01.11.2007

„Der Zeit ihre Kunst – Der Kunst ihre Freiheit?“

Von Bernd Muggenthaler

Von Bernd Muggenthaler

Dieser Satz stammt nicht aus einem deutschen Feuilleton, das zwischen Kulturpessimismus und Pseudolibertinage laviert, sondern prangt (ohne Fragezeichen) seit gut 100 Jahren in Wien an der Sezession, jenem Bauwerk, das, im Fin de Siècle u.a. von Künstlern wie Gustav Klimt initiiert, eine deutliche Abkehr vom damals vorherrschenden Konservatismus signalisieren wollte. Eine wenig beliebte Splittergruppe Abtrünniger, die sich gegen den Zeitgeist von Dekadenz und sinnentleerter Ornamentik positionierte und damit gleichzeitig eine Plattform schuf für die künstlerisch-intellektuelle Auseinandersetzung über die gesellschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Noch heute bezeichnen die Wiener das Wahrzeichen dieses aufwendig restaurierten Ortes liebevoll als „Krauthappl“, was nichts anderes bedeutet als Kohlkopf, in Anspielung auf den manieriert wirkenden, überdimensionierten Blätterkranz, der sich hoch über dem Eingang erhebt. Unweit des Naschmarktes gelegen, hat sich die Sezession längst als Touristenattraktion etabliert und signalisiert dabei zweierlei: die Reduktion sinnentleerter Galanterie auf das mit Abstand billigste und gewöhnlichste rurale Produkt, das Österreich überhaupt nur offerieren kann. Andererseits bietet das Leitmotiv „Der Zeit ihre Kunst – Der Kunst ihre Freiheit“, kombiniert mit der uralten Heurigen-Weisheit „A echter Weana geht net unter“, wahrlich eine robuste Basis für jede Form künstlerischer Aktivität.
So war ich denn kürzlich auch nicht wirklich überrascht, als ich, eingeladen auf einem Atelierfest im siebten Bezirk, mir die Frage erlaubte „Was ist eigentlich für euch Kunst mit Message?“ und darauf nicht nur mehr als eine Antwort bekam, sondern im Gegensatz zu vielen hippen Berlinern eine völlig unpolitische. Die Definitionen reichten vom „emotional motivierten Gestus“, bis hin zum „sich unverwechselbar zeigen“, über „inmitten der Abstraktion Position beziehen, ein Statement abgeben“ – kulturjournalistische Phrasen, ohne die es einerseits nicht mehr geht, die andererseits aber ein deutliches Plädoyer abgeben für ein Selbstverständnis individueller Freiheit in Verbindung mit einer ebenso selbstverständlichen Verantwortung. Eine klare Akzentuierung, die ich oftmals bei Münchner und Berliner Künstlern vermisste. Politik und Medienhypes kommen in dieser Definition bestenfalls an zweiter Stelle.
Und selbst wenn ich an diesem Abend vielleicht ja wirklich nur auf dem falschen Fest war, so wurde ich den Zweifel nicht los, ob es nicht so sein könnte, dass der kleine Nachbar dem international gehypten Berlin, in dem sich mehr junge Künstler von Weltrang tummeln als in London und New York zusammen, irgendwo etwas voraus hat?

„Nietzsche und Steiner würden sich verwundert die Augen reiben ob des reduktionistisches Menschenbildes, das sich seit knapp zwei Jahrzehnten sukzessive verfestigt.“

Je weiter der Abend vorrückte, desto unmöglicher wurde natürlich eine medientaugliche, differenzierte Analyse der Lage – und gleichzeitig umso unnötiger. Was blieb, war etwas ganz anderes: ein lange vermisstes Wohlgefühl. Wirklich wohl fühlte ich mich nämlich schon lange nicht mehr bei derlei Veranstaltungen. Nicht inmitten der Münchner Vernissagenpupser mit ihrem gelangweilten anti-amerikanistischen Gerede, den Berliner Geheimtipps, die zwar oft witzig, dafür aber zuweilen unglaublich naiv sind und auch nicht frei von standardisiertem 68er-Flair, das liberal tut, aber spätestens nach der ersten Flasche Bio-Rotwein postpubertäre Eskapaden aus längst vergangenen Zeiten zur größten Wende in der Geschichte der Menschheit stilisiert.

Und während ich mich mit baudelairschem Relativismus tröste („die Kunst ist lang und flüchtig das Leben“) und mit reichlich Wasser und Aspirin den dräuenden Kater versuche in Grenzen zu halten, wird in Hamburg ein neuer deutscher Shootingstar in den Kunstolymp gehoben – Daniel Richter.
Einer, der hart an der Grenze zur Penetranz mit seiner linksautonomen Vergangenheit kokettiert und als gut trainierter Kampfsportler schon einmal den einen oder anderen Skinhead aus der Hafenstraße vertrieben haben will (wenngleich er selbst, entgegen anders lautenden Legenden, nie in der Hafenstraße gewohnt hat). „Die waren mir zu selbstautoritär“, sagt er gerne und gesteht ein paar Sätze weiter, dass er selbst nicht frei war von Allmachtsfantasien.
Seine Bilder und die Art der Anordnung sind es bis heute nicht. Am liebsten würde er wohl die Besucher mit seinen schemenhaften Fratzengebilden erschlagen: Endzeitstimmung, geisterhafte Fantasielandschaften, die jedes Apokalyptikerherz höher schlagen lassen, morbid-faschistoide Tschernobylästhetik, mit der ein Polizist samt Gasmaske und obligatorischem Schäferhund „ins rechte Licht“ gerückt wird.
Und ein Großteil des deutschen Feuilletons jubelt. Ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung erkennt gar: „Es geht also um das Schichten und Anhäufen von Chiffren des Gesellschaftlichen im Pigment, um das paranoide Glühen der Hoffnung.“ Wie aber mag das internalisierte Wertesystem einer selbst ernannten Intelligenzia beschaffen sein, das ein Glühen von Hoffnung in die Nähe von Paranoia rückt?
Richter selbst lächelt zu solchen Kommentaren, genießt den Ruhm des Popstars und zelebriert weiter seinen Veitstanz zwischen Che Guevara und Kommerz. Einer, dessen Bilder mittlerweile für eine halbe Million Euro weggehen und dem das Auktionshaus Christie’s hinterherbettelt, ob er nicht schneller malen kann, der kann es sich leisten. So erzählt er auch immer wieder gern die Anekdote, als vor Jahren eine Delegation der Deutschen Bank inklusive Rolf Breuer himself in sein Berliner Atelier spazierte und sichtlich beeindruckt war von seinem Werdegang. Und Richter im Nachhinein von den Vertretern des Großkapitals nicht minder: Die sind ja das Kapital, die sind nicht korrumpierbar. Und Breuer? – „Das war schon irgendwie auf gleicher Augenhöhe.“ Mimt Richter hier auf intellektuell und praktiziert in Wahrheit nichts anderes als Äquidistanz und Ahnungslosigkeit? Ein souveräner Umgang mit Geld, Macht und Zeitgeistneurotik sieht anders aus.
„Malen heißt denken!“, posaunt Richter, wo immer Journalisten in der Nähe sind, in die Welt hinaus und verkündet im gleichen Atemzug: „Die meisten Maler sind doof.“ Dass der langjährige Dunst von Lösungsmitteln nicht unbedingt förderlich sein muss für die organisch-zerebrale Gesundheit, ist eine medizinische Binsenweisheit, besonders dann, wenn man selbige (die Lösungsmittel) nicht nur zum Auswaschen der Pinsel verwendet. Doch darum geht es ihm gewiss nicht. Richter versteht nur – und das meisterhaft –, die Gedanken- und Gefühlswelt der Kaste zu bedienen, die im internationalen Kunstmarkt und im Feuilleton die Fäden zieht, die, die darüber entscheidet, was gute und was schlechte Kunst ist: die ehemaligen 68iger.
Eines kann man Daniel Richter also nicht absprechen – dass er nicht clever wäre. Seine Zielgruppe hat er jedenfalls klar im Auge. Was sich wohl ein Bereitschaftspolizist beim Anblick des oben zitierten Richter-Bildes denkt, der nach seinem Einsatz in Heiligendamm unter den Folgen eines Säureanschlags zu leiden hatte? Das interessiert offenbar nicht, denn so einer hängt sich ja auch nicht für eine halbe Mio ein Bild in die Plattenbauküche, und er partizipiert auch nicht am kulturintellektuellen Diskurs.

Eine andere Nachricht lässt mich dann doch noch aufhorchen. Richter hat eine Professur an der Wiener Akademie inne – ausgerechnet. Nun ja, in einem Land, wo eine Politikerin ohne wahrnehmbaren Widerspruch für ein „genfreies“ Österreich Stimmung machen kann, wird für derlei „Kunst“ wohl auch noch ein Plätzchen frei sein. Wie stark Richters Einfluss auf die Wiener Kunstszene tatsächlich sein wird, bleibt abzuwarten. Dito.

Dabei ist Richter offenbar nicht alleine bei seinem Ritt der „Message-Kunst“. In England degenerieren bereits seit geraumer Zeit Museen zu volkspädagogischen Anstalten. Und unser Nachbar, die Schweiz, ist auch nicht untätig. In einem Land, in dem gerade darüber diskutiert wird, Homöopathie und „anthroposophische Medizin“ als Kassenleistung zu verankern, kann auch die Art Basel nicht wirklich schocken. Unter anderem darf der Besucher hier einen traurigen Eisbären auf schmelzender Scholle beweinen. Die Botschaft ist klar: Bald wird der süße Eisbär ausgestorben sein durch den vom bösen Menschen gemachten Klimawandel.
Wie in den europäischen Metropolen des ausgehenden 19. Jahrhunderts herrscht heute vielerorts fröhliche Fin-de-Siècle-Weltuntergangsstimmung – auch wenn der Jahrtausendwechsel schon längst vollzogen ist. Mit abendländischem Masochismus weidet man sich am bevorstehenden Menschheitsende, wahlweise durch Klimakollaps, Atomgau oder Genfood verursacht. Damals wie heute suchen Vertreter höchster Bildungsschichten Sinn und Erlösung in obskuren, esoterischen Heilslehren und lähmen mit nichts anderem als ihrer persönlichen Hysterie Innovation, Selbstvertrauen und wirklich schöpferische Kraft.

Die sinnentleerte Ornamentik des 21. Jahrhunderts heißt nicht mehr floraler Reigen und obsolet-güldenes Blätterwerk. Sie ist weitaus gefährlicher und undurchschaubarer und bedient milliardenschwere Wirtschaftszweige. Der dekadente Manierismus von heute heißt Ökoreligion, Endzeitpanik, Fortschrittsfeindlichkeit und „Gender“-Diskussion. Nietzsche und Steiner, wenn noch unter uns weilend, würden sich verwundert die Augen reiben ob des reduktionistisches Menschenbildes, das sich seit knapp zwei Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften sukzessive verfestigt. Mit erschreckender Selbstverständlichkeit werden heute, mitten im Zeitalter des globalen Wettbewerbs, essenzielle Ressourcen nicht nur verschwendet, sondern systematisch vernichtet. Und kaum jemand muckt auf. Nicht einmal die Kunst. Oder doch?

„Der Zeit ihre Kunst – Der Kunst ihre Freiheit.“ Dieser Satz ist heute aktueller denn je, auch wenn es einfacher ist, mit traumwandlerischer Sicherheit in altbewährte Lebensfallen zu tappen oder im Zweifelsfall kranken Mainstream für den schnellen Euro zu usurpieren.

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