02.04.2009

Der letzte Schrei

Von Matthias Heitmann

Mit dem öffentlichen Sterben von Jade Goody wurde nun auch der letzte Bereich menschlicher Existenz von der Unterhaltungsindustrie erobert. Viel bedenklicher als die offensichtliche Schamlosigkeit von Reality-TV-Produzenten ist jedoch der morbide Trend, das Leben als so sinnentleert anzusehen, dass der Tod als sinnstiftender Event erscheint.

Bis zu ihrem öffentlichen Ableben war Jade Goody hierzulande nahezu unbekannt. Seit sie 2002 in der britischen Version von „Big Brother“ erstmals in die Öffentlichkeit trat, waren Fernsehkameras ihre steten Wegbegleiter. Mit dem Bekanntwerden ihrer tödlichen Krankheit änderte sich jedoch die öffentliche Wahrnehmung des skandalträchtigen Fernsehstars schlagartig: Ihr öffentliches Leiden machte sie zu einer Person, deren Aussagen plötzlich ein moralisches Gewicht beigemessen wurde, das ihr vorher gänzlich fremd war. Ihr Tod geriet zur öffentlichen Inszenierung, und die Trauerfeier soll auf Großleinwänden übertragen werden.

Es ist bezeichnend für den geistigen und seelischen Zustand unserer Gesellschaft, dass die Bewertung eines Menschen immer weniger durch sein eigenes Handeln geprägt wird, sondern durch das, was ihm widerfährt. Diese moralische Erhöhung des Opferseins kennen wir bereits aus der öffentlichen Trauer um Lady Di von vor zwölf Jahren. Damals wie heute äußerten Politiker, Kommentatoren und Kirchenvertreter die Hoffnung, über das gemeinsame Trauern möge die Gesellschaft ihre Seele wiederfinden. Die Kommentatorin Libby Brooks spekulierte am 22. März in der britischen Tageszeitung The Guardian sogar, Großbritannien könne die Trauer um Goody zum Anlass nehmen, „über den Sinn des Lebens und die Liebe“ zu reflektieren.

Die Auswüchse von Reality-TV vermitteln uns, dass selbst die intimsten und schmerzhaftesten Aspekte menschlichen Lebens offensichtlich Stoff für Entertainment bieten. Für einige Zeit waren Sex und Pseudo-Intimität in den Big Brother-Containern ausreichend. Danach kam das öffentliche Bad in persönlichen Problemlagen hinzu: Krankheiten, Drogenabhängigkeiten, Überschuldung, Beziehungskonflikte, und Erziehungsprobleme eroberten die fernsehenden Wohnzimmer. Dass sich irgendwann auch das öffentliche Sterben dazu gesellen würde, war eigentlich nur eine Frage der Zeit.

Für diese Entwicklung die voyeuristischen Medien verantwortlich zu machen, mag naheliegen. Die viel grundlegendere Frage ist aber, warum unsere Kultur diejenigen, die Schicksalsschläge zu ertragen haben, dazu ermuntert, ihrem Leiden eine höhere Bedeutung beizumessen. Der Tod eines Menschen wird zu einer Geschichte, aus der wir alle unsere Lehren ziehen sollen. Wenn nicht mehr das Leben, sondern der Tod als sinnstiftendes Ereignis wahrgenommen wird, wenn Menschen deswegen zur moralischen Instanz werden, weil sich ihr Leben dem Ende zuneigt und davon ausgegangen wird, dass Gesellschaften sich nur noch in Trauer vereinen können, sagt dies viel aus über den Mangel an echter menschlicher Solidarität sowie über die Erwartungen, die wir an das Leben haben.

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