16.02.2024

Die Angst der Eliten vor der Demokratie

Von Alexander Horn

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Foto: hoch3media via Unsplash

Man könne „die Demokratie nicht vor dem Volk schützen“ warnt der ehemalige Bundesverfassungsverfassungsrichter Peter Müller. Demokratiepanik zielt jedoch genau in diese fatale Richtung.

Die Demokratie sei in Gefahr, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), weswegen nun auch er zu einem breiten Bündnis für Demokratie und gegen Extremismus aufgerufen hat. Jetzt müsse „die demokratische Mitte, die große Mehrheit unserer Gesellschaft, Position beziehen“, denn „wenn unsere Demokratie angegriffen wird, dann ist eine Grenze überschritten, bei der Gegensätze hintenanstehen“, sagte er Ende Januar bei einem Treffen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern im Schloss Bellevue. Und er hatte eine weitere wichtige Botschaft: „Wir lassen uns dieses Land nicht von extremistischen Rattenfängern kaputtmachen.“

In der Generaldebatte des Bundestags, die wenige Tage später stattfand, leitete die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel daraus ab, Steinmeier habe die Wähler der AfD als Ratten bezeichnet. In ihrer Rede wies sie im gleichen Atemzug darauf hin, dass die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Wähler der AfD auf dem Neujahrsempfang der FDP als „Schmeißfliegen“ bezeichnet hatte und – was Weidel nicht aufgriff – die AfD als den dazugehörigen „Haufen Scheiße“.

Vermutlich zielte Steinmeiers Attacke, im Unterschied zu der Strack-Zimmermanns, nicht direkt darauf ab, die AfD-Wähler als lästige Biester oder niederes Getier abzuwerten. Denn er beabsichtigte wohl eher eine Bezugnahme auf das Märchen der Brüder Grimm vom Rattenfänger von Hameln. Für die Wähler ist das jedoch kaum weniger schmeichelhaft, da er damit deren Demokratiefähigkeit in Frage stellt. Denn schon seit dem 19. Jahrhundert wird die Sage metaphorisch eingesetzt um zu sagen, dass es verführerischen Gestalten und Demagogen gelingen kann, die Leichtgläubigkeit, Naivität oder sogar Dummheit der Menschen zu nutzen, um diese irrezuleiten oder zu verführen. Die aktuelle Bedrohung der Demokratie geht nach Steinmeiers Auffassung demnach offenbar einerseits von den Volksverhetzern, andererseits jedoch von den Bürgern aus, die nicht den Intellekt oder die politische Urteilsfähigkeit mitbringen, um diesen nicht auf den Leim zu gehen.

Wehrhafte Demokratie

Um die, der Steinmeierschen Maxime zufolge letztlich von den Bürgern ausgehenden Gefahren für die Demokratie eindämmen zu können, hat sich in Deutschland bereits nach dem Ende des Nationalsozialismus das politische Konzept einer wehrhaften Demokratie durchgesetzt. Im Kampf gegen den Extremismus, so der Bundespräsident in seiner letztjährigen Rede zur Würdigung des 75. Jahrestags des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, gelte folgende historische Lehre, die sich wie ein roter Faden durch den damals erarbeiteten Verfassungsentwurf für die Bundesrepublik Deutschland ziehe: „Eine Demokratie muss wehrhaft sein gegenüber ihren Feinden. Niemals wieder sollen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen“. Und der Gastgeber der Veranstaltung, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ergänzte im gleichen Duktus: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit."

„Das politische Konzept der wehrhaften Demokratie beruht auf großen Zweifeln an den moralischen und geistigen Kapazitäten der Bürger, denen Leichtgläubigkeit, Naivität und Uninformiertheit unterstellt wird."

Der von Söder und Steinmeiner vorgebrachte Einwand, dass denjenigen, die danach trachten oder im Verdacht stehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen oder Auffassungen vertreten, die dieser widersprechen, nicht die verfassungsrechtlich gewährten Freiheitsrechte beanspruchen können, ist im Konzept der wehrhaften Demokratie institutionell verankert. Einen prägenden Einfluss auf diese politische Konzeption hatte der deutsch-jüdische Verfassungsrechtler Karl Löwenstein. Er argumentierte, der Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik hätte verhindert werden können, wenn man damals weniger Achtung vor demokratischen Rechten gehabt hätte. In einem 1937 veröffentlichten Beitrag schrieb er: „Die mangelnde Militanz der Weimarer Republik gegen subversive Bewegungen, auch gegen solche, die eindeutig als subversiv verstanden werden, bildet im Nachkriegsdilemma der Demokratie Beispiel wie Warnung […]. Es muss offen gesagt werden, dass der Nationalsozialismus von der katastrophalen Erfahrung der Weimarer Republik zu profitieren wusste. Das Einparteiensystem war die logische Antwort auf die demokratische Toleranz der zerstörten Republik.“1

Diese Sichtweise ist sehr einseitig, denn zwar war die Verfassung der Weimarer Republik aus dem Jahr 1919 von dem Bestreben geprägt, den Bürgern über die Ausweitung des Wahlrechts und die Rolle des Parlaments deutlich mehr Mitspracherecht zu geben. Gleichzeitig wurde das Parlament jedoch neuen Restriktionen unterworfen, um die Volkssouveränität zu begrenzen. So legte der erste Artikel der Weimarer Verfassung Deutschland als Republik fest und stellte klar: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Erstmalig gab es vollständig demokratische Wahlen, eine nominell unabhängige Justiz, eine freie Presse und – wie in nur wenigen Ländern zuvor – allgemeines Wahlrecht für alle Männer und Frauen über 20 Jahren. Die verschiedenen Artikel der Verfassung schränkten jedoch die zuvor gewährten Rechte wiederum ein, wie etwa der Artikel 118. Dieser räumt zwar jedem Deutschen das Recht ein, „seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern“, allerdings nur „innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze“. Artikel 48 räumte dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein, per Dekret zu entscheiden und Gesetze wie Bürgerrechte für ungültig zu erklären, und zwar „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“.

Von diesen Möglichkeiten, demokratische Rechte zu beschneiden, machte die Weimarer Republik von Beginn an reichlich Gebrauch. So hatte der direkt vom Volk gewählte Präsident die Funktion des Verfassungswächters inne. Er konnte per Erlass regieren und nach Belieben Regierungen entlassen. Diese Funktion als Wächter der Verfassung nutzte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert als erster Reichspräsident sehr umfangreich, indem er solche Dekrete vielfach einsetzte und auf diesem Weg unter anderem für die Absetzung der rechtmäßig gewählten Regierungen Sachsens und Thüringens sorgte.2 Während des Ruhraufstands 1920 datierte er einen Erlass zurück, der für Verletzungen der öffentlichen Ordnung die Todesstrafe vorsah.

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 – die zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Wählergunst für die NSDAP bereits ihren Höhepunkt überschritten hatte – durch den damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und der anschließende Schrecken des Nationalsozialismus diskreditierte die Rolle eines Präsidenten als Verfassungswächter jedoch. Später orientierte man sich daher an den Vorstellungen des Rechtswissenschaftlers Hans Kelsen. Dieser gilt als Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920, die als eine der ersten Verfassungen überhaupt dem Verfassungsgerichtshof eine herausragende Rolle zuerkannte und diesem auch die Macht gab, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären. Kelsens Vorstellung eines Verfassungsgerichts als Wächter, das Grundrechte durchsetzen und gesetzliche Bestimmungen für ungültig erklären kann, wurde in Deutschland und später in anderen Ländern übernommen. Denn nach den Erfahrungen des Dritten Reichs war man sich auch weiterhin darin einig, dass das politische System vom Einfluss der Bürger abgeschirmt werden muss. Notfalls muss die Demokratie demnach sogar mit undemokratischen Mitteln verteidigt werden, wie Steinmeier und Söder auf Herrenchiemsee erklärten, indem man den Feinden der Freiheit die Freiheit verwehrt, so dass „demokratische Freiheitsrechte […] niemals wieder missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen.“

Demokratiepanik

Der seit mehr als einem Jahrzehnt immer stärker aufkommende Populismus hat vor diesem Hintergrund eine Demokratiepanik ausgelöst. Denn durch das Ende des Kalten Krieges ist der bis dahin geltende, sehr weitreichende gesellschaftliche Konsens aufgebrochen und die meinungsführenden Eliten der westlichen Gesellschaften stehen seitdem unter einem erheblichen Legitimationsdruck, der sich in kulturellen Auseinandersetzungen wie z.B. der geeigneten Sprache, Diversität, Ernährung und Konsum, der Bewertung von Migration, Nation und Geschichte oder dem Umgang mit dem Klimawandel ausprägt.

„Die Annahme, dass die Meinungsfreiheit Grenzen haben muss, ist ein zentrales Merkmal der wehrhaften Demokratie."

Seit den heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Zuge der Euro-Rettungspolitik 2012 und der Flüchtlingskrise 2015 ist Populismus in Deutschland gefürchtet. Die Brexit-Entscheidung der britischen Wähler am 23. Juni 2016 und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten am 8. November 2016 haben in den Augen des Establishments – und für viele unerwartet – das Potenzial populistischer Strömungen offenbart. Sie haben gezeigt, dass die Wähler gegenüber Auffassungen abseits des politischen Mainstreams nicht immun sind. Der 2022 errungene Wahlerfolg Giorgia Melonis, der neofaschistische Wurzeln bescheinigt werden, zur Regierungschefin Italiens aber auch das politische Erdbeben bei der niederländischen Parlamentswahl 2023, in der die Wähler die als radikal rechts geltende Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders mit deutlichem Abstand zur stärksten Partei machten, vor allem aber der in Deutschland mit AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) immer stärker werdende Populismus, der von Auflösungserscheinungen des etablierten Parteienspektrums begleitet wird, haben den Alarmismus hierzulande enorm verstärkt. Lange glaubte man, dass die Wähler in Deutschland weniger anfällig seien oder es zumindest gelingen könne, sie weitgehend zu immunisieren.

Da das politische Konzept der wehrhaften Demokratie auf großen Zweifeln an den moralischen und geistigen Kapazitäten der Bürger beruht, denen Leichtgläubigkeit, Naivität und Uninformiertheit unterstellt werden und die daher leichte Opfer extremistischer Kräfte sein könnten, ist die Annahme, dass die Meinungsfreiheit Grenzen haben muss, ein zentrales Merkmal der wehrhaften Demokratie. Um die Demokratie zu schützen, so dieser Ansatz, sei die Öffentlichkeit daher insbesondere vor der Artikulation bestimmter Ansichten abzuschirmen.

Bürger als Nährboden

Daher wird die Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Populismus in Deutschland in der Regel nicht über inhaltliche politische Debatten geführt, sondern diesen ausgewichen. Stattdessen dient Empörung über Hass und Hetze, Desinformation und Fake News, Demokratiefeindlichkeit, Extremismus, Delegitimierung des Staates usw. dazu, diese als demokratiegefährdend eingestuften Äußerungen möglichst zu ächten und deren Artikulation im öffentlichen Raum zu unterbinden. Empörung ist zu einem wirksamen Mittel der Ächtung unliebsamer Meinungen geworden, denn sie greift die in der Bevölkerung verbreitete Verunsicherung gegenüber populistischen Strömungen auf und mobilisiert vorhandene Ängste.

Mit dem Vorwurf von Hass und Hetze, Desinformation usw. werden zwar vordergründig diejenigen angegriffen, die bestimmte Botschaften senden. Tatsächlich geht es jedoch vor allem um die Empfänger, also die große Masse der Menschen, von denen man nicht etwa nur vermutet, sondern zu wissen glaubt, dass sie für dumpfe Parolen empfänglich sind. Die umfangreichen Gesetzgebungsverfahren der vergangenen Jahre gegen „Hass und Hetze“, vor allem das unter dem damaligen Justizminister Heiko Maas (SPD) verabschiedete und inzwischen mehrmals verschärfte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017, sollen zwar in einigen Punkten eine konsequentere und härtere staatliche Strafverfolgung der Täter ermöglichen. Der Fokus liegt jedoch eindeutig in der Unterdrückung derartiger Äußerungen.

Es geht also weniger um die Täter, deren Botschaften ohnehin oft vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind, sondern um den schädlichen Effekt, den deren Äußerungen in der sonstigen Bevölkerung haben. Das Ziel ist es, diesen Teil der Gesellschaft weitestmöglich von dem Gedankengut der Täter abzuschirmen und zu schützen. Es ist eine Mischung aus diffuser Angst vor der Masse und gezielter Abwertung der Moralität und der Fähigkeiten einfacher Menschen, die den weit verbreiteten Alarmismus gegenüber Hass und Hetze, Desinformation usw. heraufbeschworen hat.

Auch das bereits vor knapp einem Jahr als Regierungsentwurf vorgelegte Demokratiefördergesetz, dessen zügige Verabschiedung Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nun fordert, zielt wie das NetzDG (und zukünftig ein Digitale-Dienste-Gesetz zur Umsetzung einer EU-Vorschrift) darauf ab, „demokratie- und menschenfeindliche Phänomene“, letztlich also Meinungen, die als Hass und Hetze, Desinformation usw. kategorisiert werden können, weitestmöglich aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Um dies zu erreichen, sollen über das Demokratiefördergesetz zivilgesellschaftliche Initiativen so enorm gestärkt und gefördert werden, dass diese den öffentlichen Raum als Stichwortgeber und Sprachrohre dominieren.

Faeser will mit verstärkter „Prävention“ durch das Demokratiefördergesetz dafür sorgen, dass die Bürger vor schädlichen Einflüssen bewahrt werden, die von „Diffamierungskampagnen und Falschinformation“ ausgehen. Denn nach Auffassung der Bundesinnenministerin bilden die Bürger, da sie sich vermeintlich leicht beeinflussen und verführen lassen, den Nährboden für Demokratie- und Menschenfeindlichkeit. So diene das Demokratiefördergesetz dazu, die „demokratische Zivilgesellschaft“ auch gegenüber russischer „Desinformation, die unsere Gesellschaft spalten soll, […] widerstandfähiger zu machen“, um derartigen Bestrebungen „konsequent den Nährboden zu entziehen.“

Das Demokratiefördergesetz kommt zwar in einer wohlmeinenden Sprache daher, es ist jedoch eine regelrechte Abrechnung mit dem Volk, denn es basiert auf und legitimiert sich durch eine durchgängig abschätzige Bewertung der Bürger. Wie defizitär die Bürger betrachtet werden, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass diese – da sie vermeintlich zu lange sich selbst überlassen wurden – inzwischen zu völlig falschen Ansichten neigen. So wird im Gesetzesentwurf festgestellt, dass die dort problematisierten Einstellungen inzwischen „leider auch in der Mitte der Gesellschaft“ vorzufinden seien. Daher sollen diese vermeintlich bestehenden Defizite der Bürger mit Hilfe staatlicher sowie staatlich geförderter zivilgesellschaftlicher Initiativen durch verbesserte politische Bildung und Teilhabe behoben werden. Bildungs- und Aufklärungsarbeit soll dafür sorgen, dass sich insbesondere die „in der Mitte der Gesellschaft“ vorhandene „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, also Einstellungen wie „Rassismus, Sexismus“ oder etwa die „Abwertung von Menschen mit Behinderung und die Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen“, nicht noch „weiter verbreite."

Die größte Gefahr für die Demokratie

In einer Vielzahl gesetzlicher Initiativen der vergangenen Jahre, angefangen mit dem NetzDG, dem Demokratiefördergesetz, der Änderung des Disziplinarrechts zur Entfernung von Verfassungsfeinden aus dem öffentlichen Dienst oder etwa die aktuell von SPD- und FDP-Politkern geforderte und inzwischen mit einem Gesetzentwurf der Justizminister der Bundesländer unterlegte stärkere Abschirmung des Bundesverfassungsgerichts vor politischem Einfluss, lässt sich eine bizarre Umkehrung des Demokratieprinzips erkennen. Anstatt wie im Grundgesetz verankert, dem Grundsatz zu folgen, dass die Bürger der Souverän sind und daher „alle Staatsgewalt […] vom Volke ausgeht“ und diese insbesondere durch „Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt“ werden soll, folgt man inzwischen offenbar der Maxime, dass vom Volk die größte Gefahr für die Demokratie ausgeht.

Die auf Bundesebene ohnehin nur repräsentative Demokratie, die dem Volk die direkte demokratische Kontrolle verwehrt, und deren Machtzentrum immer weiter auf die gegenüber demokratischem Einfluss weitgehend abgeschirmte EU-Ebene übertragen wird, wird weiter gezielt ausgehöhlt, indem man immer höhere Schutzwälle der „wehrhaften Demokratie“ rund um die demokratischen Institutionen aufbaut und damit die politische Einflussnahme der Bürger kontinuierlich einschränkt.

„Indem den Bürgern nicht zugetraut wird, sich eine eigene und unabhängige Meinung zu bilden und auf dieser Basis vernünftige und moralische Urteile zu fällen, erscheint es sicherer, den Meinungsbildungsprozess, der vermeintlich zu einem entgegengesetzten Ergebnis führt, möglichst zu blockieren."

Zweifellos steckt hinter dieser Entwicklung auch ein pragmatisches machtpolitisches Kalkül. Denn es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Stärkung der Institutionen der wehrhaften Demokratie dazu dient, dem zunehmenden politischen Druck durch populistische Strömungen etwas entgegenzusetzen, indem man die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme immer weiter einschränkt. Der große Schaden für die Demokratie entsteht daraus, dass das legitimiert wird, indem man den Bürgern nicht die geistigen und moralischen Kapazitäten attestiert, um die Funktion des demokratischen Souveräns auszufüllen.

In der inzwischen gängigen Abwertung der Bürger als potenzielle Opfer von „Rattenfängern“ liegt eine enorme Gefahr für die Demokratie, denn unter dieser Prämisse, droht auch die wohl wichtigste Grundlage einer funktionierenden Demokratie, zu einer unerträglichen Gefahr zu werden. Denn indem den Bürgern im Allgemeinen oder jedenfalls einem erheblichen Anteil nicht zugetraut wird, sich eine eigene und unabhängige Meinung zu bilden und auf dieser Basis vernünftige und moralische Urteile zu fällen, erscheint es sicherer, diesen Meinungsbildungsprozess, der vermeintlich zu einem entgegengesetzten Ergebnis führt, möglichst zu blockieren.

„Man kann die Demokratie nicht vor dem Volk schützen“ warnt der frühere Ministerpräsident des Saarlandes und ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller (CDU). Er verweist zurecht darauf, dass das Grundgesetz auch „auf die Kraft des Arguments und auf die geistige Auseinandersetzung [setzt], darauf dass Demokraten die Demokratie mit offenem Visier verteidigen.“[20] Die Angst vor dem Volk in Gestalt des Populismus hat in den vergangenen Jahren jedoch in Politik, Staat und Medien eine Demokratiepanik ausgelöst, in der man dem Bürger nicht mehr auf Augenhöhe begegnet.  So droht die von Müller betonte Seite der Verfassung, die auf Vernunft und Moralität der Bürger setzt und diese letztlich als Träger der Demokratie begreift, über Bord zu gehen und seine Warnung zur bitteren Realität zu werden: Eine Demokratie gegen das Volk.

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