01.09.2003

Der Schwindel von der “giftigen Zeitbombe”

Kommentar von Michael Breu

Die Pharmaindustrie katapultiert von Naturärzten, Konsumenten- und Patientenorganisationen: Seit vier Jahren verschwindet "Thiomersal " aus den Impfstoffen. Grundlos, meint Michael Breu.

Heute ist es eine Seltenheit, wenn in einer Impfampulle Spuren der quecksilber-organischen Verbindung Thiomersal zu finden sind. Das in den frühen 1930er-Jahren  als Bakterizid und Fungizid zugelassene Natriumsalz der 2-Ethylmercuriothio-Benzoesäure wird seither unter den Markennamen „Thiomersal“ und „Thimerosal“ als Konservierungsmittel eingesetzt. Zuerst wurde es in großen Mengen allen möglichen Produkten beigefügt, später wurde die Dosis stetig reduziert und das Anwendungsgebiet auf Impfstoffe und Augentropfen konzentriert. Grund: Die Herstellung dieser Produkte ist inzwischen hygienischer, ein Konservierungsmittel nur noch in Spuren nötig.

Bei den Augentropfen ist Thiomersal bis heute kaum umstritten. Ganz anders bei den Impfstoffen. „Jeder Stich eine Portion Quecksilber“, titelte etwa der Pulstip im März 1999, und Naturärzte berichten von einer „giftigen Zeitbombe“, die sich im Körper anreichere und ihn gewaltig schädige. So wird behauptet, Thiomersal löse Allergien aus, sei für Multiple Sklerose, Alzheimer und Parkinson verantwortlich oder verursache Depressionen.

Nach heutiger Kenntnis sind diese Vorwürfe nicht haltbar. „Die Sicherheit von Thiomersal ist gewährleistet. Es gibt bis heute keinen Hinweis auf Giftigkeit oder auf mögliche Schädigungen am zentralen Nervensystem“, tat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2002 nach einem internationalen Expertenmeeting kund. Dieser Meinung schlossen sich auch das Schweizer Bundesamt für Gesundheit, das Deutsche Bundesamt für Sera und Impfstoffe des Paul-Ehrlich-Instituts, der britische National Health Service und die European Agency for the Evaluation of Medicinal Products an.

Obwohl es weltweit kein Gesundheitsinstitut gibt, das die Anwendung von Thiomersal in Frage stellt, beschlossen Experten der US-Food and Drug Authority und der Impfstoffhersteller im Juli 1999, Thiomersal langfristig vom Markt zu nehmen. Seit Mai 2000 sind deshalb die meisten der klassischen Impfstoffe frei von Thiomersal; dazu gehören Stoffe gegen Diphtherie-Tetanus-Pertussis (DiTePer), Masern-Mumps-Röteln (MMR), Frühjahr-Sommer-Meningoenzephalitis (FSME), Cholera, Tuberkulose oder Typhus. Das gilt auch für Deutschland: „Impfstoffe, für die in den letzten Jahren eine Zulassung beantragt wurde, enthalten fast ausnahmslos kein Thiomersal“, schreiben die Verantwortlichen des Paul-Ehrlich-Instituts und weisen darauf hin, dass entgegen anderer Behauptungen auch Thiomersal-freie Vier-, Fünf- und Sechsfachimpfstoffe auf dem Markt erhältlich seien.

Was ist giftiger: Spielsand, Dosenfisch oder eine MMR-Impfung?

„Der Verzicht ist kein Eingeständnis, dass Thiomersal schädlich ist“, betonen Margaret Burgess und Raina MacIntyre von der Universität in Sydney; er erfolgte vielmehr „aus Sicherheitsüberlegungen“.

Ein Blick in die Fachliteratur zeigt: Zu Thiomersal wurde reichlich publiziert. Die Arbeit von Michael E. Pichichero, Elsa Cernichiari und John Treanor (alle von der New Yorker University of Rochester) und Joseph Lopreiato (vom National Naval Medical Center in Bethesda) ist eine der letzten, die im Fachmagazin The Lancet erschienen ist (Vol. 360, S.1737). Das Ärzteteam untersuchte, wie stark der Körper von Säuglingen nach der Verabreichung von fünf Impfungen belastet und wie das Thiomersal ausgeschieden wird. Das Resultat ist keine Überraschung: Der Quecksilbergehalt überschreitet kurzfristig den von der WHO festgelegten Richtwert, nimmt dann aber innerhalb einer Woche rapide ab. Eltern können mit solchen Aussagen wenig anfangen, denn Kleinkinder bekommen die ersten Impfungen gestaffelt ab dem dritten Lebensmonat. Interessanter ist die Rechnung von Margaret Burgess: „Verabreichte man gleichzeitig alle Impfungen, die ein Kind in den ersten sechs Monaten erhält, würde der Richtwert der WHO nur minimal überschritten. Dieses Vorgehen entspricht aber nicht der Realität.“

In der Natur kommt Quecksilber in den verschiedensten Gesteinen vor. So enthält auch Spielsand geringe Mengen des Schwermetalls. Im Sandkasten kommt ein Kind immerhin mit etwa einem Zehntel einer Thiomersal-Impfung in Kontakt – oft täglich. Auch viele Lebensmittel enthalten Spuren von Quecksilber; eine Dose Thunfisch entspricht etwa sechs bis zehn Impfungen. Doch Vorsicht: Der Vergleich hat einen Fehler. Bei Homöopathika und dem Spielsand handelt es sich um anorganisches Quecksilber, beim Thunfisch um Methylquecksilber. Beide Stoffe werden vom Körper deutlich besser aufgenommen und schlechter abgebaut als Thiomersal und gelten gemäss WHO schon viel eher als Problemstoffe, sind also sogar problematischer als Thiomersal. Dennoch: Sie können beruhigt weiterhin Thun essen und Ihre Kinder im Sandkasten spielen lassen.

All das kümmert die Naturärzte, Konsumenten- und Patientenorganisationen wenig. Jede Impfung sei eine „geballte Ladung Quecksilber fürs Baby“, behaupten sie und glauben, die Pharmafirmen hätten heimlich dem Thiomersal einen neuen Namen gegeben. Absurd findet das die Ärztin Claire-Anne Siegrist vom Genfer Universitätsspital: „Die Gesetzgebung verlangt, dass alle Bestandteile von Impfstoffen in der Packungsbeilage erwähnt werden.“ Quecksilberverbindungen müssten deshalb einfach erkennbar sein. Ein Blick auf die Datenbank „Pharmavista“ beweist zudem: Für 2-Ethylmercuriothio-Benzoat wurden keine neuen Namen zugelassen.

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