17.08.2015
Der lange Abschied des Homo oeconomicus
Analyse von Jan Schnellenbach
Das neue Modell des Homo oeconomicus zeigt, dass der Mensch systematisch Fehler macht. Die Herausforderung liegt im Umgang mit diesen Erkenntnissen. Die Regierung liegt daneben, wenn sie meint, uns in die richtige Richtung schubsen zu können.
Der Homo oeconomicus winkt zum Abschied. Nach Jahrzehnten empirischer Forschung in der Verhaltensökonomik, die ihrerseits stark von der Psychologie beeinflusst wurde, ändert sich in immer mehr Bereichen der Volkswirtschaftslehre die Art und Weise, wie Ökonomen menschliches Handeln modellieren. [1] Der Homo oeconomicus ist zwar nicht verschwunden, aber er ist deutlich geschrumpft. Hatten wir es früher in den meisten Modellen noch mit einem wandelnden Supercomputer zu tun, der alles wissen konnte und bei der Berechnung optimaler Handlungsstrategien mit keinerlei kognitiven Kapazitätsgrenzen zu kämpfen hatte, so bevölkern heute oft schon wesentlich realistischere Menschen die Modelle der Ökonomen.
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht, sondern hat eine lange Vorgeschichte. Über die zutreffende Modellierung von Entscheidungen bei Unsicherheit und Risiko wird schon seit den 1940er Jahren, und seit den 1970er Jahren sehr intensiv, gestritten. Die Berücksichtigung unvollständiger Information gehört längst zum Standard. Und auch die Vorstellung, dass Menschen mit endlichen geistigen Ressourcen sich manchmal lieber Routinen und allgemeine Handlungsmaximen suchen als immerzu ihre Nutzenfunktion zu maximieren, ist nicht mehr exotisch.
„Der Modellmensch der Ökonomie kann jetzt auch Fehler machen“
Der kleinste gemeinsame Nenner eines Homo oeconomicus, auf den sich (fast) alle einigen können, besteht darin, ihn nicht mehr als empirische Hypothese zu verstehen, sondern als forschungsleitende Annahme. Gebhard Kirchgässner formuliert es so: Wir sollten menschliches Handeln als „interessengeleitetes Handeln unter Restriktionen“ untersuchen, um es verstehen zu können. [2] Menschen, die so handeln, können allerdings auch Fehler machen. Nicht zufällige Fehler – diese wären kein Problem, weil sie sich im Aggregat gegenseitig mehr oder weniger aufheben –, sondern systematische Fehler. [3]
Irren ist menschlich
Es ist das Verdienst der empirischen Verhaltensökonomik, verschiedenste derartige Fehler identifiziert zu haben. Schaut man in die Literatur, so findet man einen ganzen Katalog von „Biases“. Das sind systematische und meist psychologisch zu erklärende Verzerrungen individueller Entscheidungen, die dazu führen, dass Menschen sich nicht so verhalten, wie der Homo oeconomicus alter Prägung.
Stattdessen kämpfen die Menschen mit Selbstkontrollproblemen und handeln entgegen ihren eigenen, langfristigen Präferenzen. Sie überschätzen Risiken, wenn sie gerade in ihrer Erinnerung einen Fall parat haben, in dem das Risiko zugeschlagen hat – und sie unterschätzen sie, wenn dies nicht der Fall ist. Sie unterscheiden sich unterschiedlich, je nachdem, wie man ihnen eine eigentlich identische Entscheidungssituation mündlich vorstellt. Dann scheinen ihre Konsumentenpräferenzen nicht einmal kurzfristig stabil zu sein. Der mehr oder weniger zufällige Entscheidungsrahmen scheint die Präferenzen der Konsumenten erst zu erschaffen.
Man kann im Detail über manche dieser systematischen Abweichungen vom alten Homo oeconomicus diskutieren. So gibt es beispielsweise das Argument, dass es eigentlich rational ist, seine Entscheidung auch von der mündlichen Vorstellung abhängig zu machen. Wenn etwa zwei Ärzte die objektiv gleichen Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments beschreiben, der eine aber die positiven und der andere die negativen Wirkungen stärker betont und beispielsweise durch seine Wortwahl in den Vordergrund rückt, dann transportieren sie damit möglicherweise das informierte Bauchgefühl von Experten, das man als Patient in seiner Entscheidung berücksichtigen sollte. [4]
Trotz solcher Einwände im Detail ist es insgesamt praktisch unstrittig, dass man nicht alle empirisch beobachteten Abweichungen vom alten Homo oeconomicus im Nachhinein rationalisieren kann. Systematische Fehler existieren, aber was bedeutet das für die Rechtfertigung politischer Eingriffe?
Ein Spielfeld für die Politik?
Eine Antwort kann darin bestehen, dass man das Problem insgesamt für wenig relevant hält. Diese Position wird beispielsweise vom britischen Ökonomen Robert Sugden vertreten, der in einem theoretischen Modell zeigen konnte, dass Märkte auch für solche Menschen gut funktionieren, die keine stabilen und widerspruchsfreien Präferenzordnungen haben. Ganz einfach gesagt: Auch wenn ich heute noch nicht weiß, was ich morgen will, kann ich mich doch darauf verlassen, dass der Markt als Allokationsmechanismus mir heute wie morgen bestmöglich helfen wird, meinen jeweils gewünschten Konsum zu erhalten. [5]
Und auch auf der individuellen Ebene kann man sicherlich darüber diskutieren, ob jeder systematische Fehler so gravierend ist, dass er gleich nach einer wirtschaftspolitischen Intervention verlangt. Zumal, weil die Individuen oft selbst in der Lage sein werden, eigenes Fehlverhalten zu beobachten und, wenn sie es für schwerwiegend halten, Strategien zur Korrektur zu suchen. Aber das gilt eben nicht immer. Wer etwa lange genug die Entscheidung über seine private Altersvorsorge aufschiebt, wird irgendwann kaum noch Möglichkeiten haben, diesen Fehler vollständig zu korrigieren und einen deutlichen Knick seiner Konsummöglichkeiten im Alter hinnehmen müssen. Hätte man ihn nicht rechtzeitig zu seinem Glück zwingen sollen?
„Der sanfte Paternalismus klingt harmlos, ist es aber nicht immer“
Was aber, wenn man ihm helfen will, indem man ein Zwangssparen in eine kapitalgedeckte, private Altersvorsorge staatlich verordnet? Möglicherweise wäre damit tatsächlich manchen Individuen geholfen, anderen könnte man aber schaden. Hat etwa jemand als innig geliebtes Hobby eine kostspielige Sportart, die er nur in seiner Jugend ausüben kann, dann kann es für so einen Menschen völlig rational sein, lieber wenig zu sparen und Spaß zu haben, solange es noch geht. Der Ansatz eines solchen traditionellen, auf Zwang setzenden Paternalismus scheitert also an der Vielfalt der Individuen.
Schubsen sie noch oder manipulieren sie schon?
Genau hier setzt der sogenannte „liberale“ Paternalismus an, wie er von Richard Thaler und Cass Sunstein vorgeschlagen wurde. [6] Er setzt darauf, Entscheidungssituationen bewusst so zu gestalten, dass typische „Biases“ bei vielen Menschen korrigiert werden. Zugleich hat andererseits aber jeder auch die Möglichkeit, sich straflos anders zu verhalten, als die paternalistischen Planer von Entscheidungssituationen es für richtig befinden. An die Stelle des Zwangssparens tritt dann beispielsweise ein Vertrag, in dem man sich heute verpflichtet, einen Anteil zukünftiger Gehaltserhöhungen automatisch zu sparen, um so der eigenen Aufschieberitis keine Chance zu geben. Einen solchen Vertrag kann man annehmen, aber man muss nicht.
Vorschläge für solche Nudges, also Schubser in die für richtig gehaltene Richtung, gibt es inzwischen viele. Bilder sezierter Raucherlungen auf Zigarettenpackungen, das Verstecken ungesunder Lebensmittel in abgelegenen Supermarkt-Regalen, aber auch der Übergang von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung in der Organspende – all dies sind solche bewussten Gestaltungen von Entscheidungssituationen mit dem Ziel, die Individuen in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Was harmlos klingt, ist es allerdings nicht immer. Kritiker des sanften Paternalismus sehen eine ganze Reihe von Problemen. Offensichtlich ist dies, wenn der paternalistische Eingriff nicht transparent erfolgt. Werden die betroffenen Menschen durch eine für sie nicht merkliche Gestaltung der Entscheidungssituation in eine bestimmte Richtung gedrängt, so hat man es eindeutig mit einem manipulativen Eingriff zu tun. Dieser macht sich die von der Verhaltensökonomik katalogisierten Schwächen im Entscheidungsprozess des Einzelnen gezielt zunutze. Passiert dies, so ist aber auch das Argument hinfällig, die Individuen hätten ja die Freiheit, sich anders zu verhalten, wenn sie es wollten. Soweit sie sich der Manipulation nicht bewusst sind, kann aus ihrem Verhalten niemals auf eine Zustimmung zum paternalistischen Eingriff geschlossen werden. [7]
Aber auch scheinbar transparente Nudges können problematisch sein. So arbeitet etwa, wie Till Grüne-Yanoff in einem Artikel betonte, das abschreckende Bild auf der Zigarettenpackung schlicht mit einem Appell an Ängste und Instinkte der Konsumenten, aber gerade nicht an ihre Fähigkeit, wohl durchdachte und rationale Entscheidungen zu treffen. [8] Das Entscheidungsdesign ist dann zwar offensichtlich transparent, aber dennoch manipulativ. Dieser Vorwurf trifft auf viele, wenn auch nicht alle, Instrumente aus dem Werkzeugkasten des neuen Paternalismus zu. Immer aber geht es darum, Schwächen im Entscheidungsprozess der Individuen gezielt auszunutzen.
„Werden wir wirklich zu unserem eigenen Wohl manipuliert?“
Kann man wenigstens mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass dies im Sinne der Betroffenen geschieht, dass sie also tatsächlich zu ihrem eigenen Wohl manipuliert werden? Auch diese Frage ist zu verneinen. Ein Grund dafür ist schlicht, dass es nicht möglich ist, aus der Beobachtung des tatsächlichen Handelns fremder Menschen darauf zu schließen, was für diese Menschen das eigentlich rationale Verhalten wäre. [9] Die verhaltensökonomische Forschung hat ja gerade gezeigt, dass die Annahmen der neoklassischen Theorie offenbarter Präferenzen nicht gelten. Dann aber kann der paternalistische Planer nur Vermutungen darüber anstellen, welches Verhalten wirklich im Sinne seiner Mündel wäre. Oder der Paternalist kann einfach seine eigenen Präferenzen zum Maßstab machen, mit dem er das Handeln fremder Menschen beurteilt.
Vielfalt, Individualität und Selbstbestimmung
Die oben genannte Behauptung, liberaler Paternalismus könne in überzeugender Weise die Vielfalt in den Präferenzen der Individuen berücksichtigen, erweist sich dann ebenfalls als nicht überzeugend. In der Praxis werden daher, soweit es eine solche neue paternalistische Politik bereits gibt, mit Nudges meist auch nur simple Handlungsanweisungen, die gerade im gesellschaftlichen Trend liegen, in Entscheidungsarchitekturen gegossen. Wir sollen Energie sparen, uns gesund ernähren, lieber gar nicht rauchen, mit Alkohol recht vorsichtig sein, häufiger Sport treiben, die bereits angesprochene Altersvorsorge nicht vergessen und, wenn es dann doch zu Ende geht, noch Organe spenden.
Nun ist es zwar richtig, dass man für jede derartige Handlungsanweisung gute Argumente vorbringen kann. Es ist aber auch richtig, dass hier aus der mikroökonomischen Sicht stets höchst individuelle Abwägungen zwischen verschiedenen Gütern zu berücksichtigen wären. Der neue Paternalismus stützt sich aber gerade nicht auf solche skrupulösen Abwägungen. [10] Und vor allem: Er versucht auch nicht, solche Abwägungen anzuregen. Stattdessen setzt er, wie gesehen, auf Manipulation durch standardisiertes Entscheidungsdesign. Wenn das Konzept dann von politischen Praktikern angewandt wird, die von einem puritanisch angehauchten Missionswillen angetrieben werden, so kann man sich vorstellen, dass im Utopia des Neo-Paternalismus zwar lange und energiesparend gelebt wird, der Preis dafür aber eine doch eher freudlose und vor allem einförmige Askese ist.
Wenn Manipulation und fehlende Orientierung an individuellen Präferenzen zusammenkommen, dann führt dies zu einem weiteren Problem: Der Aushöhlung individueller Autonomie. Individuen, die einem gezielten paternalistischen Entscheidungsdesign ausgesetzt sind, verlieren einen Teil ihrer autonomen Handlungskompetenz und geben diese unfreiwillig an den paternalistischen Planer ab, der für sie Entscheidungen fällt. Dies wiederum ist oft nicht der Fall, obwohl dieser Paternalismus „sanft“ ist, sondern gerade weil er dies ist. [11] Zu klaren, transparenten Regeln und Gesetzen kann man problemlos einen eigenen Standpunkt einnehmen – bei unmerklichen Manipulationen, oder Appellen an Ängste und Emotionen, ist dies schon schwieriger.
Ökonomische Politikberatung im Nirwana
Der liberale Paternalismus als eine Politik der Intervention auf der Mikroebene, die darauf abzielt, konkrete Entscheidungen von nicht vollständig rationalen Individuen systematisch „besser“ zu machen, ist also nicht überzeugend, sondern scheitert vielmehr an seinen eigenen Ansprüchen. Die Frage ist, ob es auch andere Ansätze geben könnte, wirtschaftspolitisch mit den empirisch diagnostizierten Abweichungen von der vollständigen Rationalität umzugehen.
„Der Preis ist eine freudlose und vor allem einförmige Askese“
Zunächst ist zu klären, ob man dem Vorgehen der Befürworter des liberalen Paternalismus folgen will, die den Homo oeconomicus alter Prägung zwar für empirisch gescheitert erklären, ihn aber als normatives Modell beibehalten. Denn hier besteht offenbar die grundsätzliche Gefahr, dem in der Ökonomik altbekannten Nirwana-Irrtum aufzusitzen: Man legt einen praktisch unerreichbaren Maßstab an die Realität an, wodurch diese unausweichlich und immer für defizitär gehalten wird. Dieses Vorgehen ist vor allem dann zweifelhaft, wenn es der Begründung konkreter politischer Eingriffe dient, diese aber, wie oben gesehen, ihrerseits unter realistischen Bedingungen keine systematischen Verbesserungen erwarten lassen, sondern vielmehr neue Komplikationen verursachen.
In diese Falle tappen Ökonomen immer wieder, wenn sie bei der Diagnose eines Problems gleich unterstellen, man könne das Problem politisch lösen. Diese schon von Friedrich von Hayek diagnostizierte Neigung zur konstruktivistischen Überschätzung [12] der eigenen Möglichkeiten ist eine Berufskrankheit, die aber in gewisser Weise auch in der ökonomischen Art zu denken angelegt ist. Oft sind die vorgeschlagenen politischen Lösungen konzeptionell überzeugend, klar und relativ einfach. Das macht sie verlockend. Aber in der Praxis ergeben sich dann doch Probleme.
Ein Beispiel: Die sogenannte Samuelson-Regel sagt, dass man bei der Entscheidung über die Menge der anzubietenden öffentlichen Güter die Zahlungsbereitschaften aller Bürger aufaddieren soll. Die Regel ist klar, einfach und wasserdicht begründet. Gleichzeitig ist sie praktisch völlig nutzlos, weil niemand die individuellen Zahlungsbereitschaften kennt und sie auch mit praktikablen Mechanismen nicht in Erfahrung gebracht werden können. Beim neuen Paternalismus ist es ganz ähnlich. Wir wissen, dass Menschen mit ihren Entscheidungen systematisch vom Ideal vollständiger Rationalität abweichen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir auch einen praktikablen Weg kennen, ohne bedeutende Nebenwirkungen systematische Verbesserungen ihrer Entscheidungen herzustellen.
Muss es vollständige Rationalität sein?
Ein normatives Kriterium, das mit weniger großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, könnte die von Gerd Gigerenzer [13] sowie auch vom Nobelpreisträger Vernon Smith [14] ins Spiel gebrachte sogenannte ökologische Rationalität sein. Diese liegt vor, wenn die Individuen ein an die jeweilige Entscheidungsumwelt gut angepasstes Verhalten zeigen. Es steht die Frage im Vordergrund, wie ausgeprägt die Fähigkeiten der Menschen sind, selbst je nach Entscheidungssituation die richtigen kognitiven Werkzeuge anzuwenden, um für sie selbst zufriedenstellende Entscheidungen zu treffen.
Der Maßstab ist also nicht mehr der hyperrationale Homo oeconomicus alter Prägung. Aber die Unterschiede gehen noch darüber hinaus. Ökologische Rationalität ist zu einem Teil in den Individuen selbst verortet: Die Fähigkeit, ein an die jeweilige Situation gut angepasstes Entscheidungsverhalten zu wählen, hängt nicht zuletzt von Übung und Erfahrung ab – auf der individuellen Ebene. Das bedeutet aber auch, dass man Individuen nicht unbedingt hilft, indem man sie in standardisierte Entscheidungsarchitekturen schickt, die weniger Gelegenheit zum Lernen aus Erfahrung bieten.
Zu einem anderen Teil ist aber auch ökologische Rationalität durchaus in den Institutionen (den Spielregeln) und den Entscheidungsarchitekturen zu finden. Vernon Smith hat beispielsweise in zahlreichen Experimenten gezeigt, wie der Preismechanismus auf Märkten schnell von Individuen gelernt wird und es ihnen leicht macht, mit geringem geistigen Aufwand gute Entscheidungen zu treffen. Und Gerd Gigerenzer hat demonstriert, wie man Informationen über statistische Wahrscheinlichkeiten so darstellen kann, dass die Individuen von sich aus relativ problemlos auch unter Risiko gute, rationale Entscheidungen treffen. Der entscheidende Punkt ist hier: Es geht nicht mehr darum, die Individuen in eine bestimmte Richtung zu schubsen, sondern es ihnen leichter zu machen, selbst Informationen ohne Verzerrung zu verarbeiten. Das sind aber zwei völlig unterschiedliche Ziele.
Aus dieser Perspektive beurteilt der Psychologe Gigerenzer auch die Anwendung von sogenannten Heuristiken wesentlich positiver, als die verhaltensökonomischen Kritiker des ökonomischen Verhaltensmodells es tun. Wo letztere eine zu korrigierende Ursache von unvollständiger Rationalität sehen, vermuten die Verfechter der ökologischen Rationalität, es mit Werkzeugen zu tun zu haben, die es – im jeweils richtigen Kontext angewendet – den Individuen ermöglichen, komplexe Probleme in einer Weise zu bewältigen, die zu guten Ergebnissen führt und gleichzeitig die kognitiven Kapazitäten der Menschen schont.
Regeln statt Interventionismus
Kommen wir noch einmal zurück zum oben erwähnten Beispiel der Samuelson-Regel. Die Einsicht, dass diese Regel konzeptionell klar, aber praktisch nutzlos ist, führte dazu, die wissenschaftliche Diskussion zu verlagern. Anstatt optimale Mengen öffentlicher Güter zu berechnen, entwickelte sich eine verfassungsökonomische Debatte: Wie sollten politische Regeln aussehen, die es demokratischen Gesellschaften ermöglichen, gute Entscheidungen über öffentliche Güter zu treffen? So ging es dann um qualifizierte Mehrheitserfordernisse, um Checks and Balances in Mehrkammer-Parlamenten, um die Vorzüge der Präsidialdemokratie und nicht zuletzt um Kontrolle durch direkt-demokratische Instrumente. Das wissenschaftliche Interesse verlagerte sich also von spezifischen optimalen Mengen hin zur Qualität von Entscheidungsverfahren über Mengen.
„Langfristige Planung findet sich gerade in der Politik selten“
Zweifellos hat die verhaltensökonomisch inspirierte Politikberatung diesen Schritt noch vor sich. Derzeit arbeiten ihre Vertreter ein vermutetes Rationalitätsdefizit nach dem anderen ab und fragen sich, was denn ein wohlwollender und sehr gut informierter Politiker tun könnte, um zu helfen. Irgendwann wird sich auch hier die Erkenntnis durchsetzen, dass politische Repräsentanten in der Regel ihre eigene Agenda verfolgen oder die von relevanten Interessensgruppen. Vielleicht kommt dann auch noch die Einsicht dazu, dass überlegenes Wissen, überlegene Rationalität oder gar eine überlegene Langfristorientierung gerade in politischen Entscheidungsverfahren wohl nur begrenzt zu finden sind. [15]
Hier wäre dann wiederum eine Verlagerung der Debatte zu anderen Fragestellungen angezeigt: In welchem Umfang finden wir als Bürger es eigentlich akzeptabel, wenn ein politisches Instrumentarium genutzt wird, das von seinem Grundansatz her auf die Manipulation unserer Entscheidungen ausgerichtet ist? Wollen wir tatsächlich, dass die Politik auf diese Weise tief in unsere alltäglichen Entscheidungen eingreift, bis hinein in ganz alltägliche Konsummuster und Lebensstile? Sehen wir unsere individuelle Autonomie gefährdet? Was bedeutet es eigentlich für die demokratische Kultur, wenn politische Repräsentanten die Bürger noch mehr als ohnehin schon als zu betreuende Mündel, aber immer weniger als mündige Bürger sehen? [16]
Beachtet man all dies, so spricht einiges dafür, dass souveräne Bürger, die sich die Angelegenheit einmal gründlich überlegen, gegenüber dem neuen Paternalismus eher skeptisch eingestellt sein dürften. Vom liberalen Rechtsstaat wird aus guten Gründen eigentlich erwartet, dass er in weltanschaulichen Dingen und gegenüber der individuellen Lebensführung seiner Bürger größtmögliche Neutralität wahrt. Das aber würde zwingend für Regeln sprechen, welche den Einsatz des neuen paternalistischen Instrumentariums stark einschränken.