01.11.2003

Der Mensch ein Naturwesen?

Essay von Kenan Malik

Kenan Malik über Evolution und Geschichte.

Der Psychologe Geoff Miller spricht von einem Paradigmenwechsel. Die Kategorie der menschlichen Natur ist für Fragen nach dem menschlichen Verhalten, der Politik und der sozialen Organisation wieder entdeckt worden. Während einst der Vorstellung einer Natur des Menschen mit Misstrauen begegnet wurde oder man sich darüber lustig machte, gibt es heute kaum eine menschliche Tätigkeit, für die nicht irgendwer eine evolutionäre Erklärung hat.

Eine der Schlüsselfiguren bei diesem Wandel im intellektuellen Klima ist der Psychologe Steven Pinker. Bücher wie Der Sprachinstinkt und Wie das Denken im Kopf entsteht haben ihm sowohl einen Ruf als einer der herausragenden Wissenschaftsautoren seiner Generation als auch als engagierter Vorkämpfer der evolutionären Psychologie und der Computertheorie des Geistes beschert.

Pinker selbst will jedoch an den intellektuellen Wandel nicht glauben. Er behauptet, die menschliche Natur sei nach wie vor ein modernes Tabu. Es sei ein Tabu, „das Wissenschaft und Forschung, den öffentlichen Diskurs und das tägliche Leben verdreht“. In seinem neuen Buch The Blank Slate versucht Pinker die Debatte darum, was es heißt, ein Mensch zu sein, wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Die „moderne Verleugnung der menschlichen Natur“ sieht er dreifach verwurzelt: in den Vorstellungen vom unbeschriebenen Blatt (blank slate), vom edlen Wilden und vom Geist in der Maschine. Nach der Idee vom unbeschriebenen Blatt ist unser Kopf bei der Geburt leer und alles Wissen sozialen Ursprungs. Die Ideologie vom edlen Wilden geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus moralisch gut ist und erst durch die Gesellschaft verdorben wird. Der Geist in der Maschine ist ein Bild, das der Philosoph Gilbert Ryle für die dualistische Vorstellung von René Descartes gefunden hat, nach der der Geist vollkommen unabhängig vom Körper existiert.

Viele Sozialwissenschaftler sind diesen drei Vorstellungen verbunden, die von Philosophen als Empirismus, Romantizismus und Dualismus bezeichnet werden. Der Grund dafür liegt laut Pinker in einer politisch motivierten Scheu, den Menschen als natürliches Wesen zu sehen. The Blank Slate analysiert die wichtigsten moralischen und politischen Bedenken, insbesondere die Sorge, wissenschaftliche Theorien über die menschliche Natur könnten die Moral untergraben und zu einem Nihilismus führen, indem sie dem menschlichen Leben die tiefere Bedeutung rauben. Doch Pinker ist der Auffassung, dass „nicht nur Erkenntnisse über die Natur des Menschen weniger gefährlich sind, als viele denken, sondern auch umgekehrt die Verleugnung der Natur des Menschen gefährlicher sein kann, als viele denken“.

Es gibt vieles, was man an diesem Buch bewundern kann, nicht zuletzt den witzigen und geistreichen Stil. Mit dem Großteil der Kritik an der Vorstellung vom unbeschriebenen Blatt stimme ich überein (wenngleich man fragen muss, wer tatsächlich noch an diese Vorstellung glaubt), ebenso mit Pinkers Zurückweisung der moralischen und politischen Ängste im Hinblick auf das Menschenbild.

Doch The Blank Slate ist mehr als nur eine Streitschrift für die Bedeutung der menschlichen Natur. Für Pinker ist die Idee des blank slate nicht nur eine falsche Sicht auf das menschliche Verhalten, er macht sie für so ziemlich jede schlechte Idee im 20. Jahrhundert verantwortlich – oder zumindest für jede Idee, die Pinker selbst nicht leiden kann: angefangen vom Totalitarismus über den Relativismus, fortschrittliche Erziehung, modernistische Kunst, postmoderne Literatur, atonale Musik, schlechte Wohnbedingungen, liberale Rechtsprechung, nicht akzeptable Methoden der Kindererziehung bis hin zur Feindseligkeit gegenüber der Biotechnologie. Die Ideologie des edlen Wilden lade indessen zu „Geringschätzung der Demokratie“ ein und wird – was besonders bizarr anmutet – für das Aufkommen der Promikultur verantwortlich gemacht. Das Einzige, was in der Liste zu fehlen scheint, sind der islamische Fundamentalismus und die Ereignisse vom 11. September.

Pinker will nicht nur mit schlechten Ideen aufräumen, von denen er glaubt, dass sie noch verbreitet sind, er will auch ein neues Fundament für die Vorstellung von der Natur des Menschen legen, eine „wissenschaftliche Erklärung für die Tragödie der menschlichen Verfassung“ liefern. Die Erkenntnisse aus der Genetik, der Hirnforschung, der evolutionären Psychologie und der Künstliche-Intelligenz-Forschung haben gewiss unser Bild vom Menschen verändert und eine neue Sicht auf eine Vielzahl von Phänomenen vom Autismus bis zur sexuellen Begierde ermöglicht. Dennoch sind Menschen nicht einfach Naturwesen und können nicht betrachtet werden, als ob sie es seien. In der menschlichen Geschichte spielt unsere Fähigkeit, uns über die Natur zu erheben, eine ebenso große Rolle wie die Tatsache, dass wir Teil der Natur sind.

Die Schwierigkeiten, die sich aus einer rein naturalistischen Sicht des Menschen ergeben, zeigen sich in Pinkers Argumentation. Der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur ist die Unterscheidung zwischen biologischen Gegebenheiten und menschlichen Werten. Menschliche Werte ergeben sich nicht aus der Natur, sondern entstehen trotz der Natur. Pinker weist sowohl den naturalistischen Fehlschluss (die Überzeugung, etwas, was natürlich ist, müsse auch gut sein) als auch den moralistischen Fehlschluss zurück, bei dem angenommen wird, wenn etwas moralisch gut sei, müsse es auch in der Natur zu finden sein. Diese Trennung von Moral und Natur erlaubt es Pinker, mit der alten Kritik an der evolutionären Psychologie, sie böte eine Entschuldigung für unmoralisches und reaktionäres Verhalten, aufzuräumen. Es gibt einen Unterschied zwischen Erklärung und Entschuldigung. Etwas wissenschaftlich erklären zu können, heißt noch lange nicht, es auch moralisch zu akzeptieren. Männer neigen von Natur aus dazu, mit vielen Frauen ins Bett zu gehen, doch deshalb muss man Promiskuität noch lange nicht gutheißen und das Fremdgehen entschuldigen.

Doch aus dieser Trennung von Natur und Moral ergeben sich neue Probleme. Menschliche Werte fallen schließlich nicht vom Himmel, sondern ergeben sich aus menschlichem Denken und menschlichem Verhalten. Wie sollten sie dann jedoch nicht aus „natürlicher Auslese und Neurophysiologie“ entstehen, die laut Pinker die Basis für Denken und Verhalten sind?

Pinker erwidert, diese Frage sei selbst „ein Symptom der blank-slate-Vorstellung“. Werte kommen nicht von außen in unser Gehirn, sondern sie entstehen organisch aus Gehirnprozessen. Da der „Geist ein vielteiliges System“ ist, ist „ein angeborener Wunsch nur eine Komponente unter vielen“. Einige angeborene Fähigkeiten „dürften uns mit Gier, Wollust oder Böswilligkeit ausstatten, andere jedoch mit Sympathie, Voraussicht und Selbstrespekt, dem Wunsch, von anderen respektiert zu werden, und der Fähigkeit, aus unseren eigenen Erfahrungen und den unserer Mitmenschen zu lernen“.

Mit anderen Worten: Die Natur hat uns sowohl mit guten als auch mit schlechten Anlagen ausgestattet, und Werte entstehen aus dem Zusammenprallen dieser beiden Tendenzen. Dies weist jedoch im Gegensatz zu Pinkers bisheriger Argumentation darauf hin, dass Werte biologische Phänomene sind und sich aus der Natur ergeben. Es ist schwer, diese Sicht von jener zu unterscheiden, die Pinker selbst als „moralistischen Fehlschluss“ verdammt. Der Primatenforscher Frans de Waal, den gewiss niemand verdächtigen würde, Anhänger der blank-slate-Idee zu sein, bemerkt in seinem Buch The Ape and the Sushi Master spöttisch, Theoretiker wie Pinker „hätten wohl gerne beides: menschliches Verhalten ist ein Produkt der Evolution, außer wenn es schwer zu erklären ist“. Was in dieser Argumentation fehle, meint de Waal, „ist ein Hinweis, wie es gelingen soll, die eigenen Gene zu negieren“.

Niemand – nicht einmal der ärgste Empirist – leugnet, dass Denken und Tun des Menschen das Resultat von Gehirnprozessen sind und dass unsere Neigung, uns moralisch zu verhalten, ein Ergebnis der Evolution sein kann. Doch dies ist nicht gleichbedeutend mit einer Erklärung, woher diese Gedanken und Werte ursprünglich kommen. Wie kamen wir zum Beispiel zu der Überzeugung, dass Sklaverei schlecht und die Idee der Gleichwertigkeit gut ist? Pinker schlägt vor, dass jeder „Diskriminierung und Sklaverei verabscheut“, da es in der menschlichen Natur liegt, eine solche Behandlung abzulehnen: „Niemand mag es, versklavt, niemand mag es, gedemütigt zu werden.“

In der menschlichen Geschichte spielt unsere Fähigkeit, uns über die Natur zu erheben, eine ebenso große Rolle wie die Tatsache, dass wir Teil der Natur sind.

Doch im größten Teil der menschlichen Geschichte wurde Sklaverei als ebenso natürlich gesehen wie heute individuelle Freiheit. Erst in den letzten 200 Jahren haben wir eine Abscheu gegenüber dieser Praxis entwickelt. Warum? Zum Teil wegen der politischen Ideen, die in der Aufklärung aufkamen, zum Teil wegen der veränderten Anforderungen durch den Kapitalismus, und zum Teil wegen sozialer Kämpfe zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Um Werte wie den Glauben an Gleichwertigkeit zu verstehen, müssen wir uns weniger mit der menschlichen Psyche als vielmehr mit Geschichte, Gesellschaft und der Politik beschäftigen.

Die Natur des Menschen ist demnach nicht einfach natürlich. Wegen der Zweideutigkeit des Begriffs der menschlichen Natur verlieren wir dies oft aus dem Blick. Einerseits bedeutet menschliche Natur das, was die Essenz des Menschseins ausmacht und in darwinistischer Terminologie „artspezifisches Verhalten“ genannt wird. Andererseits bedeutet es das, was durch die Natur – darwinistisch gesprochen: den Prozess der natürlichen Auslese – entstanden ist.

Bei Tieren sind die beiden Bedeutungen synonym. Was Hunde, Fledermäuse oder Haie als Spezies typischerweise tun, tun sie aufgrund der natürlichen Auslese ihrer Verhaltensmuster. Das menschliche Wesen ist indessen gleichermaßen durch die natürliche Evolution als auch die menschliche Geschichte geformt.

Eine gute Illustration der Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens ist paradoxerweise die Universalität großer Kunst. Kunst, so Pinker, sei „in unseren Genen“, da die Natur uns mit einem angeborenen Sinn für Ästhetik ausgestattet hat. Große Künstler wie Shakespeare oder Beethoven würden über Kulturen und Zeiten hinweg geschätzt, weil ihre Werke an universelle Eigenschaften der menschlichen Natur anknüpfen. Die künstlerische Moderne sei dagegen ein ästhetischer Fehlschlag, da sie sich aus einer „militanten Verneinung der menschlichen Natur“ entwickelte.

Dies ist nicht nur eine etwas einfache Sicht der Moderne, sondern ein falsches Verständnis von Shakespeares Genie. Shakespeare verarbeitete nicht einfach universell Muster von Liebe, Begierde und Macht; er ebnete auch den Weg zu einer neuen Sicht des Menschen. Shakespeares Figuren sprechen uns ganz anders an als Figuren aus der älteren Literatur, weil sie über ein Selbstbewusstsein verfügen, wie wir es von uns selbst kennen.

Shakespeare war nicht der Einzige, der eine neue Sprache entwickelte, in der wir unsere Emotionen und Gefühle verstehen können. Die neue Subjektivität, die er auf die Bühne brachte, pinselten seine Fast-Zeitgenossen Rembrandt und Vermeer auf Leinwand, während Descartes ihr in der Philosophie Ausdruck verlieh. Rembrandt gilt als der erste und vielleicht größte Maler von Selbstporträts, weil wir, wenn wir seine Bilder betrachten, erstmals in der Geschichte einer wirklichen Person gegenüberstehen. Es ist unmöglich, seine Selbstporträts anzuschauen, vor allem jene des Alters, und nicht Rembrandt selbst zu erkennen. In ähnlicher Weise zeigen die Bilder Vermeers die neue Sicht, mit der die Maler nun ihre Figuren als Personen sahen. In Descartes berühmten Diktum „Ich denke, also bin ich“ erkennen wir ein ganz anderes Ich als in früheren philosophischen Überlegungen.

In den Werken von Shakespeare, Rembrandt, Vermeer, Descartes und anderen ihrer Zeit können wir die Entwicklung einer neuen Art von Subjektivität und das Entstehen des Individuums als rationalen Akteur nachvollziehen. Menschliche Gefühle mögen durch die Evolution entstanden sein, doch das Selbst, das diese Gefühle hat, ist ein Produkt der menschlichen Geschichte. Deshalb ist Shakespeares Werk paradoxerweise sowohl universell als auch besonders. Es ist universell, da wir heute, ob wir nun in Japan oder in England leben, in seinen Charakteren uns selbst erkennen können. Es ist jedoch besonders, weil uns dieses Selbstverständnis nicht von der Natur geschenkt wurde, sondern sich in der Geschichte entwickelt hat.

Wir sehen nun, weshalb Pinker so wackelig zwischen der Betrachtung der menschlichen Werte als unabhängig von der Natur und als Produkt biologischer Prozesse wechselt. Menschen besitzen eine doppelte Natur als sowohl natürliche als auch historische Wesen. Wir sind biologische Wesen und den biologischen und physikalischen Gesetzen unterworfen. Doch wir sind auch bewusste, zielgerichtet handelnde Subjekte und daher in der Lage, neue Wege zu finden, uns über diese Gesetze hinwegzusetzen.

Die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode hat dieses Paradox noch verschärft. Um die Natur wissenschaftlich zu untersuchen, müssen wir unterscheiden zwischen der Menschheit als denkendem Subjekt und der Natur, die der gedanklichen Durchdringung offen steht, selbst aber nicht denken kann. Bei der Untersuchung der äußeren Natur ist diese Unterscheidung leicht zu machen. Doch bei der Erforschung der menschlichen Natur wird eine so klare Abgrenzung unmöglich. Menschen sind zugleich Subjekt und Objekt der Forschung. Die Philosophin Kate Soper nennt dies „das Paradox der gleichzeitigen Immanenz und Transzendenz.“

Unsere Fähigkeit, über die Natur zu reflektieren, stellt uns in gewissem Sinne außerhalb der Natur. Denn wenn wir nicht aus ihr heraustreten könnten, könnten wir sie nicht objektiv erforschen. Der Erfolg der Wissenschaft bei der Erforschung der Welt hat paradoxerweise zu großen Problemen beim Verständnis der menschlichen Natur geführt. Es erscheint unumgänglich, den Mensch als bewussten Akteur mit der Fähigkeit zu rationalem Denken und kollektivem Handeln zu sehen, wenn die Wissenschaft selbst Fortschritte machen soll. Doch diese Sichtweise scheint ein Hindernis für die Entwicklung eines naturalistischen Menschenbilds zu sein. Indem wir Menschen als bewusste Subjekte sehen, scheinen wir sie vom Rest der Natur zu trennen und daher anzunehmen, dass der Mensch in der Sprache der Naturwissenschaft nie ganz eingegrenzt werden kann.

Wie viele andere zeitgenössische Denker versucht auch Pinker, dieses Rätsel dadurch zu lösen, dass er sich bemüht, die menschliche Subjektivität so zu verstehen wie jeden anderen natürlichen Prozess auch. Zu sagen, jemand sei für sein Handeln verantwortlich, heißt zu sagen, dass er „über funktionierende Hirnstrukturen verfügt, die in der Lage sind, auf die Institution der Strafe zu reagieren“. Die Fähigkeit zur moralischen Verantwortung ist „in bestimmten Teilen des Gehirns (vorwiegend im präfrontalen Kortex) lokalisiert, die in der Lage sind, kriminelles Verhalten zu unterdrücken, indem sie voraussagen, wie die Gemeinschaft auf solches Verhalten reagieren würde“. Sich das „Selbst“ anders vorzustellen, bedeutet laut Pinker, den Geist in der Maschine wieder einzuführen.

Diese Vorstellung ist wahr, aber trivial. Will man eine tiefere Bedeutung herauslesen, wird sie indes falsch. Da jedem Gedanken und jeder Handlung Gehirnprozesse zugrunde liegen, muss natürlich auch das „Selbst“ in gewissem Sinne eine Eigenschaft des Gehirns sein. Doch das Selbst einfach als Gehirnprozess zu sehen, ist ein bisschen wie Margaret Thatchers berüchtigte Aussage, es gebe keine Gesellschaft, es gebe nur Individuen und Familien. Individuen und Familien konstituieren die Gesellschaft. Doch die Gesellschaft existiert in einer Weise, die über diese Individuen und Familien hinausgeht.

Genauso ist es mit dem Selbst. Wir können nicht auf das Selbst zeigen, wie wir auf eine Gehirnzelle zeigen. Doch das heißt nicht, dass Gehirnzellen existieren, das Selbst aber nicht. Der Neurobiologe Joseph le Doux formulierte es kürzlich so: „Meine Behauptung, Synapsen seien die Basis der Persönlichkeit, ist nicht gleichbedeutend damit, dass unsere Persönlichkeit durch Synapsen determiniert ist. Es verhält sich genau umgekehrt. Synapsen sind einfach die Methode des Gehirns, unsere Persönlichkeit, die durch psychologische, kulturelle und genetische Faktoren bedingt ist, aufzunehmen, zu speichern und abzurufen.“

Das Selbst ist kein Objekt, sondern Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, als Subjekt zu handeln. Menschen als transzendent zu bezeichnen bedeutet nicht, ihnen spirituelle Eigenschaften zuzuschreiben. Es heißt eher zu erkennen, dass wir als Subjekte die Fähigkeit haben, die eigene Natur und die Welt zu verändern, eine Fähigkeit, über die kein anderes Lebewesen verfügt. Alle Tiere haben eine evolutionäre Vergangenheit. Nur Menschen machen Geschichte.

Es gibt jedoch eine weit verbreitete Zurückhaltung, diese Sicht auf den Menschen als „transformatives Wesen“ anzuerkennen. In seinem provokativen neuen Buch Straw Dogs schreibt John Gray: „Menschen denken, sie seien freie, bewusste Wesen. Doch in Wirklichkeit sind sie nur verwirrte Tiere.“ Das Buch, das eher eine lose Sammlung von Aphorismen als eine stringente Abhandlung darstellt, ist eine beißende Kritik am Humanismus, dem Glauben, Menschen könnten sich „über die Beschränkungen, die das Leben anderer Tiere eingrenzen, hinwegsetzen und Meister ihres eigenen Schicksals sein“. Für Gray, Professor an der London School of Economics, ist dies eine absurde Täuschung. „Wir reden nicht davon, dass irgendwann Wale oder Gorillas Meister ihrer eigenen Schicksale sein werden. Warum dann der Mensch?“ Nur weil Humanisten, laut Gray, ablehnen, was Darwin uns lehrte: dass Menschen Tiere sind und wir wie alle Tiere nur „Strömungen im Fluss der Gene sind“.

Wie Pinker beginnt Gray mit dem Argument, dass Menschen schlicht als natürliche Wesen verstanden werden können. Im Gegensatz zu Pinker verzichtet er jedoch darauf, diese Sicht mit humanistischen Ideen wie Freiheit und Moralität zu versöhnen. Stattdessen akzeptiert er die Logik des naturalistischen Standpunkts: dass Moralität eine „Krankheit“, Freiheit eine „Illusion“ und das Selbst eine „Chimäre“ sei.

Grays ganze Argumentation beruht auf einer einzigen Annahme. Weil Menschen wie andere Tiere durch natürliche Auslese entstanden sind, müssen sie auch weiterhin so eingeschränkt sein wie andere Spezies. Dies ist jedoch genau das, was oft als genetischer Fehlschluss bezeichnet wird – zu glauben, dass, wenn x von a abstammt, x auch a sein muss. Weil unsere Vorfahren dumm waren, müssen auch wir auf immer dumm bleiben. Entsprechend könnte man sagen, dass, weil Neugeborene weder laufen noch sprechen oder lesen können, auch Erwachsene dazu in Wirklichkeit nicht in der Lage sind.

Steven Pinker würde ohne jeden Zweifel Grays misanthropischen Antihumanismus zurückweisen. Er nennt als sein eigenes Ziel sogar die Begründung eines neuen „biologisch bewussten Humanismus“. Dennoch drängt die Logik seiner Argumentation in dieselbe politische Richtung wie Gray, wenn auch nicht zu ebenso nihilistischen Schlussfolgerungen. Im wichtigsten Kapitel von The Blank Slate erörtert Pinker das Verhältnis zwischen evolutionärer Psychologie und zeitgenössischer Politik. Er weist zu Recht das Argument zurück, Soziobiologie und evolutionäre Psychologie seien prinzipiell reaktionär. Doch er gibt zu, dass „die neue Wissenschaft von der Natur des Menschen leicht mit Ideen in Einklang gebracht werden kann, die historisch eher rechts als links zu verorten sind“.

Die evolutionäre Psychologie hat zu einem besseren Verständnis vieler Aspekte des menschlichen Verhaltens beigetragen. Doch sie hat dabei Menschen nicht als von Natur aus ethnozentrisch oder egoistisch entlarvt und nicht behauptet, dass Kriminalität und Armut unausrottbare Begleitumstände der Menschheit seien. Es ist nicht die Wissenschaft, die utopische Vorstellungen untergräbt. Vielmehr hat der politische Niedergang des Utopismus dazu beigetragen, dass bestimmte Interpretationen der Erkenntnisse der evolutionären Psychologie sich großer Beliebtheit erfreuen.

Als Folge der großen Verbrechen und Desillusionierungen des 20. Jahrhunderts hat sich ein Antihumanismus entwickelt, der in Straw Dogs überaus deutlich zum Ausdruck kommt, ein Menschenbild, das im menschlichen Geist eher eine zerstörerische Kraft sieht als eine, die uns in eine bessere Welt führen kann. Diese Sichtweise wurde durch die Ereignisse der beiden letzten Jahrzehnte, dem Niedergang des Marxismus und des Glaubens an soziale Veränderungen sowie der scheinbaren Irrelevanz der Politik für unser Leben, noch verstärkt. In diesem Zusammenhang ist Utopie zu einem Unwort geworden, das für die Hybris des Glaubens an eine durch menschliche Vernunft gestaltete Welt steht, von dem viele denken, er könne nur zu einem Totalitarismus führen.

Das Ergebnis dieser Entwicklung ist die wachsende Überzeugung, wir müssten den Raum des politisch Machbaren deutlich einschränken und lieber versuchen, mit unseren Problemen einigermaßen zu leben als zu versuchen, sie zu überwinden. Wir erwarten von der Wissenschaft, dass sie uns erklärt, warum ein besseres Leben nicht möglich ist, statt von der Politik zu fordern, zu zeigen, wie es doch geht. Vor diesem Hintergrund werden evolutionäre Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen oft als Begründungen für unsere Beschränkung interpretiert, als wissenschaftlicher Beweis für die Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Überwindung unserer zentralen Probleme.

„Etwas zu versuchen, was grundsätzlich unmöglich ist, ist stets ein hoffnungsloses Unterfangen“, sagt der konservative Philosoph Michael Oakshott. Laut Pinker verweist Oakshott auf die Gefahren, die sich ergeben, wenn man versucht, die von der evolutionären Psychologie gefundenen Begrenzungen zu überschreiten. Doch ist ohne eine solche Überschreitung überhaupt historischer Fortschritt denkbar? Und was wäre hoffnungsloser, als Probleme als unlösbar zu akzeptieren, die wir vielleicht bewältigen könnten, wenn wir das vermeintlich Unmögliche einfach versuchten. Wie Pinker selbst formuliert, „bedeutet die Existenz von Leid und Ungerechtigkeit einen nicht zu leugnenden moralischen Imperativ. Wir erfahren erst, was wir erreichen können, wenn wir es versuchen. Die Alternative: uns mit den Übeln der Welt zu versöhnen, ist unverschämt.“

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