04.12.2014

Die Antipolitik ist nicht alternativlos

Von Johannes Richardt

Auf der Diskussionsveranstaltung „Dem Laster keine Chance?“ im Frankfurter Presseclub diskutierte Novo-Redaktionsleiter Johannes Richardt mit Monika Frommel, Michael Keiner und Zé do Rock über aktuelle Formen der Bevormundungspolitik. Wir veröffentlichen seine Eingangsrede

Meiner Meinung nach kann man die aktuelle Debatten um Alkohol, Tabak, Drogen, Glückspiel und Prostitution nur dann richtig verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen, ganz ähnlich gelagerten Bevormundungsdebatten betrachtet, die beispielsweise auf eine „gesunde“ Ernährung, „bewusste“ Kinderziehung oder einen „nachhaltigen“ Lebensstil abzielen.

In allen möglichen Teilbereichen der Gesellschaft und unseres Alltags erleben wir einen Trend hin zu einer immer engmaschigeren Regulierung von Verhaltensweisen, die eigentlich Privatangelegenheit der Betroffenen seien sollten.

Staatliche, halbstaatliche oder staatsnahe Akteure, wie aus Steuermitteln finanzierte NGOs, oder poststaatliche Akteure, wie die EU, mischen sich mit immer mehr Regeln, Vorschriften, Richtlinien und natürlich Verboten in immer mehr Lebensbereiche ein. Der Freiraum der Menschen, ihre eigenen Belange autonom und selbstverantwortlich zu gestalten, schrumpft überall. Der Prozess verläuft schleichend. Ein bürokratischer Imperativ bemächtigt sich der Gesellschaft, der sich auf ein sehr trübes Menschenbild stützt.

Im Gegensatz zu vergangenen Epochen ist der Paternalismus heute weder religiös grundiert noch bedient er sich einer moralisierenden Sprache. Stattdessen rückt er vor allem die körperliche oder psychische Gesundheit der Menschen in den Fokus. Auch ist die Art und Weise, wie sich der Staat heutzutage mit erzieherischen, therapeutischen oder diversen „Schutz“-Absichten in das Leben der Bürger einmischt, nicht vergleichbar mit Entwicklungen, wie man sie aus der Geschichte autoritärer oder totalitärer Staaten kennt.

Hier und heute gewinnt die Verhaltensregulierung ihre Dynamik aus dem Niedergang der klassischen Politik. Genauer: aus der zunehmenden Erschöpfung des demokratischen Willensbildungsprozesses.
Das bedeutet: Der wechselseitige Austausch zwischen dem Volk – als Souverän – und seinen Repräsentanten funktioniert nicht mehr. Die Demokratie ist zur Routineaufgabe verkommen, zur formalen Top-Down-Demokratie, die – man denke nur an kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligungen und Parteimitgliedschaften – immer weniger Vertrauen und Autorität genießt und in der echte Veränderungen kaum noch möglich erscheinen.

„Politiker agieren heute nicht als souveräne Verantwortungsträger, sondern als technokratische Funktionsträger.“

Die Bürger ziehen sich aus der Politik zurück und die Parteien haben ihre Funktion als Bindeglieder zwischen gesellschaftlichen Gruppen und dem Staat eingebüßt. Sie sind heute eher Teil der Bürokratie, als dass sie die Interessen der sie wählenden Bürger tatsächlich repräsentieren. Diese Entfremdung zwischen der politischen Elite und dem Volk bildet den Hintergrund für die zunehmende Regulierungsdichte in allen Lebensbereichen – im privaten und öffentlichen Raum, aber auch in der Arbeitswelt und auf Unternehmensebene.

Die Regierenden richten ihr Augenmerk auf das „Mikromanagement“ der Gesellschaft, weil sie sich von den großen politischen Fragen abgewandt haben – teils aus Unfähigkeit, Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln, teils weil sie sich durch die immer stärkere Einbindung in die supranationalen EU-Strukturen ihrer demokratisch legitimierten Gestaltungsmacht freiwillig immer mehr entledigen.

So haben wir uns daran gewöhnt, dass Politik uns heute als „alternativlos“ verkauft wird. Dementsprechend agieren Politiker: Nicht als souveräne Verantwortungsträger, sondern als technokratische Funktionsträger. Managerhaft werden „Sachzwänge“ durchdekliniert – auf dem Gebiet der paternalistischen Verhaltenssteuerung bedeutet das: für mehr Gesundheit, mehr Sicherheit und mehr Nachhaltigkeit zu sorgen. Dabei wird die politische Debatte zunehmend durch die „Alternativlosigkeit“ wissenschaftlicher Expertenurteile ersetzt. Politik ist heute „evidenzbasiert“. Und wer kann schon etwas gegen ein sicheres, gesundes und nachhaltiges Leben haben?

„Man kann der Antipolitik von oben nur politisch von unten begegnen.“

Aus dieser abgehobenen Perspektive erscheinen die Menschen den Regierenden nicht mehr als souveräne Bürger, deren Alltagskompetenz und Freiheitsbefähigung es zu respektieren gilt, sondern als Objekte administrativer Zwangsbeglückung.

Gerade in der Gesundheits-, Familien-, Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik zeigt sich dieses gewandelte Verhältnis des Staates zum Bürger. Der Staat begegnet den Menschen wahlweise als Beschützer, Kümmerer, wohlmeinender Erzieher oder Schubser (vom Englischen nudge) und möchte sie mit „sanftem Zwang“ oder Anreizen in Richtung eines besseren Lebens lenken – sei es nun auf Alkohol zu verzichten, weniger an Automaten zu spielen usw. usw.

Dieser interventionistische Politikstil ist zutiefst freiheitsfeindlich; letztlich die direkte Umkehrung des humanistischen Freiheitsideals, auf dem unsere Demokratie fußt. Denn dieses Ideal geht ja gerade davon aus, dass erwachsene Menschen im Regelfall am besten für sich selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben führen wollen.

Was tun? Es reicht nicht, gegenüber der immer penetranteren Einmischung in private Lebensentscheidungen einfach nur auf sein Recht zu beharren, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden und manchmal über „Tugendterror“, „Erziehungsdiktatur“ oder „Gouvernantenstaat“ zu schimpfen.

Je mehr sich die Bürger aus der Politik zurückziehen, umso mehr wird dieser Politikmodus um sich greifen. Deshalb kann dieser Antipolitik von oben nur politisch von unten begegnetet werden. Und zwar durch eine positive, humanere Gesellschaftsvision. Freiheit wird im gesellschaftlichen Miteinander gelebt. Dabei setzt sie Individuen voraus, die ihre Fähigkeit zu Freiheit und Autonomie entwickeln, aber auch einen Staat, der diese Fähigkeit der Bürger respektiert – erwachsene Menschen nicht infantilisieren, pathologisieren oder für dumm verkaufen möchte.

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