01.11.2005

Deutschland – Land ohne Ideen?

Analyse von Stefan Chatrath

Die Imagekampagne zur Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland steht auf wackligen Beinen.

„Deutschland – Land der Ideen“ – unter diesem Motto steht die Imagekampagne zur Fußball-WM 2006 in Deutschland. Getragen wird die Initiative gemeinsam von Bundesregierung, Bund Deutscher Industrie und Großunternehmen wie Siemens, Telekom und BASF. „Wir wollen die Fußball-WM im nächsten Jahr zum Anlass nehmen, Deutschland in der Welt als moderne Wirtschaftsnation darzustellen“, sagt Mike de Vries, Geschäftsführer der die Imagekampagne koordinierenden GmbH. Ziel ist es, ausländische Investoren vom hiesigen Standort zu überzeugen. Die Initiatoren erhoffen sich aber auch einen Impuls nach innen: Die Imagekampagne will Deutschland als Land der Ideen und der Erfindungen „erfahrbar“ machen und so „das Selbstbewusstsein von Deutschland stärken“. Doch allen guten Absichten zum Trotz muss bei genauerer Betrachtung konstatiert werden, dass die Imagekampagne auf wackligen Beinen steht.
 

„Die deutschen Erfindungen, auf die sich die Imagekampagne beruft, sind mehrheitlich Geschichte.“



Land ohne Ideen
Ein zentrales Projekt der Imagekampagne ist der „Walk of Ideas“, der den Ideen- und Einfallsreichtum Deutschlands als Erfindernation dokumentieren soll. Im Frühjahr 2006 werden dazu in Berlin vor historisch bedeutsamen Gebäuden überdimensionale Styropor-Skulpturen von Erfindungen aus der Geschichte Deutschlands aufgestellt. Das Problem: Die Erfindungen, auf die die Imagekampagne sich dabei beruft, sind in der großen Mehrheit im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte. Allesamt zwar tolle Erfindungen, doch mit dem Deutschland von heute haben sie nicht mehr viel zu tun: Buchdruck 1450, Auto 1886, Aspirin 1897, Transrapid 1934, Computer 1938, Airbag 1952, Videotechnik 1953. Einzig und allein die Erfindung der Technologie, auf der der MP3-Player basiert, kann heute hier noch mithalten. Sie wurde 1990 vom Fraunhofer-Institut in Erlangen entwickelt, bevor sie dann im Anschluss ihren globalen Siegeszug antrat.
Styropor und Wissenschaftsgeschichte – nicht gerade inspirierend, was geboten wird, aber woher soll es auch kommen? Im internationalen Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit des World Economic Forums (WEF) belegt Deutschland hinter den USA, Japan und den skandinavischen Ländern Platz 15. Ursache dafür ist neben der hohen Staatsverschuldung eine „mangelhafte Innovationskultur“. So hätten beispielsweise 2004 nur zehn Prozent der deutschen Unternehmen es gewagt, außerhalb ihres Kerngeschäfts zu investieren. „Eine Produktpolitik, die auf Halten ausgerichtet ist, eröffnet aber keine Wachstumschancen“, kritisiert Horst Penzkofer, Innovationsexperte am Münchener Ifo-Institut. Den Unternehmen in Deutschland mangele es an Risikobereitschaft. Laut WEF sind zwar die Unternehmensausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) in den letzten Jahren stetig gestiegen; gegenwärtig liegen sie bei 1,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also bei etwa 30 Mrd. Euro. Die Verteilung des FuE-Budgets in den Unternehmen auf einzelne Forschungsprojekte ist jedoch äußerst konservativ: Qualitätskontrollen für Altprodukte und Produktpflege binden mittlerweile 50 Prozent des FuE-Budgets. Forschungsoutput sind damit für gewöhnlich Bagatellinnovationen wie etwa ein neues Etikett auf einer Fruchtsaftflasche oder ein griffigerer Griff an einem technischen Gerät. Diese Verbesserungen sind für die Kundenbindung sicherlich unerlässlich, aber es scheint kaum vertretbar, dass ein solch großer Teil des Forschungsbudgets in derartigen Nebensächlichkeiten „angelegt“ wird.
Wer schon bei der Forschung auf Nummer sicher geht, riskiert zwar kaum einen „Flop“. Doch wie heißt es im Volksmund so richtig: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. „An die wirklich wachstums- und renditeträchtigen Neuerungen trauen sich die deutschen Manager nicht heran“, sagt Rolf Berth, der in einer Langzeitstudie über einen Zeitraum von neun Jahren 323 Unternehmen beobachtete. 73 Prozent der Manager schreckten vor „radikalen“ Innovationen zurück – obgleich damit überdurchschnittliche Renditen erwirtschaftet werden könnten. In ihren empirischen Untersuchungen ermittelten Berth und sein Forscherteam einen Wert von 14,7 Prozent; elf Prozent mehr als FuE-Projekte durchschnittlich erzielen, deren Ziel in der Produktpflege liegt. Für ein Exportland, dessen zukünftiger Wohlstand von erfolgreichen Neuprodukten abhängt, ist diese Ängstlichkeit der Manager eine große Gefahr. Und eine Besserung ist erst einmal nicht Sicht. Selbst die Automobilbranche, das Zugpferd der deutschen Wirtschaft, hat die Marktentwicklung schlichtweg verschlafen – wie zuletzt auf der Internationalen Automobilausstellung IAA in Frankfurt am Main noch einmal deutlich wurde: Beim Hybridmotor, der Kombination aus Verbrennungs- und Elektromotor, haben Honda und vor allem Toyota fünf Jahre Vorsprung. Mercedes wird den ersten „Serienhybrid“ frühestens 2007 auf den Markt bringen – zehn Jahre nach den Japanern.
Die Imagekampagne ist sicherlich ein ehrenwerter Versuch, die Stimmung in Deutschland zu verbessern, aber es ist zu befürchten, dass die Initiative letztlich genauso wirkungslos verpuffen wird wie das Jahr der Innovationen, das Bundeskanzler Schröder für 2004 ausrief. Seit dem Zusammenbruch der New Economy erleben wir mit den Terrorangriffen vom 11. September, den Wirtschaftskrisen in Argentinien und Brasilien, dem Irakkrieg, den Hurrikanen „Katrina“ und „Rita“ und nun der Bundestagswahl eine Spirale der Verunsicherung in der Geschäftswelt. Die Reaktionen auf jedes dieser Ereignisse waren geprägt von einer immer stärker werdenden Risikofurcht, die zu immer weniger Investitionen in künftiges Wachstum führt. Die deutsche Nettoinvestitionsquote, also der Anteil der Nettoinvestitionen am Nettoinlandsprodukt, liegt nur noch bei knapp drei Prozent. Das ist der mit Abstand niedrigste Wert aller OECD-Länder. Innovationen jedoch verschlingen viel Zeit und Geld. Motorola beispielsweise brauchte 15 Jahre und 150 Millionen Dollar, bevor die Handys des Unternehmens zu wahren Goldeseln wurden. Eine Investition, zu der viele deutsche Unternehmen anscheinend nicht mehr bereit sind. Der Anteil der hiesigen Unternehmen, die 2003 originäre Innovationen platzieren konnten, also Produkte, die zuvor noch nicht am Markt angeboten wurden, fiel von 14 auf 11 Prozent. Nirgendwo sonst in der entwickelten Welt haben sich die Unternehmen von der Zukunft so entschieden abgewandt wie in Deutschland – und das trotz hoher Gewinne und einer bemerkenswert guten Liquiditätslage.
„Better safe than sorry“ ist nicht nur für viele Unternehmen handlungsleitend, sondern, wie es scheint, auch für unsere Zeit im Allgemeinen. Zum ersten Mal seit der Aufklärung vor 200 Jahren leben wir in einem Klima, das das Vertrauen in gesellschaftlichen Fortschritt systematisch in Zweifel zieht, Fortschritt selbst zum Risiko umdefiniert hat. Soweit im öffentlichen Diskurs überhaupt noch Ideen auftreten, sind sie erschreckend fatalistisch: „Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit – die wohl einzigen neuen Konzepte – legen nahe, Ressourcenknappheit gepaart mit Bevölkerungswachstum und demografischem Wandel lasse der Menschheit nur eine Option: sparen. Und das nicht, wie früher, damit unsere Kinder es besser haben, sondern damit menschliches Leben auf reduziertem Erwartungsniveau überhaupt noch irgendwie weitergeht“, schrieb Sabine Reul in ihrer Novo-Kolumne vor der Bundestagswahl. Selbstverständlich ist auch die Wirtschaft gegen dieses Klima nicht immun. Reformstau und geistige Stagnation, Fortschritts- und Wachstumspessimismus spiegeln sich auch im unternehmerischen Handeln wider. Anstatt in die Zukunft zu investieren, verharren viele Unternehmen wie paralysiert in der Gegenwart. Die einzige Vision, die es noch zu geben scheint, ist die Fußball-WM 2006 in Deutschland.
 

„Die Art und Weise, wie stark sich die deutsche Wirtschaft an der WM ausrichtet, ist ein Beleg für den ansonsten vorherrschenden Impulsmangel und lässt Schlimmes für die Zeit nach 2006 befürchten.“



„Vision“ Fußball-WM 2006
Die Fußball-WM im nächsten Jahr ist für viele Unternehmen sicherlich eine Chance, wie sie so bald nicht wiederkehren wird. Das größte Sportereignis, das das Land je gesehen hat, schafft zehntausende Arbeitsplätze. Laut einer Studie der Postbank ist mit einem Wachstumsschub von 0,5 Prozentpunkten zu rechnen. „Insgesamt stehen die Chancen nicht schlecht, dass auch der private Konsum im WM-Jahr aus einer langanhaltenden Phase der Stagnation ausbrechen kann“, sagt der Chefvolkswirt der Postbank Marco Bargel. So legt bei Weltmeisterschaften regelmäßig der Absatz für Fernseher zu. Für höhere Umsätze dürften auch die in etwa eine Million ausländischen Touristen sorgen, die zur WM aus aller Welt nach Deutschland reisen werden. Die Fußball-WM als Wachstumspille für die Unternehmen in Deutschland? Wie es scheint, sehen das viele Unternehmen so und wollen das weltweit größte Sportereignis nutzen, um der kollektiven Depression über Massenarbeitslosigkeit und lähmender Bürokratie zu entkommen. Frische Impulse erhofft sich auch Telekom-Chef Kai-Uwe Ricke. Er träumt von der „ersten echten Multimedia-WM“. Im nächsten Jahr will die Telekom erstmals zusätzliche Inhalte auf dem T-Mobile-Handy und dem Internetportal T-Online anbieten. Tore werden in 30-Sekunden-Spots direkt aufs Handy übertragen, die zeitversetzte Wiederholung eines WM-Spiels ist auf T-Online übers Internet zu sehen. Das Unternehmen hofft auf die lang ersehnte Initialzündung für den Verkauf von UMTS-Handys. Und es will den Absatz der schnellen DSL-Anschlüsse ankurbeln. Die Telekom ist kein Einzelfall. Auch Hersteller von Fernsehern und Kartoffelchips, Unternehmen wie Adidas, KarstadtQuelle oder der Medienkonzern Bertelsmann, der vom WM-Kalender bis zum WM-Buch nahezu alles vertreibt – sie alle erhoffen sich ein Stück vom Milliardenkuchen.
Kurzfristig ist der WM-Effekt sicherlich unumstritten. Bleibt abschließend dennoch die Frage: Kann die WM und das Spektakel darum auch den einen oder anderen nachhaltigen Anstoß geben, der wirtschaftlichen Stagnation zu entkommen? Bei aller Euphorie in den deutschen Unternehmen: Es ist zu befürchten, dass die deutsche Wirtschaft über kurz oder lang wieder in ihre Lethargie zurückfallen wird. Die Ursachen für Zukunftspessimismus und Risikoscheu der Unternehmen liegen doch sehr viel tiefer, als dass sie durch ein einzelnes Sportereignis weitestgehend „beseitigt“ werden könnten. Die Art und Weise, wie stark sich die deutsche Wirtschaft nach der WM ausrichtet, ist vielmehr ein Beleg für den ansonsten vorherrschenden Impulsmangel und lässt Schlimmes für die Zeit nach 2006 befürchten. Daran wird auch die Imagekampagne nicht viel ändern können. Sie ist in einem Land ohne Ideen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

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