01.11.2000

Der kleine Lord ultra light

Von Bernd Herrmann

Die Statistiken sagen uns, dass Kinder vergleichsweise wenig fern sehen, am meisten hingegen die Alten. Wie aber sieht es aus mit Kindern im Fernsehen? Einige Überlegungen von Bernd Herrmann.

Sitze ich vor der Kiste, sehe ich nicht viele Kinder. Im Kinderfernsehn kenne ich mich sicher nicht optimal aus. Aber bei dem, was ich sehe, stelle ich fest: Kinder sind Mangelware. Sieht man einmal ab von den wenigen Sendungen, bei denen Kinder zwischen den Filmchen auch einmal ein Quiz lösen müssen, bestehen Kindersendungen vor allem aus Handpuppen, Marionetten und Zeichentrick. Das ist nicht neu, es geht von der guten alten Sesamstraße, der Augsburger Puppenkiste und Wickie bis hin zu Teletubbies, Pokémon und Sailor Moon. Kinder gibt es schon, aber nur virtuelle, von Erwachsenen produzierte.
Bei Sport ist es ebenfalls Essig mit Kindern. E-Jugend-Fußball-Länderspiele? Wer wollte das auch sehen. Außer den paar Eltern, und die sind dann sowieso live dabei. Das leuchtet ein, denn Kinder sind im Sport nicht so besonders toll. Und ebenso wenig geben sie gute Schauspieler ab.


Bei Talkshows gibt es sowieso keine Kinder, außer vielleicht als Streitthema. Denkbar wäre natürlich Arabella Junior “Meine beste Freundin hat meiner Diddlmaus die Beine abgehackt”. Denkbar wärs, geben tuts das aber nicht.
Kommen wir zu den Krimis. Da kommen Kinder schon hin und wieder vor, nämlich als unschuldige Opfer verabscheuungswürdiger Verbrechen. Das macht Sinn, gibt es doch der Polizei auch mal die Gelegenheit, ihre weiche, mitfühlende Seite zu zeigen. Und zudem können so potenziell schwierige Situationen simpel gelöst werden. Fiktiv – aber ähnlich schon häufig gesehen: Ein armes Schwein erschießt einen Bänker. Nun, denkt der Zuschauer, die Zuschauerin, einerseits war das natürlich Mord und nicht ok. Andererseits war der Bänker aber auch ein Schwein und hatte es irgendwie verdient. Um uns in diesen moralischen Sumpf nicht hilflos absacken zu lassen, betritt nun das rettende Kind die Szene, und uns werden folgende Auflösungen präsentiert:

  • a) Der Killer hat nicht nur den Bänker erschossen, sondern auch seine eigene kleine Tochter angetatscht. Der Bänker war ihm dabei auf die Schliche gekommen. Alles klar: Verbrecher.
  • b) Der ermordete Bänker hatte eine kleine Tochter, um die er sich nach dem Krebstod seiner Frau aufopfernd gekümmert hat. Jetzt hat der Killer dem armen Kind auch noch die letzte Stütze weggeschossen. Alles klar: Hängt die Sau.
  • c) Der ermordete Bänker hat zwar die Aktion für die Abschaffung von Landminen unterstützt, in Wahrheit dies aber nur der Steuer wegen getan. In Echt hat er seinen kleinen unehelichen Sohn an die rumänische Strichermafia verkauft. Alles klar: Gut, dass das Schwein tot ist.


Im Krimi werden Kinder nur von Regisseuren, denen die Handlung völlig aus dem Ruder läuft, als letztes Mittel eingesetzt: Dreikäsehoch ex machina.
Was gibt es noch? Nachrichten lassen wir außen vor. Sexfilme können wir hier auch vergessen. Spielfilme sind Kino – giltet also nicht. Reise-, Koch-, Auto- und Gartensendungen können wir dito abhaken. Und in der Reihe “Die dümmsten/größten/entsetzlichsten Hmhmhm der Welt” habe ich bisher die Folge mit dem Titel verpasst “Die größten Gameboydesaster der Welt”.

Bleiben die Seifenopern. Aber auch hier: Kinder? Fehlanzeige. Das wundert nicht, sind doch fast alle Soaps für Teenies produziert. Und was wäre da uncooler als die falschen Rollerblades, dafür aber richtige Pickel? – Richtig: Schwanger werden, Kiddies kriegen. Folglich kommen die da auch nicht vor.
Kommen wir zu den “Sitcoms” abgekürzten Situationskomödien. Und da werden wir vielleicht eher fündig, weil…


Aber bevor ich hier in ein Genre abdrifte, das ich mag, ist doch noch ein Einschub nötig. Natürlich gibt es einen sehr guten, praktischen Grund dafür, dass Kinder selten im Fernsehn zu sehen sind. Der Grund heißt Arbeitsrecht und Jugendschutz. Dreht man mit Kindern, gibt es allerhand Bestimmungen einzuhalten, Bestimmungen, über die Robert DeNiro nur lachen würde. Um korrekte Arbeitszeiten einzuhalten, wird deshalb sehr häufig auf Zwillinge zurückgegriffen, die dann abwechselnd vor der Kamera stehen. Und davon gibt es einfach nicht so sehr viele. Und erst recht nicht viele, die okay aussehen und auch noch spielen können. Siehe, was Erwachsene angeht, die Werbespots für Ratiopharm.


Wobei (und das führt mich leider zu einem zweiten Einschub): es gibt doch ein Genre, in dem man im Fernsehn sehr sehr viele Kinder sieht. Ich meine das Werbefernsehn. Gut erinnere ich mich noch, als ich vor einiger Zeit mal “Der Alte” sah, und in der Werbung kam tatsächlich bloß Doppelherz, Kukident, Tai Ginseng, Sesselfahrstühle und so Windeln für Rentner. Da war ich dann doch baff. Das kannte ich ja gar nicht! – Und da fiel mirs auf: Sonst gibts in der Werbung Babys und Kinder en masse. Ich habe dann mal genau darauf geachtet, und ich bin mir inzwischen ziemlich sicher: Der Baby- und Kinderanteil in Werbespots hat erheblich zugenommen. Ich vermute, es liegt daran, dass kleine Kinder die meisten ansprechen, besonders heute. Die Spät-Verkindlichung der Erwachsenen und unser Sicherheitstick haben dazu wesentlich beigetragen. Da nämlich die Geburtenraten sinken, fahren jetzt die Erwachsenen Rollschuh und Tretroller. Und früher, glaube ich mich zu entsinnen, wurde für Autos nicht mit Babys geworben. Heute schon: Man erfährt, dass das Auto kinderleicht zu fahren, aber auch kindersicher ist. Ähnlich sieht es im Hygienebereich aus. Da sah man zwar schon früher kleine Racker, die all das verdreckten, was Mami dann waschen musste. Heute wird aber zusätzlich noch betont, dass überall kindergefährliche Keime drohen.


Wir haben also die etwas paradoxe Situation, dass im eigentlichen Fernsehn Kinder Mangelware sind, im Geldverdien-Fernsehn aber en masse vorkommen. Das führt uns schlussendlich zu einem Fernsehtyp, in dem Kinder vielleicht doch nicht ganz fehlen, der schon erwähnten Sitcom. Diese Serien kommen fast ganz ausschließlich aus den USA. Von den deutschen Versuchen sind eigentlich alle außer “Lukas” grandios gescheitert. “Lukas” selbst ist für unser Thema nicht uninteressant. Dort kommen zwar auch keine Kinder vor, aber Lukas, von Hüpfball Dirk Bach gespielt, ist hauptberuflich was? Star einer Kindersendung, in der er als drollige, kugelige Fledermaus Kinder erdrückt ... oder vielleicht auch beglückt – wir erfahren es nicht.


Die zahlreichen seit den 80er-Jahren entstandenen amerikanischen Produkte lassen sich grob in vier Typen unterteilen: Die feinsinnige Komödie für Erwachsene (Seinfeld, Ellen, Frazer), die schwarze Familien-Comedy (Cosby Show, Fresh Prince of Bel Air), die weiße Mittelklassenkomödie (Alf, Full House) und die weiße Prolkomödie (Eine schrecklich nette Familie, Rosanne). In der ersten – der intellektuellen – Version fallen Kinder selbstverständlich unter den Tisch. In den anderen drei Versionen kommen Kinder vor, häufiger sind sie aber Teenager. Die wenigen wirklichen Kinder gibts im Wesentlichen in zwei Varianten: Sie werden gelegentlich geknuddelt und lieb gehabt. Oder sie produzieren lustige Effekte, indem sie erwachsene Dinge sagen oder tun. Das ist auch besser so. Kinder als Kinder sind selten komisch.


Womit wir bei der Gegenwart wären. Alle oben genannten Sitcoms (die meisten laufen hier noch) sind Vergangenheit. Seit einiger Zeit deutet sich eine gewisse Weiterentwicklung des Genres an. Dafür stehen beispielhaft drei recht unterschiedliche, erfolgreiche Serien (deren zwei mir ausnehmend gut gefallen): Die Simpsons, South Park und Ally McBeal. Alle drei sind in gewisser Weise eine Fortentwicklung der Sitcom. Bei den Simpsons verbinden sich Kinderserie, Prolkomödie und Intellektuellenkomödie im bunten Zeichentrick, wozu noch zahlreiche Musicalnummern kommen. Bei South Park wird unbeholfene Kinderbuch-Animation mit herben Scherzen, Blut, Fäkalien und allermöglicher Gewalt verbunden. Da allerdings der Witz vor allem auf dem Prinzip dieses Gegensatzes funktioniert, ödet die Serie schnell an. Ally McBeal verbindet Soap Opera, Sitcom und Anwaltsserie – wozu noch ein Schuss David Lynch kommt, nur ins Komische gewendet. Und wie bei den Simpsons sind auch hier wieder Musical-Einlagen dabei.
Schön und gut. Aber wie sieht es in den drei Serien mit Kindern aus? Nun, die Simpsons stellen hier so ziemlich jede andere Fernsehserie in den Schatten. Erstens gibt es gut zwanzig Kinderfiguren; zweitens fehlt eines in der Serie fast ganz: Teenager. Als wahrscheinlich einzige Fernsehserie überhaupt weisen die Simpsons diesen Generation Gap auf: Es gibt Kinder, Erwachsene und Alte – von Teenies keine Spur. Auch die gar nicht genug zu lobenden Storys haben eine seltene Eigenart: Sie gefallen nämlich sowohl Kindern als auch Erwachsenen – und das, obwohl die Serie stets viele anspielungsreiche Gags enthält, deren Witz Kindern völlig entgeht. Dafür können die aber an anderen Stellen mehr lachen. Sicher auch deshalb sind die Simpsons die erfolgreichste, beste Serie des letzten Jahrzehnts.


Auch bei South Park fehlen Teenager. Dafür sehen die Kinder alle ziemlich ähnlich aus, und selbst die vier Hauptfiguren werden nur gelegentlich komisch, wenn es den Autoren gelingt, die stereotypen Filzcollagefiguren noch eine Spur stereotyper zu machen. Auch der Appeal von South Park ist viel geringer: Es ist eine typische Serie für – vor allem männliche – Teenager und junge Erwachsene. Der Fäkal- und Splatterhumor ist einfach nur dann wirklich witzig, wenn man in einer Phase steckt, in der es das höchste der Gefühle ist, alle zwei Minuten “Voll krass, ey!” zu rufen. – Das aber legt sich.


Ally McBeal hingegen ist eine erwachsene Serie, eine, die scheinbar vor allem Frauen gerne sehen. Die Hauptfiguren sind jüngere Anwälte zwischen 25 und Ende 30. Ziemlich alle sind sie unverheiratet und sicher die Hälfte ist auch meist single. Keine der etwa zehn Hauptfiguren hat Kinder – und dennoch wird nicht selten übers Kinderkriegen geredet: übers Ob und Wann und Wieso eigentlich. Zwei Kinder tauchen doch auf. Einmal ist da das hoch begabte Kind mit Uniabschluss, das dank einer Sondererlaubnis als Anwalt praktizieren darf. Der Witz funktioniert vor allem über den Gegensatz “Kind in der Rolle eines Erwachsenen”, hört da aber nicht auf. Wiederholt bricht der lütte Anwalt in Tränen aus, wenn er einen Fall verliert; schließlich lernt er aber, sein Weinen als Waffe vor Gericht einzusetzen. – Klappt auch nicht? Nun, es war ja immerhin einen Versuch wert. Ally McBeal gibt ihm schließlich den offensichtlichen Rat: Er solle lieber versuchen, ein Kind zu sein. Common Sense, na klar, aber in einer Zeit, in der Erwachsenen so häufig eingeredet wird, sie müssten ihre kindliche Seite entdecken, eine recht angenehme Art von Common Sense. Bleibt noch Allys Baby. Natürlich hat sie nicht wirklich eins. Aber da sie immer mal wieder vom Kinderwunsch geplagt wird, halluziniert sie schließlich ein feistes Baby im Lendenschurz, das Um-Tschaka tanzt, mit einem Speer nach ihr wirft und anderen Schabernack treibt. Das Baby ist, wie Bart Simpson, eine Trickfigur. Aber beide Figuren sind ein Antidot gegen den ganzen Kindheitsquatsch, der uns, wie in der Werbung, heute ständig umgibt. – Nichts gegen Kinder. Aber im Fernsehn sind mir von Erwachsenen gezeichnete Blagen deutlich lieber als der Schnuckiputz mit Seitenaufprallschutz.

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