01.11.2001

Der Mensch ist kein Tier

Analyse von Kenan Malik

Kenan Malik hält die Annahme, dass Gene, und nicht die Umwelt, die Entwicklung des Menschen prägen, für puren Unsinn. Auch Vergleiche mit der Tierwelt findet er wenig erhellend.

Seit gut einem halben Jahrhundert wird erbittert darüber gestritten, ob menschliches Verhalten von Erbanlagen oder von der Umgebung, in der wir aufwachsen und leben, bestimmt wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in Reaktion auf Rassenkunde, Nazi-Eugenik und den Holocaust, lehnten die meisten Wissenschaftler Theorien ab, die Verhalten mit Erbanlagen in Verbindung brachten. Statt dessen herrschten soziale Erklärungsmodelle vor.

In neuerer Zeit hat sich das geändert. Soziale Erklärungsmuster scheinen immer öfter nur billige Klischees zu sein, die mehr Haltung als Wahrheit ausdrücken. Gleichzeitig haben die Genetik und die Evolutionsbiologie große Fortschritte gemacht. Die Stimmung ist umgeschlagen. Heute gilt menschliches Verhalten nicht selten wieder als angeboren.

Der bislang letzte Schlagabtausch zwischen Vertretern des sozialen und genetischen Ansatzes fand statt, nachdem im Februar 2001 die ersten Ergebnisse des Human Genome Projektes veröffentlicht wurden. Dem aktuellen Stand der Forschung zufolge haben wir nicht, wie zuvor angenommen, um die 100.000, sondern nur ungefähr 30.000 Gene. Unser Genom ist demnach kaum größer als das einer Getreidepflanze; von einer Maus trennen uns zahlenmäßig nur 300 Gene.

Auf die neuen Ergebnisse gab es zwei Reaktionen. Manche meinen, die Tatsache, dass sich unser Genom nur wenig von dem niederer Lebewesen unterscheidet, würde bedeuten, dass der Mensch keine Sonderstellung im Tierreich einnimmt. „Das lehrt uns Bescheidenheit“, meinte Ari Patrinos vom US Department of Energy, der Behörde, die einen Gutteil der Forschungsarbeiten finanziert hat. Warum aber sollte uns dies Bescheidenheit lehren?

Sollten wir nicht eher auf die Tatsache stolz sein, dass wir, obwohl wir kaum mehr Gene haben als die Brunnenkresse, dennoch in der Lage sind, die komplexe Struktur unseres Genoms zu entschlüsseln?

Die zweite Reaktion brachte Craig Venter, der Gründer von Celera, der Firma, die wesentlich am Human Genome Projekt beteiligt ist, auf den Punkt: „Unsere Erbanlagen können unmöglich bestimmen, wer wir sind – dafür haben wir einfach zu wenig Gene.“ Hier wird aus der geringen Anzahl der Gene auf die Existenz des freien Willens geschlossen.

Ein Leitartikel im britischen Observer führte diese Interpretation weiter. Dort hieß es: „Wir sind freier, so scheint es, als uns bewusst war.“ Politisch, so hieß es weiter, wären die neuen Ergebnisse „Balsam für die Linke, mit ihrem Glauben, dass alle, gleich aus welchen Verhältnissen sie stammen, dieselben Möglichkeiten haben. Für die Konservativen hingegen, die gerne an eine herrschende Klasse und die Erbsünde glauben, bedeutet dies eine Niederlage.“

"Sollten wir nicht eher stolz sein, dass wir, obwohl wir kaum mehr Gene haben als Brunnenkresse, dennoch in der Lage sind, unser Genoms zu entschlüsseln?"

Denkt man ein wenig darüber nach, merkt man schnell, dass die Behauptung, weniger Gene bedeuteten größere Freiheit, jeder Grundlage entbehrt. Im Umkehrschluss wären wir, besäßen wir 200.000 Gene, Sklaven unseres eigenen Genoms. Und führt man diese Logik konsequent weiter, gelangt man u.a. zu dem Schluss, dass die Fruchtfliege, die nur halb so viele Gene besitzt wie wir, folglich auch doppelt so frei sein müsse.

Die Tatsache, dass der Observer politischen Trost beim Human Genome Projekt sucht, sagt uns mehr über die Malaise des zeitgenössischen sozialen Denkens als über die Erkenntnisse der modernen Genetik.

In welchem Grad Vererbung menschliches Verhalten prägt, bleibt nach wie vor heiß umstritten. Die Argumente dafür, dass Erbanlagen eine große Rolle spielen, basieren dabei gar nicht auf der Anzahl unserer Gene. Eine wesentliche Quelle dieser Position ist die Zwillingsforschung. Die Bewertung der Ergebnisse von Zwillingsstudien lassen zwar viel zu wünschen übrig, die Interpretation der im Rahmen dieser Studien ermittelten Daten hat aber in keinem Fall etwas mit der Anzahl unserer Gene zu tun.

Das grundlegende Problem der Diskussion um Erbanlagen und Umwelteinflüsse ist, dass sich das Wesen menschlicher Freiheit, in einem solch engen Rahmen diskutiert, nicht begreifen lässt. Wie jedes andere Lebewesen, so sind auch Menschen sowohl Einflüssen ihrer Umwelt als auch ihrer Erbanlagen ausgesetzt. Im Unterschied aber zu allen anderen Lebewesen können wir beide Einflüsse manipulieren, beherrschen und uns von ihnen losmachen. Menschen sind wir gerade deswegen, weil wir die Begrenzungen sowohl unseres genetischen wie auch unseres kulturellen Erbes überwinden können.

Menschen sind nicht – und waren in der Vergangenheit erst recht nicht – unabhängig von äußeren Ursachen. Menschen sind deshalb aber nicht das Ergebnis einer außernatürlichen Reihe von Ursache und Wirkung. Wir haben die Fähigkeit entwickelt, aktiv sowohl in die Natur als auch in die Kultur einzugreifen und beide nach unserem Willen zu formen.

„Unsere Erbanlagen können unmöglich bestimmen, wer wir sind – dafür haben wir einfach zu wenig Gene.“

Anders gesagt: Menschen – und das macht sie einzigartig – sind sowohl Subjekte als auch Objekte. Wir sind biologische Wesen, und die Abläufe der Biologie wie auch der Physik wirken auf uns. Gleichzeitig sind wir Wesen mit Bewusstsein, die Ziele formulieren und sie aktiv umsetzen können. Diese Eigenart ermöglicht es uns, die Zwänge der Biologie und der Physik zu erkennen, zu modifizieren und abzustreifen.

Alle anderen Lebewesen außer dem Menschen sind bloße Objekte der Natur, sie sind begrenzt durch ihre natürlichen Anlagen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, und durch die Umwelt, in der sie leben. Kein Tier kann Fragen stellen oder bewusst konzeptuell über Dinge nachdenken, die nicht unmittelbar mit seinen biologischen Bedürfnissen oder seinem ererbten Verhalten zu tun haben.

Wenn ein Biber einen Damm baut, fragt er sich nicht, warum er das tut oder ob es gar eine bessere Möglichkeit gäbe, diese Aufgabe zu bewältigen. Wenn eine Schwalbe nach Süden fliegt, denkt sie nicht darüber nach, warum es in Afrika wärmer ist oder was passieren würde, flöge sie noch weiter nach Süden. Menschen stellen sich solche und noch viele andere Fragen – Fragen, die im Sinne rein vererbten Verhaltens und rein evolutionärer Bedürfnisse ganz sinnlos erscheinen.

Würden Umwelt und Kultur uns fest prägen, dann wären weder Fortschritt noch Geschichte möglich.

Was Menschen auszeichnet, ist die Fähigkeit, sich Ziele zu setzten, die weit über naturgegebene Notwendigkeiten wie die Lebenserhaltung und Partnersuche hinausgehen. Unsere im Laufe der Evolution entstandenen Erbanlagen beeinflussen die Art und Weise, in der wir handeln; aber unsere Erbanlagen determinieren unser Handeln nicht.

Gleichermaßen beeinflusst uns unsere Umwelt, unser kulturelles Erbe, unser Handeln und die Art und Weise, in der wir der Welt gegenübertreten. Aber auch diese Einflüsse sind kein geschlossenes System, aus dem wir nicht entrinnen können. Würden Umwelt und Kultur uns fest prägen, dann wären weder Fortschritt noch Geschichte möglich.

Wären die Menschen im Europa des Mittelalters ganz bestimmt worden von der Kultur des mittelalterlichen Europas, dann wäre es unmöglich gewesen, dass sich die damaligen Gesellschaften je veränderten. Neue Konzepte von Individualität oder Materialismus, neue Technologien und neue soziale und politische Einrichtungen hätten nicht entstehen können.

Menschen sind keine Automaten, keine Reflexmaschinen, die blind ihrer genetischen Programmierung oder ihrem kulturellen Erbe folgen. Zwischen der Prägung, die wir durch die Kultur erfahren, und unserer individuellen Reaktion auf diese Prägung besteht ebenso eine Spannung wie zwischen der Art und Weise, in der natürliche Faktoren Menschen prägen und der Art, wie Menschen damit umgehen. Diese Spannung gibt Menschen die Möglichkeit, kritisch und schöpferisch zu handeln und bestehende Möglichkeiten und Normen zu überschreiten.

In den sechs Millionen Jahren, seit sich die Entwicklungslinien von Affen und Humanoiden in Afrika trennten, haben sich das Verhalten und die Lebensweise der Menschenaffen kaum geändert. Das Verhalten und die Lebensweise der Menschen wandelten sich hingegen fortlaufend. Menschen haben von vorangegangenen Generationen gelernt, sie haben ihr Wissen stetig erweitert, ihre Fähigkeiten verfeinert, sie sind vom Faustkeil zur Quantenphysik fortgeschritten – und zur Entzifferung des menschlichen Genoms. Diese Fähigkeit, ständig Neuerungen zu schaffen, unterscheidet die Menschen von allen anderen Lebewesen.

Alle Arten haben eine natürliche Evolution durchlaufen; nur die Menschen machen Geschichte. Diese historische schöpferische Fähigkeit des Wandels, die nur dem Menschen eigen ist, macht die bloße Diskussion über Erbanlagen und Umwelteinflüsse so unfruchtbar. Das Wesen des Menschen, das Wesen unserer Freiheit, können wir nur begreifen, wenn wir uns klarmachen, dass wir nicht primär durch Gene oder Umwelt menschlich sind, sondern dass wir, obgleich Gene und Umwelt Einfluss auf uns haben, auch in der Lage sind, den Einfluss beider Faktoren hinter uns zu lassen.

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