27.07.2022

Die Ära sinkender Reallöhne hat begonnen

Von Alexander Horn

Die aktuellen Kaufkraftverluste sind nicht das Werk der EZB. Verantwortlich sind die Staaten, weil sie eine Politik betreiben, die die Arbeitsproduktivität senkt.

In den entwickelten Volkswirtschaften ist der Wohlstand der großen Masse der Erwerbstätigen seit Jahrzehnten kaum noch gestiegen. Nun gewinnt die bisher schleichende Wohlstandserosion, die sich an der Entwicklung der Reallöhne zeigt, an Dynamik. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie vor mehr als zwei Jahren sinkt die Kaufkraft. Löhne und Gehälter steigen in geringerem Ausmaß als die Konsumentenpreise. Zudem steigen sie erst nachträglich, so dass der Preisauftrieb bis zum Zeitpunkt der Zahlung höherer Verdienste bereits zu Reallohnverlusten geführt hat. In Deutschland steigen die Konsumentenpreise inzwischen mit einer Jahresrate von mehr als 8 Prozent. Weiter Verteuerungen werden erwartet, denn die Erzeugerpreise sind sogar um mehr als 30 Prozent gestiegen. Satte Verdienststeigerungen sind aktuell schwierig, denn nicht allen Unternehmen gelingt es, die steigenden Einkaufspreise weiterzugeben. Sie kommen selbst unter Druck und wollen Lohn- und Gehaltsteigerungen nur unterhalb der Inflationsrate zulassen.1

Der aktuelle Preisauftrieb wird vor allem mit der Entstehung von Verkäufermärkten erklärt. So sind die globalen Lieferketten zunächst durch die Rezession der europäischen Industrie seit Anfang 2019 und dann durch die Verwerfungen der Corona-Pandemie aus dem Takt geraten. Dadurch sind in vielen Bereichen und auf globaler Ebene Engpässe entstanden, die preistreibend wirken. Denn in den Lieferketten gelingt es teilweise nur mit kostspieligen Maßnahmen den Bedarf zu decken und die Engpässe auszugleichen oder zumindest zu mindern – das treibt die Preise. Andererseits gelingt es vielen Anbietern knapper Güter jedoch auch, höhere Preise durchzusetzen und die Gewinnmargen zu heben. In ähnlicher Weise hat der von Russland geführte Krieg gegen die Ukraine zuvor massenhaft verfügbare Güter, insbesondere Erdgas, zu einem knappen Gut werden lassen und die Angebotspreise in die Höhe getrieben.

EZB muss beten

In Anbetracht dieser Diagnose geht die EZB – wie auch viele Ökonomen – davon aus, dass sich der Preisauftrieb verlangsamen und sogar wieder zurückbilden könnte, sobald die Ursachen der Angebotsengpässe behoben sind. Mit dieser Einschätzung begründet die EZB ihre bisher abwartende Haltung bei der Inflationsbekämpfung. Erst am 21. Juli hat der EZB-Rat eine minimale Zinserhöhung von 0,5 Prozent beschlossen und die Ära ständig sinkender Zinsen beendet. Außerdem wurde das Anleihekaufprogramm seit diesem Monat beendet, was jedoch lediglich bedeutet, dass die EZB ihren inzwischen viele Billionen Euro umfassenden Bestand an Staats- und Unternehmensanleihen nicht weiter aufstockt. Stattdessen hat die EZB gleichzeitig mit ihrer ersten Zinsanhebung ein neues geldpolitisches Instrument eingeführt, das sogenannte „Transmission Protection Instrument" (TPI). Es soll die „Fragmentierung“ der Eurozone verhindern, indem gezielter diejenigen Staaten und Unternehmen, die existenziell auf den Fluss billigen Geldes angewiesen sind, mit noch mehr Liquidität aus der Druckerpresse der EZB versorgt werden können.2

„Die EZB kann nur hoffen, dass das Szenario einer fortschreitenden Geldentwertung nicht eintritt und sich die Inflationsursachen von selbst wieder zurückbilden.“

Kritiker der EZB befürchten und bemängeln, dass sie die Inflation falsch einschätzt und geldpolitisch nicht rechtzeitig gegensteuert. So könnte sich der Preisauftrieb weiter verstärken und sogar außer Kontrolle geraten. In diesem Szenario würde sich der Preisanstieg auf alle Preise ausdehnen und es käme zu einem allgemeinen Preisauftrieb, dessen eigentliche Ursache der Wertverlust des Geldes ist. Der sinkende Geldwert des Euro könnte zu einer folgenschweren Kettenreaktion führen, wenn dadurch eine Flucht aus dem Euro ausgelöst wird und dies den Geldwertverlust weiter anheizt. Dass dieses Szenario nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigt der aktuelle Wertverlust des Euro gegenüber dem US-Dollar.3 Einige Ökonomen, so beispielsweise der frühere Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, argumentieren, dass die EZB einer derartigen Geldentwertung sogar hilflos gegenüberstehe. Sie kann die vielen Billionen Euro, die sie in den vergangenen Jahren in die Finanzmärkte gepumpt hat und die jetzt die Inflation ermöglichen, nicht wieder einsammeln, ohne eine überaus heftige Krise auszulösen. Sie kann also nur hoffen, dass das Szenario einer fortschreitenden Geldentwertung nicht eintritt und sich die Inflationsursachen von selbst wieder zurückbilden.

Fundamentale Gründe des Preisauftriebs

Der Wohlstand der erwerbstätigen Massen ist jedoch nicht nur vom Risiko des Geldwertverlusts des Euro bedroht sowie von der möglicherweise nur temporären Entstehung von Verkäufermärkten. Noch weit problematischer für die Reallohnentwicklung ist die stagnierende und neuerdings sogar rückläufige Arbeitsproduktivitätsentwicklung. Wie sehr dies der Fall ist, lässt sich durch einen Vergleich mit den „Ölkrisen“ in den 1970er Jahren zeigen.

Damals kam es in Deutschland über mehrere Jahre zu ähnlich hohen Inflationsraten wie aktuell. Trotz Preissteigerungsraten von 6,6 Prozent 1973 sowie 7,2 und 5,4 Prozent in den darauffolgenden Jahren, gelangen auch in dieser Zeit und bis zum Ende der 1970er Jahre hohe Reallohnsteigerungen. Denn die Arbeitnehmer konnten Lohn- und Gehaltsforderungen durchzusetzen, die weit oberhalb dieser Preissteigerungen lagen. Daher erreichten die jährlichen Reallohnsteigerungen zu Beginn der 1970er Jahre noch etwa 7 Prozent jährlich. Bis zum Ende des Jahrzehnts fielen sie auf etwa 3 Prozent zurück.

„Wegen der Stagnation der Arbeitsproduktivität nimmt die in der gleichen Arbeitszeit erzeugte Masse der Güter nicht mehr zu.“

Die Unternehmen konnten trotz der Inflation derart hohe Lohnsteigerungen verkraften, weil sie im Laufe des gesamten Jahrzehnts – bei allerdings sinkender Tendenz – vor allem durch technologische Verbesserungen jedes Jahr eine Steigerung der Arbeitsproduktivität von durchschnittlich etwa 4,5 Prozent erreichten.4 Heute hingegen werden bei weiter sinkender Tendenz nur noch marginale Produktivitätssteigerungen erreicht. Für die 2010er Jahre weist das Statistische Bundesamt eine durchschnittliche Steigerung der Arbeitsproduktivität von nur noch 0,9 Prozent pro Jahr aus. In den Jahren 2018 und 2019, also noch vor den Verwerfungen, die mit der Corona-Pandemie begannen, stieg die Arbeitsproduktivität in Deutschland um 0,0 und 0,4 Prozent.5 Die Stagnation der Arbeitsproduktivität bedeutet nichts anderes, als dass die pro Erwerbstätigenstunde geleistete Wertschöpfung nicht mehr zunimmt. Die Folge: Da die Unternehmen technologisch stagnieren, treten sie wettbewerblich auf der Stelle und können kaum höhere Löhne zahlen. Ganz im Gegenteil sind sie sogar auf Kostensenkungen angewiesen, um sich wettbewerblich zu verbessern. Für Reallohnerhöhungen fehlt zudem die ökonomische Basis: Denn wegen der Stagnation der Arbeitsproduktivität nimmt die in der gleichen Arbeitszeit erzeugte Masse der Güter nicht mehr zu.

Greenflation

Da der die Güterpreise senkende und reallohnsteigernde Effekt von Produktivitätssteigerungen in den entwickelten Volkswirtschaften inzwischen versiegt ist und die Wirtschaftspolitik, wie ich in meinem Buch „Die Zombiewirtschaft“ zeige, nicht darauf ausgerichtet ist, dieses Problem zu beheben, wirken nun mächtige Hebel, die das Potenzial haben, die Arbeitsproduktivität und das Reallohnniveau sogar deutlich zu senken.

Der wesentliche Treiber ist die von Deutschland vorangetriebene ökologische Klimapolitik. Die ökologische Perspektive verlangt, den menschlichen Fußabdruck möglichst auf Null zu minimieren. Daher setzt man primär auf Energieeinsparung durch verbesserte Energieeffizienz sowie die möglichst vollständige Umstellung des restlichen Energiebedarfs auf Wind- und Sonnenenergie. Dadurch werden sukzessive vormals hochproduktive fossile und atomare Energieerzeugungsverfahren zugunsten der deutlich weniger produktiven und daher wesentlich teureren Energieerzeugungsverfahren ersetzt. Hinzu kommen extrem kostspielige Maßnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs.

„Schon heute sorgt jedoch nicht nur die von der Klimapolitik ausgehende ‚Greenflation‘ für steigende Preise. Hinzu kommt die ebenfalls von der Klimapolitik ausgehende ‚Fossilflation‘, also steigende Preise für fossile Energien.“

Bisher fielen diese auf Dauer anfallenden zusätzlichen Belastungen, obwohl sie – wie der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier letztes Jahr einräumte – jährlich inzwischen hohe zweistellige Milliardenbeiträge (also etwa drei Prozent des deutschen BIP) verschlingen, kaum ins Gewicht.6 Denn die zwei zukünftigen Standbeine der deutschen Energieversorgung, Windkraft und Photovoltaik, spielen noch immer eine zu unbedeutende Rolle. Bisher decken sie weniger als fünf Prozent des Primärenergieverbrauchs in Deutschland. Auch das unschlagbar billige russische Gas war eine wichtige Stütze, um den Preisauftrieb durch die Erneuerbaren Energien auszugleichen und die ökologische Klimapolitik zu finanzieren. Mit dem Fortschreiten der Energiewende werden die gesetzlichen Vorgaben für einen sinkenden Energieverbrauch durch Energieeffizienz und die Umstellung auf Erneuerbare Energien allerdings zu einem immer bedeutenderen Faktor für steigende Preise.

Schon heute sorgt jedoch nicht nur die von der Klimapolitik ausgehende „Greenflation“ für steigende Preise. Hinzu kommt die ebenfalls von der Klimapolitik ausgehende „Fossilflation“, also steigende Preise für fossile Energien. Die Klimapolitik ist darauf ausgerichtet, fossile Energien so lange mit Klimasteuern zu belasten, bis sie das Preisniveau erneuerbarer Energien erreicht haben. Von diesem Preisniveau sind wir trotz des jüngsten Anstiegs der Energiepreise aber noch immer weit entfernt.

Fossilflation

Die Fossilflation wird insbesondere dadurch angeheizt, dass die weltweiten Investitionen in die Erschließung und Förderung fossiler Energien sinken. Diese sehr langfristigen Investitionen sind beeinträchtigt, weil politische Maßnahmen, wie etwa die Ächtung globaler Investitionen in fossile Energien durch die EU-Taxonomie, nicht nur die Wirtschaftlichkeit langfristiger Investitionen in Frage stellen, sondern auch hohe Investitionsrisiken bergen. Von 2010 bis 2014 sind diese globalen „Upstream“-Investitionen für Öl und Erdgas noch deutlich angestiegen, von etwa 500 Milliarden US-Dollar auf knapp 800 Milliarden pro Jahr. 7

„Die EZB muss als Sündenbock herhalten für eine Wirtschaftspolitik, die seit Jahrzehnten den Niedergang der europäischen Wirtschaft zementiert hat.“

Seitdem lagen die realen Investitionen – also unter Berücksichtigung von Kostensenkungen bei Erschließung und Förderung – nur noch geringfügig über dem Niveau von 2010. 2020 wurden die Investitionen – bedingt durch den Nachfrageeinbruch während der Corona-Krise – nochmals um etwa 30 Prozent zurückgenommen. Weil die Investitionen politisch blockiert werden und viele Unternehmen sich selbst als Vorreiter des Ausstiegs profilieren, wird die Einführung neuer und produktiverer Technologien gehemmt. Auf dieses Dilemma weist die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrem aktuellen „Word Investment Report“ hin. Weil notwendige Investitionen fehlen, schränke dies den zukünftigen Konsum ein und so könne „die Welt am Beginn eines neuen Preiszyklus“ stehen.8

Sinkende Investitionen bewirken zudem, dass weniger neue Öl- und Gasvorkommen erschlossen werden und die Ausbeutung der vorhandenen Vorkommen immer aufwändiger wird. Dann steigen die Förderkosten, insbesondere wenn Anlagen nicht erneuert oder neue Technologien nicht zum Einsatz gebracht werden. Dies wirkt sich in Richtung fundamental steigender Preise aus. Eine ähnliche Entwicklung wie bei den „Upstream“-Investitionen in Öl und Gas zeichnet sich gegenwärtig, ebenfalls ausgelöst durch die Klimapolitik, bei der Versorgung mit metallenen Rohstoffen ab. Bei „grünen“ Metallen wie Kupfer, Aluminium, Zinn, Nickel, Lithium, Kobalt und seltenen Erden müssen wegen der Vervielfachung der Bedarfe ebenfalls enorme Investitionen gestemmt werden. Auch dort kämpft man damit, dass mit der Dauer des Betriebs einer Mine der Abbau aufwendiger wird und sinkender Metallgehalt die Kosten in die Höhe treibt. Hinzu kommt, dass die Erschließung neuer Minen Jahrzehnte dauern kann und nicht selten politisch blockiert wird.

EZB: Der perfekte Sündenbock

Es geht daher an der Sache vorbei, wenn – wie derzeit oft der Fall – die Geldpolitik für die aktuellen Preissteigerungen, die schon jetzt deutliche Reallohneinbußen mit sich bringen, verantwortlich gemacht wird. Die EZB muss als Sündenbock herhalten für eine Wirtschaftspolitik, die seit Jahrzehnten den Niedergang der europäischen Wirtschaft – infolge rückläufiger und nun ausbleibender Produktivitätsstagnation – zementiert hat und die nun wegen ihrer ökologischen Orientierung sogar eine rückläufige Arbeitsproduktivität in Kauf nimmt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die damit ausgelöste Energiekrise sowie die vor allem coronabedingten Lieferkettenprobleme sind nur der Auslöser für eine Ära sinkender Kaufkraft, in der die fundamentalen Probleme der europäischen Wirtschaft offengelegt werden.  

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