erde) darstellen und ausdrücken kann?
Die Realität ist eher das Gegenteil: Die Intellektuellen sind eine Gruppe mit höchst ausgeprägten eigenen Interessen. Die Grenze, die in vielen Ländern – den USA und Italien, Frankreich und Israel – politische Bewegungen am deutlichsten voneinander trennt, liegt heute nicht mehr zwischen adligen und bürgerlichen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, auch nicht zwischen Armen und Reichen. Diese Linie trennt die intellektuelle Elite samt all denen, die die Attitüden, Ansichten und Verhaltensmuster dieser Elite nachmachen – von der Mehrheit anderer Menschen. Ob der Terror, die Wirtschaftspolitik, die Integration der Einwanderer – zu allen brennenden Themen nehmen die Intelligenzija und das Volk diametral entgegengesetzte Positionen ein. Die Spaltung der Gesellschaften in Intellektuelle und „Sonstige“ wird zum wichtigen Trend unserer Zeit.

„Die Intellektuellen sind die stärkste antidemokratische Gruppe in der Gesellschaft.“


An sich wäre dies nicht so schlimm. Eine demokratische Gesellschaft besteht aus lauter Interessengruppen, Arbeitern und Fabrikanten, Studenten und Gewerkschaftern, Beamten und Rentnern. Eine Gruppe mehr oder weniger böte keinen Grund zur Sorge. Auch die Meinungsunterschiede zwischen Intellektuellen und dem Volk können verschiedene Ursachen haben. Sie sollten als Anlass zu einer Diskussion über ihre Ursachen genutzt werden. Und wer, wenn nicht die Intellektuellen, sollte diese Diskussion entfachen?
Aber genau hier liegt das Problem. Die Intellektuellen lehnen eine solche Diskussion als ihrem Intellekt unwürdig ab: Soll etwa ein Philosoph die politischen Ansichten Ungebildeter ernst nehmen und sich mit ihnen auf Augenhöhe auseinandersetzen? Die Intellektuellen sind die stärkste antidemokratische Gruppe in der Gesellschaft, und das nicht aus böser Laune, sondern grundsätzlich.
Die Idee der Demokratie hat heutzutage kaum Konkurrenz. Kein vernünftiger Mensch glaubt mehr an die absolute Monarchie oder an die Herrschaft des Adels. Selbst die schlimmsten Diktatoren fühlen sich erst dann wohl, wenn sie eine Wahl inszenieren, ein korruptes Gericht errichten und ein Marionettenparlament einberufen. Die einzige wirkliche Alternative zur Demokratie ist der politische Intellektualismus. Laut diesem geht die ganze Macht natürlich vom Volke aus – aber nur, wenn das Volk das tut, was ihm die gebildete Klasse vorschreibt. Das vereinte Europa gibt vor, wie das gemacht wird. Was für Europa gut und was schlecht ist, hat eine Elite längst entschieden, und die Völker haben das Recht, diesen Entscheidungen zuzustimmen.
Die Überzeugung, dass die Gesellschaft von Experten geleitet werden soll, ist kaum mit dem Begriff einer Demokratie vereinbar, in der (zumindest theoretisch) eine Mehrheit von Menschen mit Hauptschulausbildung eine Minderheit von Promovierten überstimmen kann. Seit Platon wissen wir: Wer die Herrschaft der Weisen, der Fachleute als die beste Regierungsform sieht, muss mit der Demokratie Probleme haben.
Die daraus resultierende Demophobie intellektueller Schichten ist eine alte Krankheit. Das Neue ist aber, dass sie massiv verdrängt wird. Die typischen Intellektuellen glauben immer noch an ihre klassische Rolle als Vertreter unterdrückter Klassen. Sie fühlen sich als überzeugte Demokraten. Nichts wollen sie mehr als das Wohl einfacher Leute. Nur worin dieses Wohl besteht, das wissen sie natürlich besser als jene einfachen Leute selbst. Ihr Motto lautet: „Alles für das Volk, nichts mit dem Volk“. Damit wird auf schizophrene Art und Weise ein Gegensatz gebildet zwischen dem „einfachen Volk“, dessen Bedürfnisse im Mittelpunkt des Interesses jedes ehrlichen Intellektuellen stehen sollen, und dem „dummen Volk“, das keine Dankbarkeit gegenüber den Intellektuellen für die Formulierung seiner Bedürfnisse empfindet. Die Intellektuellen wollen nicht einsehen, dass ihre heilige Kuh und ihre dumme Kuh ein und dasselbe Tier sind.

 

„Für die Vermutung, die Fähigkeit zur vernünftigen politischen Entscheidung gehe mit Fachkenntnissen einher, liefert die Geschichte der Demokratien keinen Hinweis.“


Der Fehler des Intellektualismus besteht darin, dass er Politik und Moral als Fächer erfasst, in denen Fachkompetenz eine entscheidende Rolle spielt. Fächer sind tatsächlich die Politikwissenschaft und die theoretische Ethik, aber nicht Politik und Moral. Jene Fächer existieren, in kantianischen Begriffen, im Bereich der reinen Vernunft, genauso wie z.B. Physik oder Biologie. Politik und Moral gehören jedoch zur Welt der praktischen Vernunft. Wenn sich z.B. ein Biologieprofessor unethisch verhalten kann, so kann es ein Ethikprofessor genauso. Und wenn ein Physiker einen politischen Fehler begehen kann, so kann es ein Politikwissenschaftler auch. Die Vermutung, die Fähigkeit zur vernünftigen politischen Entscheidung gehe mit Fachkenntnissen einher, erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel; doch liefert die Geschichte der Demokratien keinen Hinweis dafür. Das Expertentum ist schmal und stur; wer einmal an der Sitzung eines Universitätsgremiums teilnahm, weiß, wie völlig unwissenschaftlich Professoren denken und agieren, sobald es sich um eine Sache dreht, die außerhalb ihres engen Fachbereichs liegt. Die politische Willensbildung braucht einen breiten Ansatz – hier haben die allgemeine Lebenserfahrung und der gesunde Menschenverstand einen höheren Wert als Fachwissen.
Genauso wenig wie zur Wissenschaft gehören Politik und Moral zur Kunst. Das Schöne ist kein Synonym für das Erwünschte und das Notwendige. Als Musiker steht Richard Wagner unvergleichlich höher als Dieter Bohlen; daraus folgt nicht, dass Bohlen-Fans eine schlechtere politische Entscheidung treffen würden als Wagner-Fans. Einige Freunde der Musik Wagners, die sehr schlechte politische Entscheidungen getroffen haben, kennen wir sogar namentlich.

Vor mehr als 100 Jahren erlebten die Intellektuellen ihre goldene Ära – all diese Zolas und Tolstois mit ihrem donnerartigen „J’accuse“. Das war die Zeit, als diese Klasse als neue soziale Kraft auftrat, gerüstet mit der Macht des Wortes und der geistigen Autorität, ähnlich wie die Kirche im Mittelalter. Wie einst der Papst gegen die militärische Übermacht des Kaisers die Superwaffe der Exkommunizierung besaß, entdeckten die Intellektuellen im säkular gewordenen 19. Jahrhundert, dass ihr gedrucktes Wort eine Macht ist, die, wenn von den Massen angenommen, Präsidenten und Geldfürsten nach Canossa treiben kann.
Was ist dann passiert? Warum ist die soziale Gruppe, in die so viel Hoffnung gelegt wurde, zu einer eitlen Interessengruppe entartet? Zum einen hat die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eingeführte Massenuniversität wahrscheinlich einen Beitrag dazu geleistet. Wer z.B. behauptet, seine bevorzugte Bühnengestalt sei Mutter Courage, weil sie eine couragierte Mutter und überzeugte Kriegsgegnerin gewesen sei, den Namen Bertolt Brecht zwar gehört, sein Stück jedoch nicht gesehen hat, wer sagt, dass spanische Konquistadoren Indianern westliche Werte aufzwangen, der hat sein Hauptproblem nicht im Verstehen europäischer Werte, sondern kann aus – zum Teil anerzogenen – ideologischen Gründen nicht mehr unterscheiden, wo die Sonne auf- und wo sie untergeht. Wer meint, dass die Armut im Laufe der Globalisierung zunimmt, dass aber zu früheren Zeiten mehr Armut war als heute, der hat versäumt, sich die einfachsten Formen der Logik, des widerspruchslosen Denkens anzueignen. Je schlechter aber die Intellektuellen gebildet sind, desto stärker sind sie eingebildet. Die Tendenz, mit dem Pathos moralischer Überlegenheit bedeutungsschwere Worte (etwa „Menschenrechte“) zu verwenden, verhält sich umgekehrt proportional zur Einsicht in die Bedeutung der jeweiligen Begriffe und ihrer Zusammenhänge.
Das wichtigste Ergebnis dieser Entwicklung war aber nicht die Ersetzung der Bildung durch eine höhere Ausbildung, sondern die Schaffung eines bisher unbekannten und für unsere Großväter sogar absurd erscheinenden Phänomens: des Massenintellektuellen mit all den bekannten Massenerscheinungen: Konformitätsdrang, Neigung zu panischen Reaktionen, Unterteilung der Welt in „wir hier“ und „sie dort“. Der Intellektuelle von heute ist keine einzigartige Persönlichkeit wie noch vor einem halben Jahrhundert, sondern einer von vielen, der nur so wie alle anderen Vertreter derselben Spezies denken darf und bei dem die Tiefe des individuellen Gewissens durch das Zurschaustellen eines verkaufbaren Images kompensiert wird.

Das typischste Image ist das eines Dissidenten, der mutig gegen Autoritäten rebelliert und schonungslos die Mächte und Obrigkeiten anprangert – allerdings nur diejenigen, die für einen völlig harmlos sind. Der Wegfall von jeglichem staatlichen Zwang ist ein anderer wichtiger Faktor. Ich plädiere nicht für die Rückkehr zu den guten alten Zeiten, als regierungskritische Publikationen mit Zuchthaus bestraft wurden. Jedoch muss klar sein, dass, wenn man mit der Regierungs- und Gesellschaftskritik in voller Sicherheit gutes Geld machen kann, diese Kritik ihre echte Bedeutung als notwendige Korrektur der aktuellen sozialpolitischen Entwicklung verliert und zum normalen Geschäft wird.
Die Sache der modernen Intellektuellen ist sehr billig geworden: Sie dürfen ohne jegliches Risiko couragierte Rebellen spielen, ihr Mut kostet gar nichts, sie ziehen tapfer in den Kampf, in dem sie keinerlei Gefahr ausgesetzt sind. Der Multimillionär Michael Moore, der durch die Beschimpfung seines Landes zu einem seiner reichsten Männer geworden ist, lässt sich gerne als Volksfeind titulieren; mit diesem Namen wurden in der Sowjetunion zwischen 1930 und 1955 Menschen bezeichnet, die für eine einzige, privat geäußerte kritische Bemerkung gegenüber dem Regime für 25 Jahre ins Arbeitslager geschickt wurden.

Nicht nur als einen querdenkenden Dissidenten mag sich ein Intellektueller sehen, sondern auch als Prophet. In dieser Doppelrolle einer moralischen Autorität und eines zukunftswissenden Sehers kann er die Sündhaftigkeit seiner Mitmenschen anprangern und zur Umkehr aufrufen. Der Inhalt seiner Predigt ist immer der gleiche: Wenn wir nicht aufhören (etwas zu tun, was dem Propheten nicht gefällt), sind wir verloren und gehen gleich in die Hölle. Die Leute, die versuchen, Johannes den Täufer in seinen Bußerufen nachzuahmen, übersehen allerdings, dass er dafür mit seinem Kopf bezahlt hat, während sie bloß um Medienaufmerksamkeit wetteifern. Weil ihre hysterischen Zukunftsvisionen zum großen Teil als Selbstdarstellung gedacht werden, wundert es nicht, dass die Erfüllungsquote ihrer Prophezeiungen so gering ist. Man könnte die Geschichte des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte der Irrtümer selbst ernannter Seher formulieren. Nichts davon, woran wir uns jetzt als an die wichtigsten Ereignisse jener Epoche erinnern, wäre möglich, hätten die Intellektuellen Recht behalten. Hätte sich die versartrete französische intellektuelle Szene durchgesetzt, würden heute Cognac und Champagner in Kolchosen hergestellt. Ginge es nach dem Willen der deutschen Intellektuellen, stünde immer noch mitten in Berlin die berühmte Mauer.
Und wer denkt noch an die Gruppe von Professoren, die sich ohne große Bescheidenheit den imperial klingenden Namen „Club of Rome“ gaben? Sie versuchten, die künftige Entwicklung unseres Planeten vorherzusagen. Nahezu alle ihre Vorhersagen erwiesen sich als falsch. So hätte z.B. die amerikanische Regierung 2003 eigentlich keinen „Krieg ums Öl“ führen können, weil zu diesem Jahr die gesamten Ölvorräte der Erde längst hätten erschöpft sein sollen.
Selbst wenn es um fachliche Probleme ging, in denen eigentlich ausgewiesene Experten das Sagen haben sollten, gab es gravierende Irrtümer. 1981 hat eine Gruppe von 364 britischen Ökonomen einen berühmten Brief an Margaret Thatcher gesandt, in dem sie schwarz auf weiß nachwiesen, dass die damalige Politik das Land notwendigerweise in den wirtschaftlichen Ruin führe. Unter diesen 364 waren Experten mit Weltruhm. Und trotzdem weiß jetzt jedes britische Kind, dass jener Brief Schwachsinn war. Die „Schmach der 364“ steht nun in den Geschichtsbüchern neben dem Erschlagen von 450 Priestern Baals durch den Propheten Elias (2. Könige, 18), obwohl die britischen Pseudopropheten im Gegensatz zu ihren altsemitischen Kollegen dank der allgemeinen Sittenmilderung in den letzten 2500 Jahren ihre Köpfe auf den Schultern behalten durften.
Das Problem liegt natürlich tiefer, als es erscheint. Gerade in der Wirtschaft gibt es genügend Fälle, in denen hochkarätige Experten die Weiterentwicklung vollkommen falsch vorhersagten, obwohl sie wirklich nach bestem Wissen und Gewissen handelten. Deshalb wäre es inkorrekt, hinter jeder fehlgeschlagenen Prognose Inkompetenz oder Eitelkeit zu vermuten. Irren ist menschlich. Nur das Festhalten an seinem Irrtum ist fatal. Einen seriösen Experten erkennt man daran, wie er auf seinen Fehler reagiert. „Wir haben im vergangenen Jahr [2005 – B.K.] vorhergesagt, dass der Dollar einbricht, die langfristigen Zinsen nach oben schnellen und der US-Immobilienmarkt zusammenbricht. Nichts davon ist eingetreten“, sagte neulich die Präsidentin der London Business School. Fast gleichzeitig erscheint der Artikel eines der größten Wirtschaftswissenschaftler unserer Zeit, der nun die Entwicklung für das nächste Jahr 2006 vorhersagt. Und was steht in seiner Prognose? Genau dasselbe: dass der Dollar einbricht, die langfristigen Zinsen nach oben schnellen und der US-Immobilienmarkt zusammenbricht.

„Der moderne Intellektuelle verrät die beiden Gründerväter der europäischen intellektuellen Tradition: Im Gegensatz zu Sokrates weiß er alles; im Gegensatz zu Descartes zweifelt er nie.“

Wer die Bezeichnung „Intellektueller“ nicht umsonst trägt, von dem wäre eine Fehleranalyse zu erwarten, eine Auseinandersetzung mit eigenen Vor- und Fehlurteilen: „Ich habe mich geirrt. Vielleicht beruhte mein Urteil nicht auf analytischer Vernunft, sondern auf unkritisch erworbenen Dogmen. Beim nächsten Mal sollte ich diesen Fehler berücksichtigen und nicht mehr wiederholen.“ Aber ich kenne keine öffentliche Diskussion, in der ein Mitglied des römischen Klubs das Scheitern seiner Tätigkeit zugab und über die Ursachen dieses Scheiterns ernsthaft nachdachte.
Stattdessen beharrt der westliche Intellektuelle auf den Dogmen, die er einmal als Student erlernt hat und seitdem mechanisch wiederholt. Wer einmal sagte, die Schere zwischen armen und reichen Staaten gehe immer weiter auseinander, erfindet statistische Tricks, indem er z.B. bei jeder Zählung immer weniger Länder als „arme“ berücksichtigt, so dass das Ergebnis mit seiner Theorie übereinstimmt. Wozu Fakten und Zahlen, wenn man die Wahrheit bereits kennt? „Wenn die Tatsachen unseren Theorien widersprechen, umso schlechter für die Tatsachen.“ Der moderne Intellektuelle verrät die beiden Gründerväter der europäischen intellektuellen Tradition: Im Gegensatz zu Sokrates weiß er alles; im Gegensatz zu Descartes zweifelt er nie.

Nach dem 11. September erscheint vielen im Westen die Bedrohung durch den islamischen oder arabisch-nationalistischen Terrorismus als das Problem Nummer eins der modernen Welt. Dabei wird oft übersehen, dass es diese Gefahr nicht gäbe ohne die massive ideologische Unterstützung des politischen Terrorismus durch die großen Teile der westlichen intellektuellen Szene. Vor allem ist dieser Terrorismus keine Erfindung des Islam. Die Idee des politischen Terrors erreichte die arabische Welt mit dem kommunistischen und nationalsozialistischen Gedankengut. Erst seit der iranischen Revolution kamen auch die radikalen Moslems auf den Gedanken, den Terror zu ihrer Waffe zu machen. Die meisten Terroristen sind keine von Mullahs indoktrinierten Analphabeten aus arabischen oder afghanischen Dörfern. In der Regel sind sie im Vergleich mit der Mehrheit der Bevölkerung ihrer Länder überproportional gebildet, haben europäische Erfahrung, hohes Einkommen. Viele Terroristen sind Ärzte, Lehrer oder Ingenieure.
Die Verherrlichung des Terrors findet man in Büchern deutscher Schriftsteller, in Filmen italienischer Regisseure, in Vorträgen amerikanischer Professoren. Diese positive Einstellung zeigt sich in der Wortwahl: Rebellen, Kämpfer, aber keinesfalls Terroristen oder einfach Mörder. Die Hamas heißt z.B. „radikale Partei“ – so wie die deutsche FDP vielleicht? Selbst die Ungeheuer, die in russischem Beslan kleine Kinder kaltblütig umbrachten, waren „Aufständische“.
Als Tony Blair im Sommer 2005 vorschlug, die Propagandisten und Prediger des Terrors aus dem Land abzuschieben, meinte er die radikalisierten islamischen Geistlichen. Er hatte anscheinend vergessen, dass, wäre man seinem populistischen Vorschlag gefolgt, der Oberbürgermeister von London zu den ersten Ausgewiesenen hätte gehören müssen, da er aus seiner Sympathie zu Terroristen keinen Hehl machte – natürlich nicht zu den Terroristen in London, sondern zu denen in Palästina. Auch in Deutschland gibt es einen Pop-Pfarrer, der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von seiner Bewunderung palästinensischer Terroristen (also der Menschen, die Diskotheken in die Luft jagen und Kindergärten mit Raketen beschießen) sprach. Das darf man heutzutage im Land des Schoas öffentlich und straffrei predigen und sich weiter Christ nennen. Wer solche Bürgermeister hat wie Ken Livingston und solche Christen wie Herrn Fliege, braucht keine radikalen Mullahs.

Es gibt aber auch eine entgegengesetzte These, die die Wurzel alles Bösen nicht im islamischen, sondern im westlichen Fundamentalismus sieht, als dessen typischer Vertreter der gegenwärtige Präsident der USA gilt. Aber der kämpfende antiintellektuelle Trend der letzten Jahre, der sich auch im amerikanischen Fundamentalismus ausdrückt, ist eine Reaktion der Nicht-Dazugehörigen auf den intellektuellen Hochmut und die Arroganz. Was würden Sie, verehrte Leser, tun, wenn Ihnen ständig gesagt wird, dass Sie und die mit Ihnen Gleichdenkenden keine mündigen Menschen seien, sondern Dummköpfe, Wahlvieh, geistlose Masse, Objekte der politischen Manipulation? Ich vermute, Sie würden negativ, vielleicht sogar aggressiv reagieren. Aber das ist genau jene Meinung, die die Elite von New England und Kalifornien vom ihrem eigenen Volk hegt.
Es ist kein Zufall, dass gleich nach dem besten politischen Redner des 20. Jahrhunderts die Amerikaner einen Menschen zum Präsidenten wählten, der kaum einen komplexen Satz fehlerfrei zu Ende bringen kann. Wenn Leute spüren, dass sie von der angeblichen geistigen Elite nicht als Subjekte der Geschichte, sondern bestenfalls als Objekte sozialer Fürsorge angesehen werden, schlagen sie zurück. In den USA ist der Titel „Professor“ fast schon ein Schimpfwort. Aber auch in Europa drückt sich bereits die antiintellektuelle Strömung in volkstümlichen Ideen verschiedener „Nationaler Fronten“ zwischen Polen und den Niederlanden aus. Das Land der Denker und Dichter bleibt immer noch weitgehend von dieser Strömung verschont, und die gegenwärtige Regierungschefin ist keineswegs eine Antiintellektuelle. Aber auch sie verdankt ihre Wirkung nicht dem halbvergessenen Faktum, dass sie eine promovierte Physikerin und die Frau eines Professors ist, sondern ihrer demonstrativen Einfachheit, welche sie „fast wie jede durchschnittliche Frau“ aussehen lässt.
Der hochnäsige Intellektualismus und der engstirnige Antiintellektualismus heizen einander auf und machen die Kluft zwischen den Gebildeten und dem Volk immer tiefer, das gegenseitige Misstrauen immer gefestigter und dogmatischer. Was ist schlimmer dabei: die Kommunikationsunfähigkeit der Intellektuellen oder die Reaktion der anderen darauf? Ich weiß es nicht. „Beide sind schlimmer“, antwortete angeblich Stalin auf die Frage, ob linke oder rechte Abweichler von der Parteilinie schlimmer seien.

Die Existenzgrundlage und die Rechtfertigung der Intellektuellen beruhen auf ihren zwei zusammenhängenden Fähigkeiten: auf der, Wünsche, Gefühle und Stimmungen des Volkes schneller und feiner als andere Menschen zu erfassen und deutlicher auszudrücken, sowie auf der, die augenblickliche Entwicklung kritisch zu beobachten und zu allem, was „man“ sagt und denkt, stets auf Distanz zu bleiben. Anstelle des Gespürs für das Befinden der Leute geht die selbst ernannte intellektuelle Elite von heute der Partikularität der eigenen Interessen nach, dem profitablen Business der Skandalmacherei anstelle der kritischen Begleitung eventueller Fehlentwicklungen. Statt die Masse der so genannten Bildungsfernen zu individualisieren, wurde sie selbst zu einer Masse der Bildungsnahen. Mit ihrer dogmatischen Arroganz gegenüber dem angeblich dummen Massenmenschen, mit ihrer egozentrischen Geschlossenheit gegenüber der Realität wird diese Elite zu einer Gefahr für die moderne westliche Demokratie, vielleicht sogar zu der größten Gefahr, weil, wie oben gezeigt, die beiden anderen breit diskutierten Bedrohungen (die des „islamofaschistischen“ Terrors und die des rechten antiintellektuellen Fundamentalismus inklusive seiner pseudochristlichen Abarten) als Konsequenzen von bzw. als Antworten auf die selbstbezogene Isolation dieser Gruppe begriffen werden können. Wie es einst mit der adligen und mit der geistlichen Elite passiert ist, so wächst der Anspruch dieser Gruppe auf die Führung der Gesellschaft parallel zum Verfall ihres tatsächlichen Wertes und ihrer praktizierten Werte. Aber für diese Gruppe, im Gegensatz zu den anderen, besteht kein Anrecht auf Entschuldigung nach dem Prinzip „Verzeih Ihnen, Herr, denn sie wissen nicht, was sie tun“, – denn gerade und ausschließlich darin besteht die Aufgabe der Intellektuellen, dass sie wissen müssen.

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