01.07.2007
Die dürre Republik
Analyse von Matthias Heitmann
Eine Analyse der politische Rezeptur des nationalen Schlankheitswahns mit dem Ergebnis, dass dieser weniger auf die Reduktion unseres Gewichts, sondern unserer Selbstbestimmtheit abzielt.
„Die Fetten werden geschlachtet, die Welt wird fit.“ In Erich Frieds Gedicht „Die Maßnahmen“ taucht diese Zeile nicht auf. Er schlug – in seiner sarkastischen Art die Mischung aus Regulierungswut und Sauberkeitsfantasien aufs Korn nehmend – lediglich vor, die Faulen, Hässlichen, Narren, Kranken, Alten, Traurigen, Feinde und Bösen zu schlachten, auf dass die Welt fleißig, schön, weise, gesund, jung, lustig, freundlich und gut werde. [1] Mit Sicherheit würde Fried heute auch das Schlachten der Fetten in seiner Maßnahmenliste aufführen. Vorausgesetzt, er hätte den „Nationalen Aktionsplan Ernährung“ gelesen, den Bundeslandwirtschafts- und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Frühjahr dieses Jahres vorstellten.
Wie lange wird es dauern, bis in Deutschland wirklich die Fetten geschlachtet werden, fragte ich mich und zog unbewusst den Bauch ein. Natürlich will das niemand, man will uns lediglich darüber aufklären, dass Übergewicht und Fettleibigkeit ungesund ist. Das klingt ja schon viel freundlicher. Wer kann schon etwas gegen gut gemeinte Ratschläge haben? Doch ein Restzweifel blieb. Wie definiert man Übergewicht? Und bin ich eigentlich selbst übergewichtig? Ich googelte mich in die Ernährungswelt und fand schnell heraus, dass mein Body Maß Index (BMI) mit 26,87 leicht über dem als ideal geltenden Wert (20-25) liegt. Mit Erstaunen stellt ich jedoch fest, dass mir, obgleich die zahlreichen BMI-Rechner im Web alle dieselbe Zahl ausspuckten, völlig unterschiedliche Einschätzungen dieses Wertes und Handlungsempfehlungen mit auf den Weg gegeben wurden. Der eine zeigte sich großzügug und beruhigte mich: „Ihr BMI liegt im idealen Bereich. Mit zunehmendem Alter steigt meist auch das Körpergewicht. Eine leichte Überschreitung des Gewichts wird in Ihrem Alter als unbedenklich angesehen.“ [2] Weit weniger entspannt war ich, nachdem mich ein anderer Rechner mit einer direkten Handlungsanweisung beglückte: „Ihr Ergebnis weist auf ein erhöhtes Körpergewicht hin. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt!“ [3] Ich sah mich schon bei dem Mediziner meines Vertrauens sitzen, einem korpulenten, braungebrannten Endvierziger von beinahe ekelerregender Gesundheit, und ihn händeringend um Rat fragen, wie um alles in der Welt ich nur die dreieinhalb Kilo, die mich vom „gesunden Mittelmaß“ trennten und zum Beratungsbedürftigen aufblähten, möglichst schnell und mit professioneller Beratung loswerden könne. Und ohne ihn tatsächlich aufgesucht zu haben, hörte ich ihn mir den Rat erteilen, mich nicht mit derlei Unsinn zu beschäftigen und wegen derartiger Lappalien künftig nicht mehr sein Wartezimmer und seinen Terminkalender zu verstopfen, sondern das Schicksal einfach in die eigenen Hände zu nehmen.
Wahrscheinlich sind es genau Ratschläge wie dieser, die Seehofer, Schmidt & Co. möglichst unterbinden wollen. „Das Schicksal in die eigenen Hände nehmen“ – das klingt nach eigenständigem Denken und nach Aufruhr, denn es zieht die Möglichkeit in Betracht, zu anderen, eigenen Schlussfolgerungen gelangen zu können. Das Problematische daran aus Regierungssicht ist, dass in diesem Moment ein Wettbewerb verschiedener Anschauungen ausbräche, was die eigene Sichtweise unter enormen Rechtfertigungsdruck setzen würde. Dem setzt man sich nur ungern aus, insbesondere dann, wenn die offiziellen Grenzwerte dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen und eigentlich selbstständiges Denken und Handeln geradezu provozieren (siehe hierzu den Artikel „Die Kinder sind gesund“ von Thilo Spahl in diesem Heft).
„Fit statt fett“: Bauplan einer Ernährungsbombe
Wie kann ein solch gefährlicher Ideen- und Meinungswettbewerb, der Klarheit ins moralische Dickicht des Dickseins bringen könnte, unterbunden werden? Zum einen durch das, was Seehofer und Schmidt unter „Aufklärung“ verstehen. Zunächst muss die Ernsthaftigkeit des Themas nachgewiesen werden, am besten dadurch, dass dessen Dramatik und Einzigartigkeit „wissenschaftlich“ untermauert wird. Das geht, vorausgesetzt, es besteht die Bereitschaft, Forschungsberichte entsprechend zu verschlanken. Mit ein paar Tricks sind die Zahlen so interpretiert, dass am Ende die Deutschen als die Dicksten in Europa erscheinen. Dass das Robert-Koch-Institut verlautbarte, diese Feststellung sei so nicht haltbar, da sie auf ungenauen Befragungsmethoden und zudem darauf beruhe, dass, anders als bei unseren europäischen Nachbarn, die zumeist noch schlanken 18- bis 24-Jährigen kurzerhand nicht mitgerechnet worden seien, ging in der willentlich erzeugten Aufregung sang- und klanglos unter. [4]
Aber es sind noch weitere Grundvoraussetzungen nötig, um aus einer nun „wissenschaftlich fundierten“ Nachricht den Ansatzpunkt für einen nationalen Aktionsplan zu machen. Ein solcher kann nur funktionieren, wenn man gezielt außer Acht lässt, dass sich sowohl die Definition als auch die Bewertung eines prolematisierten Zustandes im Laufe der Zeit verändern. Dass Körperfülle in früheren Tagen (und in einigen Kulturen noch heute) als Ausdruck sozialer Arriviertheit galt, dass Menschen, denen heute ein Idealgewicht bescheinigt wird, früher als dürr und mager galten und somit die Parameter einem ständigen Wandel unterliegen – das sind Fakten, die der nationalen Entschlackungskampagne den Wind aus Segeln nehmen und durch die relativierende Einordnung von Phänomenen in einen größeren Zusammenhang die Bedrohlichkeit der aktuellen Situation verharmlosen würden.
Von enormer Bedeutung ist es zudem, die problematisierte Entwicklung in Zusammenhänge zu implantieren, deren Bedrohlichkeit bereits weitläufig als anerkannt gilt. Derer gibt es zuhauf: Schlagzeilenthemen wie die soziale Verwahrlosung von Kindern in heruntergewirtschafteten Schulen und zerrütteten Familien, die Zunahme von als moralisch minderwertig geltenden Konsumgewohnheiten – von Fastfood bis Internet –, der angeblich durch die (umweltschädliche) Industrialisierung der Lebensmittelproduktion vorangetriebene „gefühlte“ Qualitätsverlust unserer Nahrung, die Kostenexplosion in einer alternden Gesellschaft – um nur einige Beispiele zu nennen – eignen sich hervorragend, um die beschworene Verfettung der Menschheit in einen Kontext zu stellen, dessen Hinterfragen einem blasphemischen Akt gleichkommt. Gelingt diese thematische Einbettung, erübrigt sich die Rechtfertigung einzelner Maßnahmen. Gesundheit hört auf, ein Diskussionsthema zu sein, zu dem man unterschiedlicher Ansicht sein kann. Wer es dennoch ist, muss entweder vorsätzlich handeln oder aber schlicht und ergreifend die Moral von der Geschicht nicht verstanden haben.
So ist es nur logisch, wenn sich Ulla Schmidt als Hüterin der Volksgesundheit mit aller Vehemenz für die Einführung des Pflichtfaches „Ernährungskunde“ an deutschen Schulen einsetzt. So soll verhindert werden, dass Kinder, bei deren Eltern in Sachen Gesundheit ohnehin bereits Hopfen und Malz als verloren gelten, nicht durch das Netz der ethisch-moralischen Grundversorgung fallen und eventuell in die Fänge wissenschaftlich maskierter Ketzer oder aber der Lebensmittelindustrie geraten. Dass Schmidts Forderung nach Ernährungsunterricht nur ein weiterer Versuch ist, „gesellschaftliche Defizite in Erziehungs- und Lebensfragen auf die Schule abzuwälzen“ [5], dürfte an ihren nicht unerheblichen Fettpolstern abperlen.
Was aber tun mit denjenigen, die auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung pochen und dies auch noch als Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft zu verteidigen trachten? Für den nationalen Feldzug gegen das Fett ist diese Widerspenstigkeit besonders störend. Um ihr zu Leibe zu rücken, muss eine weitere Argumentationslinie entwickelt werden: die der „gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen“. Das geht ungefähr so: Da ja Freiheit immer nur so weit reichen darf, dass kein anderer beeinträchtigt wird, müssen nun die gesellschaftlichen Folgen der Verfettung betont werden. In Zeiten knapper Kassen, die eigentlich nie zu Ende gehen, funktioniert dies am besten mit dem Verweis auf die durch Übergewicht angeblich entstehenden hohen Kosten für Sozialstaat und Krankenkassen – sprich: für uns alle. „70 Mrd. Euro“ lautet die Zahl, die die Bundesregierung in ihrem Programm gegen die Fettleibigkeit der Deutschen als jährlich anfallenden Kostenbetrag aus dem Hut zauberte. [6] Die Zahl muss beeindruckend hoch sein, denn bockige Freiheitsverfechter sind nur in Krisensituationen bereit, sich von ihren ideellen Besitzständen zu trennen und anzuerkennen, dass Querköpfe und Dickbäuche eigentlich „asozial“ sind.
Trimm dich gefälligst!
Nun könnte, wenn man das Ausmaß dieser moralischen Indoktrination nicht so recht einsehen mag, argumentiert werden, derlei Kampagnen hätte es in der jüngeren Vergangenheit auch schon gegeben. Und tatsächlich: Immer wieder wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Gewichtszunahme der Deutschen thematisiert und zu einer gesünderen Lebensweise aufgefordert. Die „Trimm-Dich-Bewegung“, die 1970 als groß angelegte Werbeaktion des Deutschen Sportbundes (DSB) begann und in zahlreichen Varianten bis in die 90er-Jahre fortgeführt wurde, wollte die Menschen motivieren, sich von ihren Wohlstandsbäuchen zu verabschieden und dem körperlichen Verfall schon in den Anfängen zu begegnen. Auch für diese Kampagne hatte man Zahlen parat: 1969 hatten die Krankenkassen mit dem Verweis auf dramatische Verschlechterungen des Gesundheitszustandes der Bevölkerung Alarm geschlagen. So habe man rund 250.000 Herzinfarkte zu verzeichnen sowie eine Zunahme von Herzkreislauferkrankungen und Früh-Pensionierungen. Zudem hätten ein Drittel der Männer sowie 40 Prozent der Frauen durchschnittlich sieben Pfund Übergewicht. Die Kampagne fruchtete: Die Nation begann mit Dauerlauf, Gymnastik, Turnen und Kraftsport, und jede Gemeinde, die etwas auf sich hielt, legte ihren eigenen „Trimm-Dich-Pfad“ an.
Interessanter jedoch als die Parallelen zwischen beiden Kampagnen sind deren Unterschiede. Die Motivation des Deutschen Sportbundes, die Bevölkerung zum Sporttreiben aufzufordern, lag auf der Hand: 1970 waren lediglich rund 10 Mio. Westdeutsche (also 17 Prozent) Mitglied in einem Sportverein. Der klassische Turnverein kam langsam außer Mode, und die im Sportbund organisierten Vereine suchten nach neuen Wegen, die Begeisterung für den aktiven Sport zu erhöhen und in Richtung des organisierten Sports zu kanalisieren. Die „Trimm-Dich-Kampagne“ erfüllte diesen Zweck: Der Freizeitsport wurde hoffähig, und innerhalb von zehn Jahren schnellte die Zahl der Sportvereinsmitglieder um 7 Mio. auf nunmehr 28 Prozent herauf. Bei den Kindern zwischen drei und zehn Jahren sind es heute fast 75 Prozent. Auch damals war die Politik schnell an Bord und unterstützte die Kampagne, hielt sich aber im Hintergrund.
Die heutige Kampagne findet hingegen unter gänzlich anderen Vorzeichen statt: Sie wurde nicht von Sportverbänden initiiert, sondern von der Politik, wenngleich ironischerweise mit ähnlichen Hintergedanken: So, wie es den Sportvereinen einst darum ging, neue Mitglieder zu gewinnen, so versucht heute die Politik, über vermeintlich sinn- und gemeinschaftsstiftende Themen Reputation zurückzugewinnen und Autorität in Bereichen des Lebens aufzubauen, die man früher den Menschen überließ .
Die Initiative der Bundesregierung zeigt auch in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, dass von dem Urgedanken der „Trimm-Dich-Bewegung“, demzufolge sich die Menschen gemeinschaftlich und eigenständig auf den („Trimm-Dich“-)Pfad zu einem gesünderen und fröhlicheren Leben machen sollten, nichts übrig geblieben ist. Sie stellt nicht mehr das eigene Aktivwerden der Bevölkerung ins Zentrum, sondern betont die politisch und volkswirtschaftlich zwingende Notwendigkeit des Abspeckens. Flankiert wird dieser Aufruf mit Katastrophenszenarien und versteckten Drohungen an all diejenigen, die sich dem moralischen Gebot, der Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes nicht unnötig „zur Last zu fallen“, zu entziehen versuchen. Von „Spaß an der Bewegung“ ist hier nichts mehr zu hören, stattdessen wird „Bewegung! Bewegung! Bewegung!“ (O-Ton Ulla Schmidt) als notwendige Maßnahme zum Erhalt der Nation umdefiniert. Wer sich diesem Gesundheitsdogma nicht beugt, soll durch den Aufbau eines moralischen Konsenses gewissermaßen dazu gezwungen werden, eine volkswirtschaftlich akzeptable Lebensweise anzunehmen. Ulla Schmidt bringt den autoritären Charakter der Kampagne selbst deutlich zum Ausdruck: Da es in der Bevölkerung zwar ein großes Wissen über gesunde Ernährung gebe, dies aber auch in die Tat umgesetzt werden müsse, brauche man „einen Plan, alle mit einzubeziehen“. [7]
Wie der genau aussehen soll und welche Rezepte der drohenden Verfettung Deutschlands Einhalt gebieten sollen, bleibt im Unklaren. „Aufklärung“ – das Schlagwort der Orientierungslosen – ist wieder zu hören. Aber worüber? Darüber, dass – worauf der Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer hinweist – dicke Menschen länger leben und zudem „in den letzten 50 Jahren alle Versuche gescheitert [sind], Menschen durch Kaloriensparen und Sport dauerhaft zu verschlanken“? [8]
Man darf gespannt sein, mit welchen Maßnahmen der „Nationale Aktionsplan Ernährung“ mit Leben gefüllt werden wird, um bis zum Jahre 2020 das Problem der zunehmenden Fettleibigkeit der Deutschen in den Griff zu bekommen. Zu Recht wies Christian Geyer in der FAZ darauf hin, dass die Kampagne der Bundesregierung unter der Flagge der „Prävention“ segelt, dem „Stichwort aller totalitären Planungsfantasien“. [9] Dass Horst Seehofer bei der Verabschiedung des gemeinsamen Eckpunktepapiers von Ernährungs- und Gesundheitsministerium, das eine Vielzahl von Maßnahmen gegen falsche Ernährung und Bewegungsmangel vorsieht, meinte, betonen zu müssen, es gehe „nicht um die Bevormundung der Bevölkerung, sondern um Hilfe“, und die Regierung plane keine „Olympiade der Verbote“, sollte uns nicht beruhigen. [10] Viel eher sollten wir angesichts einer Regierung, die uns mit Informations- und Beratungskampagnen Schritt für Schritt zu (dicken) Kindern erklärt und in gutmenschlicher Attitüde meint, vorschreiben zu können, wie wir zu leben haben, unseren Verstand einem Fitnessprogramm unterziehen.