06.09.2021
Der Stachel im Hintern Europas
Von Sophie Delest
Warum Polen die EU so nervt.
Ich kann mich noch sehr gut an den Tag des Mauerfalls erinnern. Die Erstürmung der Mauer durch die vielen Menschen aus Ost und West wurde bei uns live gesendet. Natürlich verstand ich damals als siebenjähriges Kind wenig von den Bildern, die ich sah. Ich weiß nur noch, dass ich mich über die überglücklichen Gesichter der Menschen wunderte. „Na gut, die Mauer ist tatsächlich nicht besonders schön, aber im Gegensatz zu vielen grauen Mauern in Polen ist sie doch wenigstens bunt bemalt“, dachte ich damals.
Ich fragte also meine Mutter, warum die im Fernsehen gezeigten Menschen sich so freuten, und dann kam als Antwort eine Zusammenfassung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Version für Kinder: „Wir leben in Polen, aber in der Welt gibt es noch viele andere Länder. Fremde Länder erkennt man dadurch, dass man dort Polnisch nicht versteht, und wir verstehen die dort gesprochene Sprache nicht. Unser Nachbar ist Deutschland. Dieses Land fing zwei große, schreckliche Kriege an, und damit es keinen dritten anfängt, teilte man es für viele, viele Jahre. Zusammen mit dem Land wurden auch viele Familien für diese lange Zeit geteilt. Brüder und Schwestern durften sich jahrelang nicht treffen. Jetzt werden sie sich wieder sehen können.“
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob eine Familien teilende Mauer eine ausreichende Strafe für zwei schreckliche Kriege ist. „Was heißt eigentlich ‚schreckliche Kriege‘?“, überlegte ich. „Ah ja, die Oma erzählte mir einmal, nachdem sie mir das Märchen ‚Tischlein deck dich‘ erzählt hatte, wie sie ihre Schenkel mit Schinkenscheiben umwickelte und diese nach Warschau schmuggelte. Und wie ein Soldat sie deswegen fast erschoss. Da kam dieses Wort Krieg vor. Jemanden für Schinken zu töten? Wie schmeckt eigentlich Schinken? Oma steht beim Metzger stundenlang Schlange und bringt nur Bockwürste mit nach Hause. Vielleicht war dieser Soldat auch neugierig, wie Schinken schmeckt? Auf jeden Fall lebt meine Oma immer noch, das heißt er tötete sie nicht. Dann reicht es vielleicht schon mit dieser Strafe?“, analysierte ich weiter. „Mutti!!! Heißt es, dass wir jetzt den dritten Krieg haben werden?!“
„Armutskapitalismus“
Ich komme aus dem Land, in dem die Großeltern uns außer der Märchen über Rotkäppchen oder Aschenputtel wundersame Überlebens- und Schauder-Geschichten aus dem KZ erzählten. Ergänzt wurde diese „Ausbildung“ in der Zeit meiner Kindheit um die musikalische Untermalung des Ereignisses, das später zum Mauerfall führte: die Erkennungsmelodie von Solidarność. Später, als ich schon eine erwachsene Frau war, erfuhr ich, dass genau die Streiks an der polnischen Küste zu einer gewissen Faszination mit meiner Heimat im Ausland Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre führten. Einige motivierte diese Faszination dazu, polnische Geschichte zu studieren.
„Ich komme aus dem Land, in dem die Großeltern uns außer der Märchen über Rotkäppchen oder Aschenputtel wundersame Überlebens- und Schauder-Geschichten aus dem KZ erzählten.“
Polen sonnte sich jahrelang in dem glamourösen Licht des Vorzeigelandes, das schnell und „clever“ neue wirtschaftliche und ökonomische Reformen durchführte. In Tabellen und Statistiken haben sie vielleicht gut ausgesehen; laut gesagt wurde damals jedoch nicht, was für einen Preis die Gesellschaft für ihre Durchführung zahlte. Den Geschmack des so genannten „Balcerowicz - Plans“1 habe ich bis heute in Erinnerung: Bockwürste, Quark, Quark und wieder Bockwürste, weil sie am billigsten waren. Sogar zur Zeit des Sozialismus aßen wir abwechslungsreicher. Nur ein Tag im Jahr schmeckte nach der neuen kapitalistischen Ära: Es war DER Tag im Jahr, an dem wir Joghurt zum Nachtisch hatten. Der Joghurt machte den Tag zu einem besonderen Tag im ganzen Jahr. Häufiger ging es nicht, sich solche „speziellen“ Tage zu organisieren. Es war einfach zu teuer.
Die Jahre sind verlaufen, die Ökonomie stabilisierte sich. Die eng geschlossenen Gürtel und hochgekrempelten Ärmel des polnischen Volkes zeitigten Effekte: Das Leben begann langsam, einfacher zu sein. Die Menschen, die das Zeug zum Geldmachen hatten, bauten inzwischen Imperien, mafiöse Institutionen kämpften um ihre Einflussbereiche und irgendwann konnte sich auch der einfache Bürger endlich einen Urlaub im zur Zeit des Sozialismus so ersehnten Westen leisten. Dass er nicht wusste, wie er sich dort stilvoll zu benehmen hatte, war eine andere Sache. Fünf, zehn oder vierzehn Tage lang konnte er sich einbilden, er sei ein Krösus wie die Protagonisten aus den Filmen über die Neureichen.
„Geld“, das war das magische Wort der 90er Jahre. Alles drehte sich ums Geld. Die ganze Volkskraft wurde für die Entwicklung einer neuen Wirtschaft aufgebracht. So unterminierte man Schritt für Schritt die Form einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in Polen aus wirtschaftlicher und politischer Not zur Zeit des Sozialismus entwickelt hatte. Am 1. Mai 2004 kam der große Tag des Beitritts Polens zur EU. Die Oberhand gewannen immer mehr große Städte, weil sie alles das symbolisierten, was für die Neue Zeit stand, den neuen Lebensstil wie in „Sex in the city“; Modegeschäfte, in denen man sich nach den neuesten Trends stylen konnte, später kamen noch der exquisite Kaffee von Starbucks und Frühstücksangebote in Cafés hinzu.
„‚Geld‘, das war das magische Wort der 90er Jahre. Alles drehte sich ums Geld.“
Polen mit der Bürgerlichen Plattform an der Spitze machte seit 2007 eine besonders gute Figur im Ausland. Diese Partei vertrat nach Außen das Bild eines sich schnell modernisierenden Landes, das sich dem westlichen Lebensstil anpasste. Nur im Inland führte die „gefühllose Politik der Technokraten“, wie man den Weg dieser Partei wahrnahm, Schritt für Schritt zu einer Spaltung der Nation. Menschen, die zu der neuen Ordnung nicht passten, bzw. die sich in ihr nicht zurechtfinden konnten, wurden von der von Balcerowicz‘ Idee angesteckten und nur auf die modernen Trends eingestellten Regierung zu einem gewissen Grad übersehen. Der blinde Glaube an den „homo oeconomicus“, welcher von der Tusk-Regierung propagiert worden ist und den auch die EU guthieß, ließ diese beiden Akteure blind werden für die Tatsache, dass sich in Polen infolge des wilden Kapitalismus in der Zeit der Systemtransformation eine Form des „Armutskapitalismus“2 entwickelte. So begann der früher so begehrte Westen Teile der polnischen Bevölkerung langsam zu ärgern. Die Bombe begann zu ticken und es war die EU, die 2015 an ihrem Zünder zog. Getroffen von einigen Splittern reibt sie sich jetzt verwundert die Augen, was da wohl im eigenen Hintern sticht.
Gegenseitiges Unverständnis
Bevor Polen 2004 der EU beitrat, gab es im Land eine große Kampagne und Tausende Bildungsinitiativen, die dem Volk die EU und ihre Idee näherbringen sollten. Stark betont wurde dabei, was für eine große Rolle die Kultur und das gegenseitige Verständnis für die Geschichte der jeweiligen Partnerländer in der europäischen Gemeinschaft spiele. Hunderte bunter Broschüren versicherten den Osteuropäern, dass ihre Kultur und Traditionen durch den EU-Beitritt auf gar keinen Fall gefährdet würden. Wie ernst diese Bereiche tatsächlich im Raum der EU wahrgenommen werden, zeigt sich an dem Stellenwert, der dem Geschichtsunterricht der EU-Länder und der EU selbst eingeräumt wird. In den westlichen Ländern der EU weiß man oft nichts über Tschechien oder Bulgarien, und wenig über Polen. Ungarn wird als Teil der ehemaligen k.u.k. Monarchie wahrgenommen und die baltischen Länder sind für viele ein Konglomerat von irgendetwas, das eigentlich russisch ist.
In den meisten osteuropäischen Ländern pflegte man zumindest bis zu der Übernahme der westlichen Schulbildungsmodelle eine Ausbildung, in der man chronologisch die Geschichte Europas lernte. Perfekt war dies auch nicht, weil dabei oft die Zusammenhänge zwischen den historischen Ereignissen und der Gegenwart fehlten. Man hatte jedoch eine gewisse Ahnung vom historischen Erbe einzelner Nationen. Das Bologna-System, das zu einer Bildungsunifizierung in Gesamteuropa führen sollte, hat letztlich nur noch den Status der geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere solcher wie Geschichte, Kulturwissenschaft, Philosophie, verschlimmert. Akademiker aus verschiedenen EU-Ländern werfen nämlich seit einigen Jahren dem Bologna-Modell vor, dass in ihm das Wissen, das man in der Wirtschaft nicht praktisch anwenden kann, keinen großen Wert habe.3
„In den westlichen Ländern der EU weiß man oft nichts über Tschechien oder Bulgarien, und wenig über Polen.“
Ob es tatsächlich nur an dem Bologna-System liegt oder ob das Problem seinen Ursprung schon in den ersten Bildungsjahren hat, mag dahingestellt bleiben. Fakt ist: Die EU bildet keine weltneugierigen, mit großem Allgemeinwissen ausgestatteten Menschen aus, sondern kleine Zahnrädchen, die ihre Funktion in der wirtschaftlichen Maschinerie erfüllen sollen. Im Endeffekt leben wir in einer europäischen Gemeinschaft, in der wir außer der benötigten Informationen für ein interessantes Urlaubsziel nur wenig voneinander wissen. Noch erschreckender ist der Fakt, dass ein durchschnittlicher EU-Bürger oft nicht versteht, warum er sich tiefgründiger mit der Geschichte und der Kultur der anderen EU-Partner auseinandersetzen solle. Später werden genau aus diesen Reihen Menschen rekrutiert, die die EU lenken. Ihre Ignoranz dieser so unprofitablen Themen kann sie dann sehr teuer zu stehen kommen: politisch und wirtschaftlich.
Die Form der Forderungen an die osteuropäischen Länder im Jahr 2015, auf die sogenannte „Flüchtlingswelle“ zu regieren und flüchtende Menschen aufzunehmen und die damit verbundenen Androhungen von Strafen, sollten sie sich dem verweigern, sorgte nur dafür, dass die EU in Osteuropa die Geister der Vergangenheit weckte. In Polen passierte dies ferner zu einem äußerst ungünstigen Moment, nämlich kurz vor den Parlamentswahlen. Somit schlug die EU einen letzten Nagel in den Sarg der damals regierenden Bürgerlichen Plattform.
Verärgert darüber, dass die osteuropäischen Partner nicht mitspielten, steckte Westeuropa sie alle in einen Sack und versah diesen dann mit dem Etikett „postkommunistische Spinner“. Der Schlüssel zur Lösung dieser aufgeheizten Situation war allerdings in der Tat die als „nicht systemrelevant“ eingestufte Geschichte. Jede Nation ist ein Produkt ihrer Geschichte. Was man jedoch in Westeuropa über die Geschichte Polens rekapitulieren kann, ist etwas über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, Polens spätere Zugehörigkeit zum europäischen Ostblock, und, positiv wahrgenommen, Johannes Paul II. und Solidarność.
„Das Ermahnen Polens seitens der westeuropäischen Länder 2015, wie unsolidarisch es sich doch benehme, indem es die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnte, öffnete letztlich nur alte historische Wunden.“
Genau auf diesen Begriff „Solidarität“ berief sich 2015 die EU. Letztendlich zeigte doch Polen 1989, wie solidarisch es sein kann. Der erfolgreiche Kampf von Solidarność, der ein wichtiger Beitrag zum Mauerfall war, hatte seinen Ursprung in den Streiks der polnischen Werftarbeiter an der Küste in den 1980er Jahren. Das Ermahnen Polens seitens der westeuropäischen Länder 2015, wie unsolidarisch es sich doch benehme, indem es die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnte, öffnete letztlich nur alte historische Wunden. Die vertraglich Verbündeten in Westeuropa hatten 1939 zugesehen, als das Land überfallen wurde. Am Ende des Krieges lieferten die Alliierten Polen kaltschnäuzig an Stalin aus, obwohl viele polnische Soldaten mutig um die Freiheit auch dieser westlichen Länder kämpften.
Auf einmal wollte Brüssel Polen seinen Willen aufzwingen, wie es fast 45 Jahre Moskau tat. Und es wurde von Polen als Zwang empfunden, dass diese Flüchtlinge an den Errungenschaften seines so mühevollen Wiederaufbaus der eigenen Wirtschaft partizipieren sollten. Denn während die EU sich u.a. der Rhetorik bediente, nach der Polen sich lediglich die Rosinen an den Vorteilen der europäischen Gemeinschaft heraussuche, kamen in der polnischen Gesellschaft vor allem die Erinnerungen an die eng geschlossenen Gürtel und der Geschmack von Bockwürsten und Quark in der Wendezeit auf.
Dass auch die Hinweise auf den im polnischen Alltag tief verankerten Katholizismus, vor allem auf die Tugend der Nächstenliebe, nicht helfen konnten, war kein Wunder für die Menschen, die im Gegensatz zu diesen Hinweisen eher auf die historischen Ereignisse aus dem 17. Jahrhundert zurückgriffen: 1683 hielt der polnische König bei Wien den Vormarsch des Osmanischen Imperiums in seinem Marsch auf Europa auf. Es ist eines der bekanntesten Ereignisse in der polnischen Geschichte, durch das sich viele Polen bis heute definieren: als Retter des Christentums in Europa.
„1683 hielt der polnische König bei Wien den Vormarsch des Osmanischen Imperiums auf. Viele Polen definieren sich bis heute als Retter des Christentums in Europa.“
Den Kampf um die Aufnahme der Flüchtlinge hätte die EU allerdings gewinnen können, hätte sie diese Partie anders gespielt und stärker auf die Tausenden von polnischen Flüchtlingen hingewiesen, die während der Kriegszeit und während des Sozialismus in den verschiedensten Ecken der Welt ein Obdach gefunden hatten. Aber dazu hätte man wieder genauer die Geschichte des Partners kennen müssen. Stattdessen entschied man sich für eine Rhetorik, die in den Augen eines durchschnittlichen polnischen Bürgers einen Angriff auf die zwei polnischen Nationalheiligtümer bedeutete: auf die Heimat und die Religion – Begriffe, über die sich das polnische Volk spätestens seit den polnischen Teilungen definiert.
Kurzum: An Polen wurden kosmopolitische Erwartungen der gegenwärtigen globalisierten Welt gestellt, die das Land nicht imstande war zu erfüllen, weil es in der Vergangenheit von der Geschichte keine Zeit bekommen hatte, den in den Augen seiner Partner als veraltet wahrgenommenen Begriff von Heimat zu modifizieren und ihn an die gegenwärtige Zeit anzupassen. Polen ist wie eine mehrfach vergewaltigte Frau, die ihr Trauma immer noch nicht verarbeiten konnte. Ein Wort, eine Geste sorgen dafür, dass alte Bilder wieder lebendig werden und die Geister der Vergangenheit wieder auftauchen.
Kommende Generationen in Polen erhalten seit fast 300 Jahren einen Teil dieser Ängste als Erbe, jedoch keinen ausreichenden Zeitraum dafür, um sich mit diesem Erbe auseinanderzusetzen und es endgültig zu verarbeiten. In jeder Konflikt- oder Gefahrensituation werden diese Ängste zu Reliquien, die auf den Nationalaltar gestellt werden. Das Volk kniet vor diesem Altar und dann greift es zur Waffe, auch wenn dies, wie im Falle des Warschauer Aufstandes, Selbstzerstörung bedeutet. Für einen Außenstehenden mag dies nicht besonders logisch erscheinen, für die Mehrheit der Polen erscheint diese Vorgehensweise jedoch als bessere Lösung als ein „fremdes Diktat“.
„Polen ist wie eine mehrfach vergewaltigte Frau, die ihr Trauma immer noch nicht verarbeiten konnte.“
Ein Partner, der nur noch nervt
Und was tat die EU? Anstatt ihre Rhetorik zu ändern, wiederholte sie ein und denselben Fehler exakt vor den nächsten Parlamentswahlen in Polen. Sie begann wieder damit, die aufmüpfigen Brüder und Schwestern hinter der Oder zu belehren und ihnen mit einer Aufnahmequote für Flüchtlinge zu drohen. Im Endergebnis trug sie somit entschieden dazu bei, dass sie jetzt einen Partner am Hals hat, der nur noch nervt. Er nervt zum Thema „Justiz“, er nervt zum Thema „Menschenrechte“, er nervt zum Thema „Klimaschutz“, und zum Schluss trieb er zusammen mit Ungarn alle anderen EU-Partner in den Wahnsinn mit seinem Veto gegen den Corona-Hilfsfond.
„Wir leben in Polen, aber in der Welt gibt es noch viele andere Länder. Fremde Länder erkennt man dadurch, dass man dort Polnisch nicht versteht, und wir verstehen die dort gesprochene Sprache nicht.“ Jetzt, nach 30 Jahren, verstehe ich als diplomierte Übersetzerin mit vieljähriger Berufserfahrung den wirklichen Sinn dieser Aussage. Um die Sprache des Gesprächspartners begreifen zu können, reicht es nicht aus, nur die Bedeutung der Vokabeln der Fremdsprache zu beherrschen. Ohne den historischen und kulturellen Hintergrund unserer EU-Partner werden wir den gemeinsamen Wagen, in dem wir alle sitzen, hin und wieder gegen die Wand fahren.
Vor fünf Jahren wechselte Polen diesen Wagen gegen ein Pferd aus dem 19 Jahrhundert, und seitdem organisiert es Turniere mit einem Säbel in der Hand gegen die EU. Solche kleinen Spektakel der jetzigen Regierung sind für das gemeine Volk gemacht, um die Notwendigkeit ihrer weiteren politischen Existenz vor den eigenen Wählern zu rechtfertigen. Sie bedient sich für ihren Kampf um die Macht einmal mehr der Rhetorik, die erfolgversprechend ist angesichts des historischen Traumas der gesamten polnischen Nation. Aber jetzt, wo das ursprüngliche Thema der Flüchtlinge im öffentlichen Raum nicht mehr so präsent ist, muss man sich einen Ersatz dafür schaffen. Als „fremd“ werden also alle eingestuft, die gegen das Bild der „heiligen polnischen Familie“ auftreten: Frauen, die um das Recht zur Abtreibung kämpfen, und Mitglieder der LGBT-Gruppen oder Menschen, die sich gegen die „heilige Heimat“ wenden, Kirchengegner, Personen, die den polnischen Antisemitismus und Rassismus anklagen und vor allem diejenigen, die eine andere Auffassung vertreten als die Regierung und somit ihre Gegner sind.
„De facto ist nicht Polen das Problem. Das tatsächliche Problem ist die Unterminierung des humanistischen Gedankens der EU.“
De facto ist nicht Polen das Problem. Sein Pferd ist hölzern und beginnt langsam zu modern. Die polnische Gesellschaft nimmt zurzeit an dem Crashkurs „Befreiung von alten Traumata“ teil. Die jetzigen Frauenproteste und der Kampf der LGBT-Gruppen führen zu einem der schnellsten Prozesse von Säkularisierung, den es jemals in Europa gegeben hat, und bilden somit den ersten Schritt zum Umbau des polnischen „Nationalaltars“. Das tatsächliche Problem ist die Unterminierung des humanistischen Gedankens der EU, die sich mittlerweile als etwas mehr als nur eine wirtschaftliche Gemeinschaft verstehen will. Ohne diesen Gedanken wird sie immer wieder Kommunikationsprobleme haben, die zu neuen Konflikten und Spaltungen führen werden.
Für wie „systemrelevant“ die Entwicklung dieses Gedankens gehalten wird, zeigt am besten die gegenwärtige Krisenlage in der Pandemie. Die Kulturbranche gehört zu den Lebensbereichen, die während der Lockdowns gleich geschlossen wurde und als eine der letzten wieder geöffnet wird. Hierbei gab es selbst keinen Versuch der Erklärung dafür, warum Museen und Galerien gefährlicher sein sollten als Baumärkte. Niemand bemühte sich um eine Antwort, warum Theater, wo man in Abständen und mit FFP2/3-Masken hätte sitzen können, eine größere Gefahr darstellen sollen als Mode-Boutiquen, in denen man Klamotten anprobieren darf. Die Antwort auf solche Fragen ist einfach: Der Konjunktur der Wirtschaft wird eine höhere Priorität eingeräumt als allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, und dies trotz der hoffnungsvollen Aussagen aus den ersten Pandemiemonaten, den Menschen gäbe diese Situation die Chance, umweltbewusster zu handeln. Wie immer bedeckte eine schöne Fassade das wahre Gesicht des Systems, in dem wir leben und in dem es für den humanistischen Gedanken wieder keinen adäquaten Raum gibt. Auch die Bildung bekam in der Pandemie den Status „systemrelevant“, allerdings vor allem deswegen, damit die Eltern wieder vollständig wirtschaftlich einsatzfähig sind und weil sie in großen Maßen belastet waren durch die Schulschließungen und die damit einhergehende 24-Stunden-7-Tage-Betreuung ihrer Kinder.
„Philosophie, Kunst und Kultur spielen in der Gesellschaft eine kaum zu überschätzende Bildungsrolle. Wer dies nicht versteht, wird dafür bezahlen müssen.“
Die hier erwähnten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sind u.a. eine Konsequenz der Tatsache, dass die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder der EU nicht auf eine Pandemie vorbereitet waren, und dies obwohl seit ca. 20 Jahren Wissenschaftler hunderte Simulationen zu den Risiken einer Pandemie durchführten und auf die fehlende Vorbereitung der Staaten hinwiesen. Trotz der Aufrufe, sich entsprechend vorzubereiten, gab die EU ihren Mitgliedstaaten in den Jahren 2011 bis 2018 63 Mal die Empfehlung, die öffentlichen Ausgaben für ihre Gesundheitssysteme zu kürzen bzw. ihre Privatisierung oder ein Outsourcing ihrer Dienste durchzuführen.
Wie solch eine auf lediglich ökonomischen Prinzipien basierende Strategie den Menschen auf die Füße fallen kann, zeigt die jetzige SARS-CoV-2-Pandemie besonders deutlich. Ähnlich wie man auf die Wissenschaftler nicht gehört hatte, die vor einer Pandemie warnten, überhört man in der EU auch zu gerne den Aufruf danach, die Bildung von dem neoliberalen Prinzip zu befreien. Philosophie, Kunst und Kultur sind Güter, welche in enormem Maße große gesellschaftliche Veränderungen beeinflussten. Mit ihnen verarbeiten wir die Vergangenheit, analysieren die Gegenwart, stiften den gegenseitigen kulturellen Austausch und zu der Entwicklung von demokratischen Haltungen an. Sie spielen in der Gesellschaft eine kaum zu überschätzende Bildungsrolle. Wer dies nicht versteht, wird dafür bezahlen müssen.
Einer der Preise, die für die Versäumnisse in dieser Hinsicht bezahlt werden, wird immer wieder die mangelhafte Kommunikationskompetenz in einer Union sein, die mehrere Partner von unterschiedlichen Mentalitäten, Erfahrungen, Ängsten, Errungenschaften, Bedürfnissen usw. in sich vereint. Diese Unfähigkeit wird immer wieder in Rechnung gestellt werden und die EU wird immer wieder stolze Reiter auf hölzernen Pferden erleben und sich nach wilden Reitduellen mit ihnen neue Stacheln aus ihrem Hintern ziehen lassen müssen. Noch schlimmer wird die ganze Geschichte enden, wenn die immer mehr Raum einnehmende neoliberale Ordnung zu einem Trojanischen Pferd wird, das die auf den Ruinen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Idee von einer neuen besseren Welt in die Luft sprengt.