10.08.2012
Die Doppelmoral der prüden Slutwalkers
Kommentar von Abigail Ross-Jackson
Wer will in einer Welt leben, wo Frauen tragen, was sie wollen, ohne dass Männer anzügliche Bemerkungen machen dürfen? Eine Kritik an das Menschen- und (Männer)bild der Slutwalk-Bewegung.
Im Sommer letzen Jahres gingen im kanadischen Toronto 4.000 Frauen (und einige Männer) auf die Straße, um gegen eine provokante Äußerung eines Polizeibeamten zu protestieren. Er hatte gesagt, dass Frauen sich nicht wie „Schlampen“ kleiden sollten. Denn damit würden sie Männer einladen, sie entsprechend zu behandeln. Seitdem hat das Phänomen der so genannten Slutwalks auf der ganzen Welt an Dynamik gewonnen. In vielen Städten der westlichen Welt, so z.B. auch in Berlin, kam es zu Demonstrationen. Doch die Bewegung ist widersprüchlich: Einerseits sollen Frauen ihren ausgefallensten Modevorstellungen nachgeben. Gleichzeitig soll das aber keine Reaktionen hervorrufen.
Ganz gleich, ob eine Frau Jeans, T-Shirt, Korsett oder Minirock trägt: Ihre Kleidung sollte natürlich nicht als eine Einladung zu sexuellen Übergriffen betrachtet werden. Aber dass eine aufreizende Kleidung überhaupt keine Einladung zu irgendetwas sei, kann man wohl auch nicht behaupten. Denn die Art, wie wir uns kleiden, dient sehr wohl und manchmal sogar überwiegend dazu, Aufmerksamkeit zu erregen. Unser potenzieller Partner putzt sich beim Rendezvous nicht ohne Grund entsprechend auf. Hier scheinen manche Frauen zu meinen, sich jeder Reaktion entziehen zu können – also quasi unter einer Käseglocke leben zu wollen.
Ich möchte nicht in einer Traumwelt leben, wo Frauen das tragen können, was sie wollen, ohne unerwünschte Reaktionen von Männern hervorzurufen. Einige Slutwalkers haben gesagt, dass es ihnen nicht nur um einen „Krieg“ gegen Vergewaltigungen gehe – nein, sie wenden sich auch gegen anzügliche Ausrufe als Reaktion auf die erotische Selbstdarstellung von Frauen. Hier zeigt sich ein „Feminismus“, der Frauen gering schätzt. Denn Frauen sind sehr wohl in der Lage, Männern Abfuhren zu erteilen, also unerwünschte Annäherungsversuche selbstständig von erwünschten Avancen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Wieder einmal zeigen Feministinnen nicht nur ihre latente Verachtung für Männer. Ihr Ausblick ist vielmehr grundsätzlich misanthropisch.
Warum sollte es Männern nicht erlaubt sein, beim Anblick von hübschen Mädels zu pfeifen oder anderweitig zu reagieren. Die Forderung eines Rechts, „nicht beurteilt“ zu werden, ist sehr rückständig – und asozial. Manche Transparente, die man auf den Slutwalk-Protesten sieht, stellen die Männer mehr als Tiere dar – nicht als rationale Wesen. Ein Banner posaunte: „Warum bin ich wie eine Schlampe gekleidet? Warum denkst du wie ein Vergewaltiger?“ Hier sieht man, wie der Begriff der „Belästigung“, der ohnehin schon rechtlich problematisch ist, ins Uferlose ausgeweitet wird. Die Idee, dass ein Blick oder ein bloßer Flirtversuch nicht mehr akzeptabel sei, weil dies schon auf potenzielle Vergewaltigungsabsichten hinauslaufe, deutet darauf hin, dass alltägliche Beziehungen mehr und mehr dem Vorwurf der „Belästigung“ ausgesetzt sind. Was kommt als nächstes? Kein Blickkontakt ohne schriftliche Genehmigung?
Eine Frau, die in London an einem Slutwalk-Protest teilnahm, beschwerte sich hinterher, man habe sie ohne ihre Erlaubnis fotografiert. Sie meint also offenbar, auch bei einer öffentlichen Demonstration sei grundsätzlich niemand dazu befugt und dass das Fotografieren sie in ihrer Würde oder ihrem Wohlbefinden verletze. Das Zauberwort „einvernehmlich“ wandert von der Sphäre des ungewollten Sexes in die Welt alltäglicher Handlungen – und findet nun auch Anwendung an öffentlichen Orten. Aber wenn wir die Zustimmung für jede Form des menschlichen Zusammenspiels zu suchen hätten, wäre nie etwas geschehen. Eine langweilige Welt wäre das.
Ein weiterer Slogan ist auf dem Vormarsch: „Ein Kuss ist kein Vertrag“. Hier wird Sex auf eine Art Vertrag zwischen zwei Personen reduziert. Doch Sex ist seiner Natur gemäß sehr unvorhersehbar und spontan – er entsteht und entwickelt sich nach keinem genauen Drehbuch. Manchmal bereut man eine erotische Erfahrung. Doch sollten wir deshalb versuchen, die Möglichkeit eines unerfreulichen Erlebnisses durch die Formalisierung aller Aspekte des menschlichen Miteinanders zu unterbinden? Das würde ebenfalls viel Schaden anrichten, denn es würde überraschende und intime Erfahrungen verhindern.
Millionen Menschen verhandeln jeden Tag ihre Beziehungen untereinander, ohne dass wir dafür Verträge aufsetzen. Und dabei kommen wir fast immer sehr gut ohne schriftliche Einwilligungen oder eindeutig festgelegte Grenzen klar. Dem Bestreben, menschliche Beziehungen zu formalisieren und so das Spontane und Unerwartete zu einzuschränken, liegt ein zutiefst freiheitsfeindlicher Impuls zugrunde. Die Slutwalk-Feministinnen scheinen das öffentliche Leben und auch die Privatsphäre diesem Menschenbild entsprechend gestalten zu wollen – ohne Rücksicht auf andere. Eine Slutwalkerin meinte: „Ich trage, was ich will. Deshalb bin ich kein schlechter Mensch. Ich rege mich aber auf, wenn ein Mädchen sich verführerisch kleidet, um männliche Aufmerksamkeit zu erregen.“ Das trifft den Kern der Doppelmoral: Slutwalkers können anscheinend tragen, was sie wollen. Doch wenn andere Frauen sich reizvoll kleiden, um männliche Aufmerksamkeit oder Bewunderung zu erregen, schaut man arrogant auf sie herab. Derweil müssen sich Männer in Acht nehmen, wenn sie flirten wollen, denn das kann ja schon als Vorstufe unerwünschter körperlicher Annäherung ausgelegt werden.
In solch einer Welt möchte ich nicht leben. Nach meiner Erfahrung sind Männer keine Tiere, die sich leichtfertig auf weibliche „Beute“ stürzen. Und Frauen sind selbst in der Lage, sich unerwünschter Anzüglichkeiten zu erwehren. Wäre es nicht so, wäre es in der Tat schlimm, denn das hieße effektiv, dass wir unfähig seien, ohne Aufpasser und Vorschriften unsere sozialen Beziehungen mit anderen zu bewältigen.