01.09.2000

Der New Economy fehlt die Perspektive

Essay von Phil Mullan

Auf der Suche nach der New Economy findet Phil Mullan hinter dem Schleier von Trubel und Jubel über E-Commerce und E-Business nur eine stagnierende Wirtschaft.

Alles scheint dafür zu sprechen, dass wir in einer schönen neuen Wirtschaftsordnung leben. Um Neuigkeit zu demonstrieren, wird an alles heute ein ”E” angepappt: E-Business, E-Commerce, manche sprechen von der neuen E-conomy. Selbst der drastische Fall der Werte des neuen Marktes, unlängst, vor allem im so genannten TMT-Bereich für Medien und Telekommunikation, bremste die Begeisterung für die New Economy kaum. Obwohl die Werte auf den neuen Märkten, die im NASDAQ, dem Techmark 100 und dem Nemax gehandelt werden, wild hin und her schwanken, sehen die meisten Wirtschafts- und Finanzanalysten die Wirtschaftswelt als zweigeteilt in Alte Wirtschaft und New Economy.

Die Entwicklung des Internets – genauer: des World Wide Web – in den letzten fünf Jahren verkörpert für viele die neugewonnene Dynamik der Marktwirtschaft. Die Hälfte aller Amerikaner benutzt das Netz mittlerweile regelmäßig. Nach Schätzungen der NUA Internetstudie lag im März 2000 die Anzahl der Internet-Nutzer weltweit bei über 330 Millionen. Nach Kontinenten unterteilt ergeben sich dabei enorme Unterschiede: Afrika 2,77 Mio., Asien/Pazifik 75,5 Mio., Europa 91,82 Mio., Mittlerer Osten 1,90 Mio., Kanada und USA 147,48 Mio., Lateinamerika 13,19 Mio.
Auch zwischen europäischen Ländern gibt es große Differenzen. Nutzen etwa in Dänemark rund 34 Prozent der Bevölkerung das Internet, sind es in Spanien noch nicht einmal 8 Prozent. Nach neuesten Schätzungen werden Ende 2000 17,9 Millionen Briten und 19,1 Millionen Deutsche das Netz nutzen. Im kommenden Jahr werden Breitbandanbindungen diesen Trend noch verstärken.

Viel leichter kann man nun mit Freunden in Kontakt bleiben, die Kinder können das Netz für die Hausaufgaben nutzen und Informationen ohne Zahl lassen sich schnell finden. Warum noch auf die Zeitung von morgen warten, wenn man heute schon die Notierung seiner Internetaktien im Netz abrufen kann? Über 5 Millionen Menschen haben schon im Netz eingekauft. Bald wird es ein ganz normales Medium des Kaufens und Verkaufens sein. Wo anfangs der Einkauf im Netz noch aufregend war, wird dieser Vorgang schon bald eine ganz stinknormale Version des Shoppings sein.

Fast alle Unternehmen sind in diese neue Form des Wirtschaftens eingestiegen. Will man nicht als Maschinenstürmer oder als spinnert und verkalkt gelten, muss man als Unternehmer ins Netz. Über die Fälle derjenigen, die sich weigern, schütteln Unternehmensberater besorgt die Köpfe.

Das Internet wird nicht mehr allein fürs Marketing genutzt, es wird immer mehr zum virtuellen Laden. Zwar sorgte der Zusammenbruch des E-Shops boo.com kurzfristig für Zweifel, aber alle Analysten gehen davon aus, dass der Kauf von 50 Prozent aller Güter, bei deren Erwerb der Augenschein eine untergeordnete Rolle spielt – beispielsweise Bücher, CDs, Finanzdienstleistungen, Konzertkarten und Flugtickets – schon bald übers Netz abgewickelt werden. Waren wie Software, Musik und Filme, die digitalisiert werden können, lassen sich sogar elektronisch ausliefern. Auch in diesem Bereich wird der E-Commerce bald einen Anteil von mindestens 50 Prozent erreichen.

Auch in der Werbung ist die New Economy unübersehbar. Sah man auf Plakaten noch vor kurzem Telefonnummern und Anschriften, so sind es heute fast nur noch www-Adressen. Firmen wollen so zum einen zeigen, dass sie dynamisch und im Trend sind; zum anderen nutzen sie das Netz als virtuelle Plakatwand und als Kundenzentrum. Das Internet wächst zudem weltweit. Die Zahl der nicht-amerikanischen Internetnutzer übersteigt mittlerweile die Zahl der US-User.

Neuerungen gibt es also genug. Die Frage ist, ob diese Neuerungen etwas grundsätzlich Neues gebracht haben. Die Marktwirtschaft lebt schließlich von beständiger Neuerung, von der neuen Frühjahrskollektion, von neuen Automodellen, neuen Kraftwerken und neuen Medikamenten.

Die Frage, ob wir in einer neuen Marktwirtschaft leben, hätte man in den vergangenen 200 Jahren zu jeder Zeit stellen können – die Kräfte des Marktes haben sich stets gewandelt, vormals dynamische Sektoren wurden häufig von neuen abgelöst. Nie zuvor wurde jedoch eine solche Ablösung als ”New Economy” gefeiert. Heute hingegen ist es ein Gemeinplatz zu sagen, wir hätten das industrielle Zeitalter hinter uns gelassen und bewegten uns rasant in Richtung eines post-industriellen Wissens- und Informationszeitalters. Diese Veränderung wird häufig gleichgesetzt mit der industriellen Revolution.

Warum kam erst in den letzten vier, fünf Jahren die Vorstellung auf, es gebe eine ”New Economy” – oder, wie man anfangs in den USA sagte, eine ”Neue Ära”, ein ”Neues Paradigma”?

Lassen wir die Errungenschaften der Moderne Revue passieren. Die Dampfmaschine, die Eisenbahn, Elektrizität, der Verbrennungsmotor, das Auto, Radio, Fernsehen, Atomenergie, Düsenflugzeuge, der Computer, Gentechnik, Satelliten, Raumfahrt, Transistoren, Halbleiter, das Internet – in seiner ursprünglichen Form, als Netz für die Wissenschaft – der PC, und schließlich, in den letzten Jahren, das World Wide Web: Alle diese Neuerungen haben Gesellschaft und Wirtschaft erheblich verändert.
In keiner der früheren Neuerungen jedoch sah man eine New Economy. Die Behauptung, das Internet stelle einen qualitativen Sprung dar, überzeugt nicht; sie belegt vor allem eines: einen Mangel an historischer Perspektive. Seit langem schon folgten technische Neuerungen Schlag auf Schlag. Neue Technik hat, zusammen mit dem allgemeineren Fortschrittsdrang der Menschheit, das Geschehen der letzten 200 Jahre bestimmt.

“Die nähere Vergangenheit war, was Wandel und Dynamik angeht, erstaunlich schwach.”

Stellt sich die Frage: Wenn sich an der Tatsache des technischen Fortschritts und der Erfahrung ständigen Wandels nichts geändert hat, was hat sich dann getan, dass eine technische Neuerung heute zum Boten einer ganz neuen Wirtschaftsform erklärt wird? Da die meisten Menschen glauben, heute eine Zeit besonders fulminanten Wandels zu durchleben, klingt die Antwort auf den ersten Blick widersinnig. Anders als angenommen waren die letzten Jahre jedoch kein sich ständig beschleunigender Strudel von Veränderungen. Die nähere Vergangenheit war, was Wandel und Dynamik angeht, erstaunlich schwach. Was immer die Neuen Ökonomen auch behaupten, in den 90er-Jahren hob der Fortschritt nicht ab wie ein interstellares Raumschiff, sein Fortkommen glich eher dem des Transrapid.

Materielle Veränderungen sind demnach gar nicht die Grundlage des heute weit verbreiteten Gefühls, wir durchlebten eine Zeit revolutionären Wandels. Dieser Eindruck entsteht vielmehr dadurch, dass bei vielen die sich ändernden wirtschaftlichen und politischen Bedingungen für Verunsicherung sorgen. Im letzten Vierteljahrhundert sind viele weltanschaulichen Zaunpfosten, von denen man glaubte, sie seien für die Ewigkeit, verrottet und zerfallen. In der Politik lösten sich Rechts und Links in eine neue Mitte auf, die Achtung vor Institutionen wie den Kirchen und Parlamenten verschwand gleichermaßen wie das Gemeinschaftsgefühl am Arbeitsplatz oder im Wohnviertel. Solcher Wandel ließ häufig das Gefühl aufkommen, die Welt verändere sich rasant und sei außer Kontrolle geraten.

Das verzwickte Ergebnis ist, dass in einer Zeit, in der sich wenig tut – und sehr viel geschehen müsste, um die Welt zu verändern – Verzagtheit und Furcht vor jedem Risiko vorherrschen. Selbst diejenigen, die im Bereich der neuen Technologien tätig sind, hat diese Verzagtheit ergriffen. Zwar mögen sie selbstsicher einige Neuerungen präsentieren, insgesamt jedoch denken und planen sie kurzfristig, da sie ihren Möglichkeiten und den Chancen der Zukunft nur wenig trauen.

Meine Behauptung, die Wirtschaft käme heute kaum aus den Puschen, mag verwundern. Warnen nicht ständig Banker vor einer Überhitzung der US-Wirtschaft? Erzielt diese derzeit nicht Wachstumsraten, die sich, aufs Jahr hochgerechnet, auf fünf Prozent belaufen? Nehmen wir hier erst einmal Abstand vom Treiben der Internetbranche und schauen uns den Zustand des gegenwärtigen Wirtschaftssystems insgesamt an. Tun wir dies, so wird schnell klar, dass das Wachstum alles andere als dynamisch verläuft und dass ein Umbau der alten Wirtschaft in eine New Economy alles andere als einfach ist.

“Vielleicht ist die New Economy doch nicht das Licht am Ende des Tunnels?”

Nehmen wir die USA, den Triebkopf des gegenwärtigen New Economy-Booms: Seit Bill Clintons Amtsantritt schien die leichte Rezession der frühen 90er-Jahre wie weggeblasen, die Zahlen zeigten nach oben. Schaut man sich diese Zahlen jedoch im großräumigeren Vergleich an, zeigt jede Statistik, dass die US-Wirtschaft der 90er- mit der der 80er-Jahre nicht mithalten kann – von den Werten der 50er- und 60er-Jahre ganz zu schweigen. Vielleicht ist die New Economy doch nicht das Licht am Ende desTunnel

Inlandsproduktion

Bis Ende 1998 (den neuesten verfügbaren Zahlen) wuchs das Bruttosozialprodukt in den USA weniger als in den 70ern und 80ern, wobei diese beiden Jahrzehnte schon nicht an das jährliche vier- bis fünfprozentige Wachstum der 50er- und 60er-Jahre herankamen. Selbst wenn man das höhere Wachstum des Jahres 1999 mit einrechnet, stellt man fest, dass die 90er das Jahrzehnt mit dem geringsten Wachstum seit 1945 waren. Die gegenwärtige Wachstumsphase mag der längste ”Boom” der amerikanischen Geschichte sein – es ist aber auch der flachste und unproduktivste Boom aller Zeiten. Eine Rezession trat gerade deshalb bislang nicht ein, weil das Schneckentempo des Wachstums die ”Überhitzung” der produktiven Wirtschaft verhinderte. (Der Wasserkopf der Börsen und Finanzmärkte gehört nicht hierher.)


Zunahme der Produktivität
In den 70er- und 80er-Jahren wuchs die Produktivität in den USA im Durchschnitt jährlich nur um ein Prozent. Von diesem Tiefstand hat sie sich seither ein wenig erholt; dennoch sind die Produktivitätszuwächse, die die New Economy verzeichnet, noch deutlich vom dreiprozentigen Wachstum der Nachkriegszeit entfernt. Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg ist die US-Wirtschaft im Durchschnitt pro Jahr um zwei Prozent gestiegen. Seit 1995 betrug der Produktivitätszuwachs pro Jahr ebenfalls zwei Prozent. Das aber ist nicht ungewöhnlich – zwischen 1982 und 1987 stieg die Produktivität pro Jahr gleichfalls um zwei Prozent.

Viele Wirtschaftsexperten in den USA gehen zudem davon aus, dass diese Produktivitätssteigerung wenig mit der Computerisierung und dem Internet zu tun hat. Stephen Roach, Chefanalyst bei Morgan Stanley Dean Witter, geht davon aus, dass der Zuwachs auf kurzfristige Maßnahmen, nämlich die ”Verschlankung” durch den Abstoß von Überkapazitäten und Altlasten, zu erklären ist.

Die Economic Research Group von Goldman Sachs war in ihrem im Februar veröffentlichten Bericht ”The ‚New’ Global Economy” ähnlich skeptisch:”Die Belege für die Hypothese, die Produktivität der US-Wirtschaft habe sich durch die umfassende Anwendung von Informationstechnologie- (IT-)Systemen weitreichend verbessert, sind dünn gesät. Dies könnte sich durch die Ausbreitung des Internet ändern…, bislang zeichnet sich das jedoch noch nicht ab.”

“Die Produktivität der Computerhersteller ist gewachsen, nicht aber die Produktivität der restlichen US-Wirtschaft.”

In dem Bericht wird weiter Robert Gordon von der North Western University, ”der dieses Thema am gründlichsten untersucht hat”, mit den Worten zitiert: ”In den 99 Prozent der US-Wirtschaft, die nichts mit der Herstellung von Computer-Hardware zu tun haben, konnte kein beschleunigtes Wachstum der Produktivität festgestellt werden – keines, das sich nicht durch inflationsbedingte Preiskorrekturen oder normale pro-zyklische Reaktionen erklärt lässt.”

Die Produktivität der Computerhersteller ist demnach gewachsen, nicht aber die Produktivität der restlichen US-Wirtschaft – weder durch den Einsatz von Computern, noch von IT-Systemen, noch durch das Internet.

Schaffung von Arbeitsplätzen

Das ”Jobwunder USA” wird oft gepriesen. Im historischen Vergleich jedoch haben die USA wenig vorzuweisen. Ganz abgesehen von der Qualität der neuen Jobs – über die viel und heftig diskutiert wird – betrug das Wachstum der Arbeitsplätze in den sieben Jahren seit 1992 19 Prozent und damit deutlich weniger als in vergleichbaren Zeiträumen während der 60er-, 70er- und 80er-Jahre.

Unternehmensinvestitionen

Da Verfechter der New Economy die Bedeutung überkommener Wirtschaftsstatistik häufig anzweifeln, sei hier angemerkt, dass die folgenden Zahlen letzten Herbst vom US-Handelsministerium speziell in Hinblick auf die New Economy veröffentlicht wurden. Erstmalig wurde hierbei Software als Investition und nicht als ”laufende Kosten” verbucht. Trotz dieser Umbuchung hinken die Investitionen in den 90er-Jahren denen in den 70er- und 80er-Jahren hinterher. Es ist unumstritten, dass ohne ausreichende Investitionen Produktion und Produktivität nicht nachhaltig wachsen können.

Reines Stammkapital

Die folgenden Zahlen sind noch besser geeignet, potentielles Wirtschaftswachstum zu messen. Sie dokumentieren das akkumulierte Kapital, also das Kapital, das die Basis der Wertschöpfung heute und morgen bildet. Das jährliche Wachstum des investierten Kapitals fiel in den 90er-Jahren auf unter zwei Prozent – und damit stärker als die Investitionen. Der Grund dafür ist, dass ein Großteil der Ausgaben für IT (seinerseits etwa ein Viertel der Investitionen) Ausgaben für Ersatzbeschaffungen sind – ein schöner Beleg dafür, dass die New Economy irgendwie doch existiert. Investitionen in IT unterliegen einem rasanten Wertverlust (man vergleiche hierzu im privaten Bereich die Laufzeit eines PCs mit der eines Kühlschranks oder eines Autos). Das bedeutet, dass viele IT-Investitionen Ersatz sind für Investitionen des Vor- oder Vorvorjahres. Das seinerzeit angeschaffte IT-Material ist damit wertlos geworden. Hier brachte die New Economy sogar eine qualitative Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage, da früher ein höherer Anteil der Investitionen mittel- und langfristigen Wert hatte.

Zusammenfassend kann man anhand der amerikanischen Wirtschaftsdaten der 90er-Jahre sagen, dass die New Economy auf die Wertschöpfung einen geringen oder eher negativen Effekt hatte.

“Der gebannte Kaninchenblick auf die New Economy belegt eine intellektuelle und eine wirtschaftliche Malaise.”

Dem ließe sich entgegenhalten, dass die Dynamik der New Economy erst gerade dabei ist, sich zu entfalten. Ganz abgesehen davon, dass die Propheten der Informations-Technologie dies seit 15 Jahren behaupten, ist schon die Diskussion um die New Economy, so wie sie heute geführt wird, ein Teil des Problems. Das Tamtam um vermeintlich revolutionäre Neuerungen, das an oberflächlichen Phänomenen wie solchen, dass man jetzt Autos im Internet kaufen könne, sich entzündet, verschleiert die wirkliche Wirtschaftslage: Wachstum im Schneckentempo.
Der gebannte Kaninchenblick auf die New Economy belegt eine intellektuelle und eine wirtschaftliche Malaise. Das Gerede über rasante Veränderungen allerorten lenkt uns von der Tatsache ab, dass sich in der wirklichen Welt reichlich wenig bewegt. Entsprechend statisch ist auch die Unternehmenskultur, die sich gerne hinter dem Budenzauber der New Economy verbirgt. Diese Zögerlichkeit der Unternehmen kann sehr wohl dazu führen, dass die Möglichkeiten, die in IT stecken, nur wenig und viel zu spät umgesetzt werden.

Weit verbreitet ist zwar der Glaube, der Fortschritt sei heute besonders rasant und chaotisch. Tatsächlich zeichnet sich die Gegenwart jedoch durch ihren Konservatismus im Hinblick auf Technik aus. Selbstverständlich gibt es nach wie vor aufregende Neuerungen, beispielsweise in der IT, der Bio- oder Nanotechnologie. Die Umsetzung solcher Errungenschaften erfolgt aber sehr langsam und halbherzig. Die Befürchtung ist nicht abwegig, dass neue Technologien im Kokon gefangen bleiben und gar nicht erst so weit entwickelt werden, dass sie Wirtschaft und Gesellschaft transformieren könnten.

Die New Economy wird groß geredet, um die Stagnation zu verdecken. Eine neue Technologie ist eine Sache, ihre tatsächliche Umsetzung und massenhafte Anwendung eine andere. Die Kluft zwischen der Bedeutung der New Economy und einer Rhetorik, die in ihr eine ”Revolution” sieht, zeigt, wie wenig wir heute von der Welt überhaupt noch erwarten.

Ein weiterer Beleg ist die Art, wie ”Veränderung” heute zu einer eigenständigen Kategorie aufgeblasen wird. Früher war ”Veränderung” Alltag in der Marktwirtschaft. Bruce Judson, Autor von Hyperwars, einem Buch über die Internetwirtschaft, bietet ein gutes Beispiel für diese Verschiebung. Er schreibt: ”Tiefgreifende Veränderungen sind der Grund dafür, dass wir in eine neue Ära des Wettbewerbs eingetreten sind.”

Ein scheppernder Gemeinplatz, einer allerdings, der inbrünstig allerorten nachgebrabbelt wird, von Unternehmensberatern zum Beispiel, deren Lieblingssatz immer noch lautet: ”Das Einzige, dessen wir uns heute gewiss sein können, ist der Wandel.” ”Veränderung” und ”Wandel” sind hier zum Subjekt, zur entscheidenden Kategorie geworden. Sie beschreiben nicht einfach mehr den Übergang von einem Zustand in einen anderen. Den entscheidenden Fragen, nämlich ”Was ändert sich eigentlich?” und ”Wie sehr ändert es sich?” wird aus dem Weg gegangen.

Betrachtet man die Welt aus dem Blickwinkel des einzigen Sektors, auf dem sich etwas bewegt, der IT-Branche, dann wird einem die ganze Welt viel dynamischer, rasanter und schwankender erscheinen. Wie wir gesehen haben, haben aber selbst die USA von der ”IT-Revolution” nur wenig profitiert. Da die Wirtschaftslage ansonsten jedoch gar zu düster scheint, richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf den einen, einzigen Bereich, der Bewegung verspricht: auf die IT- und Computerbranche. – Und sie bewegt sich doch?

In der Vergangenheit wurde kaum je eine einzelne Technologie zum Fixpunkt der Gesamtwirtschaft erklärt. Jedenfalls gab es keine Diskussionen über eine New Economy auf Basis der Eisenbahn oder des Telefons. Genau das geschieht heute mit IT und dem Internet.

Durch diese Einseitigkeit verstärkt die New Economy die Stagnation und das kurzfristige Denken in der Wirtschaft noch weiter. Durch die Gegenüberstellung von New Economy und alter Wirtschaft wird das Neue von der Gesamtwirtschaft abgeschnitten. Was aber soll eine neue Technologie nützen, wenn sie nicht die ganze Wirtschaft durchdringt? Elektrizität z.B. wäre wenig hilfreich, gäbe es nur effiziente Energieproduzenten. Genau in dieser Lage befindet sich die New Economy – sie ist ein neuer Sektor, der ziemlich losgelöst inmitten der sonstigen Gesamtwirtschaft steht. Sollte die These von der New Economy diese Trennung noch verstärken, könnten viele Möglichkeiten der neuen Technologien ins Leere laufen.

Werden die traditionellen Branchen als überholt abgeschrieben, als zu passé, um noch einer Investition würdig zu sein, woher soll dann der Bedarf für die neuen IT-Produkte kommen? Wer soll die Technologie der New Economy-Firmen kaufen und anwenden? Dieses Dilemma wird über die Internet-Euphorie gerne vergessen, gerade auch, weil in der Wirtschaft heute kaum noch jemand mehr als zwei Jahre in die Zukunft vorausdenkt.

Die Behauptung, wir lebten in einer Zeit rasanten, wenn nicht gar revolutionären Wandels, verstärkt dieses Denken in kleinen Zeiträumen. Vorausblickende Geschäftsstrategien gelten heute als ziemlich altmodisch und als viel zu begrenzt. Die moderne Parole lautet: ”Nicht planen, handeln.” Und macht das nicht Sinn, wenn einem alle Fachleute erklären, in Kürze hätte sich sowieso alles wieder verändert? Tatsächlich könnte man meinen, dass diese Haltung Innovationen und Experimente fördert. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne längerfristige Perspektive werden die neuen Technologien nie voll genutzt werden können.

Die Marktwirtschaft hat schon immer Neuerungen recht zögerlich umgesetzt. Das Profitstreben macht es notwendig, dass bestehende Investitionen, die auf älterer Technik basieren, erst aufgebraucht werden. Die Einführung neuer Technologien kann dadurch um Jahre hinausgezögert werden. Stehen neue Investitionen an, muss erst klar sein, dass sie auch Gewinn bringend sind – kaum jemand wird ins Blaue hinein investieren. Selbst wenn investiert wird, kann das meist nicht in begrenzten Bereichen geschehen. Auch im Umfeld müssen zahlreiche Veränderungen erfolgen, Veränderungen, die gleichfalls erst auf ihre Profitabilität hin untersucht werden müssen. Das Ergebnis ist: Je höher das Potenzial einer technischen Neuerung, desto mehr muss auch am Umfeld verändert werden, um diese Neuerung zu verbreiten, zu optimieren, sie anzupassen und auf die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft auszubreiten.

Die Elektrizität ist hierfür ein gutes Beispiel. Im anglo-amerikanischen Raum verstrichen 40 bis 50 Jahre zwischen den ersten wirtschaftlich arbeitenden Elektrogeneratoren und der Massenelektrifizierung in den 1920er-Jahren. Lange Zeit gab es neben der Elektrizität noch Dampfmaschinen. Im Schienenverkehr wurden im Westen die letzten Dampfloks erst in den 1970er-Jahren außer Betrieb genommen. Die Erfindung des Elektrogenerators selbst war sozusagen leicht. Bevor er jedoch massennutzbar wurde, mussten in Industrie, Verkehr und Haushalten derart viele Dinge verändert werden, dass eine lange Zeit verstrich. Ältere Anlagen mussten das Ende ihrer Laufzeit erreichen. Straßenzüge, Fabriken und Maschinen mussten neu entwickelt und neu gebaut werden. Organisationsstrukturen mussten sich ändern. All das war ein langer Prozess. Viele Änderungen und Neuerungen mussten erst entwickelt und im Gebaruch erprobt und angepasst werden. Heute stellen sich einem solchen Prozess viel höhere Hürden in den Weg. Wird das Vorausdenken und -planen für Unsinn erklärt, breitet sich ein Konservatismus aus, ein Verharren im Gegenwärtigen. Aus neuen Technologien ist in einer solchen Situation nicht viel zu machen.

Sollten das Internet und die neuen Informationstechnologien auch nur 50 Prozent des Potenzials haben, das die Elektrizität hatte, dann wird die Kurzfristig- und Kurzsichtigkeit des heutigen Denkens und Planens die Umsetzung dieses Potenzials zu einem sehr zähen Prozess machen. In der Wirtschaft wird heute alles höchst kurzfristig gesehen. Zulieferer sollen Just-in-time arbeiten, was zu ständigen Engpässen führt, und Investitionen sollen rasch Profit abwerfen. Selbst bei optimalen Rahmenbedingungen würden die neuen Technologien Jahre brauchen, um sich durchzusetzen. Die hektische Kurzsichtigkeit wird mit großer Sicherheit dazu führen, dass sich viele Versprechungen der New Economy nicht erfüllen. Und die Enttäuschung, die die Folge sein muss, wird den Wandel noch weiter behindern.

Was Not täte, wäre eine grundlegende Debatte darüber, wie die IT Produktion und Dienstleistungen mittel- und langfristig verändern kann – einhergehend mit entsprechenden Experimenten. Nur so ließe sich der Lebensstandard weltweit anheben. Tatsächlich dreht sich die Diskussion aber um diejenigen Neuerungen, die am schnellsten auf den Markt geworfen werden können – meist Dinge, die ganz amüsant, die aber von geringem Nutzen sind. Fast alle viel besprochenen Neuerungen stammen aus den Bereichen des Einkaufens und der Dienstleistungen; mit der Produktion von Gütern haben sie wenig zu tun. Sachen im Netz zu bestellen, sich Börsenkurse und Fußballergebnisse aufs WAP-Handy zu beamen, all das ist ganz nett, und auch der Aibo-Roboterhund ist sicherlich putzig. Unser Leben aber wird durch dergleichen nicht verwandelt, und die Produktion erst recht nicht.

Selbst die Tatsache, dass neuerdings Business-to-Business- (B2B-)Websites mehr Beachtung finden (Websites, auf denen nicht an Kunden verkauft, sondern zwischen Firmen gehandelt wird), hat daran nichts geändert. B2B führt nur einen Wirtschaftstrend der 90er-Jahre weiter: Eine neue Geschäftsidee – oder im Businessspeak: Geschäftsphilosophie – wird entdeckt, gehypt und von einem Heer von Beratern in die Firmen getragen. Kurze Zeit später stellt man fest, dass es das doch nicht war, und – ”Hier geht’s rein” – schwupps kommt das neue Ding. Das ist die Geschichte von Business Process Reengineering, Just-in-time, Outsourcing und Downsizing. All diese Novelties hatten nur ein Ziel, das ”schlanke” Unternehmen, lies: Einsparungen. Bei B2B geht es um eben das. Das Internet wird genutzt, um Kosten bei Absatz und Beschaffung zu sparen. Da es auch hierbei keine längerfristige Planung oder überhaupt ein Konzept gibt, wird es B2B ähnlich ergehen wie den anderen trendy Managementideen. Die Möglichkeiten von IT laufen so ins Leere.

Strategische Ideen für die Verwendung von IT-Systemen findet man selten. Wie viele Firmen haben all ihre Betriebsabläufe rund um CAD-Systeme reorganisiert? Wie viele benutzen IT systematisch für die nächste Etappe bei der Automatisierung ihrer Produktion? Wo werden IT-Systeme eingesetzt, um die Produktivität zu steigern – und nicht etwa nur dazu, zahlreiche Schreibkräfte und Buchhalter abzubauen? Wie viele Firmen benutzen ein Intranet für alle ihre Unternehmensbereiche? Wie viele internationale Firmen greifen auf das Internet zurück, um rund um die Uhr forschen und entwickeln zu können? Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Viel zu wenige.

Hier wird die Kluft zwischen Rhetorik und Realität der New Economy deutlich. Die Wirtschaft braucht heute mehr als ein Re-Branding und einen Corporate Face-Lift. Geringes Wachstum und Kurzsichtigkeit lassen sich nicht durch Neuerungen sprachlicher Art beheben. Ein Anfang wäre gemacht, wenn wir uns von der Polarisierung New Economy vs. Alte Wirtschaft verabschieden würden, von dem Hype um Dotcoms und dem Glauben, alles Neue und Gute müsse aus dem Netz kommen. Es wäre eine veritable Befreiung, wenn wir wieder über die Barrieren sprechen könnten, die Produktion, Handel und Wirtschaft wirklich behindern.

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