01.05.2006
Der Holocaust steht nicht zum Verkauf
Kommentar von Frank Furedi
Gedenktage wie der 27. Januar – der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz – und zahlreiche Denkmäler wie die im Mai des vergangenen Jahres eröffnete zentrale Holocaust-Gedenkstätte in Berlin sollen unsere Erinnerung an den Mord an Millionen von Menschen wachhalten. Der englische Soziologe Frank Furedi meint jedoch, dass ein institutionalisiertes Gedenken dieser Art das Leiden und die Erinnerungen derer, die den Holocaust überlebt haben, nur weiter entwürdigt.
Meine Familie wurde in den Konzentrations- und Arbeitslagern der Nazis fast vollständig ausgerottet. Entsprechend erbost war ich über die Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete. Bis heute kann ich die herzzerreißenden Berichte meiner Mutter nicht vergessen, die in den letzten Wochen des Krieges von zwei SS-Wächtern in Deutschland zum Marsch angetrieben wurde und ihre jüngere Schwester in einem Graben dem Tod überlassen musste.
Manchmal sind es aber die weniger tragischen, fast banalen Ereignisse, die sich in unserer Erinnerung festsetzen. In den letzten Monaten des Jahres 1944 wurde meine ältere Schwester von Nazis in der Nähe des Budapester Ghettos aufgegriffen. Sie wollten sich auf ihre Kosten amüsieren, indem sie sie herumschubsten, schlugen und zum Schluss in den Hintern traten. Seltsamerweise waren es die spöttischen Bemerkungen dieser Verbrecher, die meine Schwester als „jüdische Schielerin“ bezeichneten, die sie besonders verletzten. Die Erniedrigung meiner Schwester löst bei mir bis heute erstaunlich intensive Gefühle aus. Ihre Entschlossenheit, anderen zu zeigen, dass sie etwas darstellt – ein Charakterzug, der sie ihr Leben lang prägte –, konnte ich sehr gut nachvollziehen.
Mir wurde immer wieder vermittelt, wie dankbar ich sein solle, dass ich diese schrecklichen Jahre nicht durchleben musste. Ich wuchs in einer sehr, sehr kleinen Familie – ohne Großeltern, Tanten oder Onkel – auf. Manchmal bemerkte ich während der gemeinsamen Mahlzeiten eine beunruhigende Stille und nervöse Blicke, ganz so, als könne wieder etwas Schlimmes passieren. Ich erinnere mich noch gut an die Wutausbrüche meines Vaters, als ungarische Antisemiten nach 1945 verächtlich bemerkten‚ es seien mehr Juden nach dem Krieg zurückgekehrt, als ursprünglich in die Lager geschickt worden seien. Das Erinnern war für ihn ebenso wichtig wie für mich.
Weshalb also fühle ich mich dann so unwohl, wenn es um die Institutionalisierung des Holocaust-Gedenkens geht? Liegt es vielleicht daran, dass der Holocaust von zwielichtigen Moralaposteln, die mit ihm hausieren gehen, häppchenweise verhökert wird? Vielleicht liegt es auch daran, dass er unterdessen zu einer überbeanspruchten Metapher geworden ist, die von unzähligen Lobbygruppen für ihre eigenen moralischen Anliegen genutzt wird? Ich glaube, es liegt daran, dass die Erinnerung an den Holocaust zu einem offiziellen Ritual verkommen ist, das es jedem Politiker und jeder noch so scheinheiligen Persönlichkeit ermöglicht, vermeintlich überlegene moralische Haltungen öffentlich zur Schau zu stellen.
Das Predigen vom Holocaust ermöglicht es einer Gesellschaft, sich vor der Entwicklung eigener Moralvorstellungen zu drücken. Die Transformation des Holocaust in ein universelles Symbol für das Böse hat ein einfaches moralisches Gut-Böse-Schema befördert: Gut ist es, gegen, schlecht ist es, für den Holocaust zu sein. Daher spielt der Holocaust eine so herausragende Rolle im englischen Schulunterricht.
Doch auch die in Deutschland ständig erhobenen Ermahnungen, wir müssten alle „die Lehren aus dem Holocaust ziehen“, haben wenig mit aufrichtiger Trauer und dem Wachhalten der Erinnerung zu tun. Sie führen nicht dazu, dass sich Menschen ernsthaft mit Geschichte beschäftigen, um aus ihr zu lernen. Wir müssen heute mit ansehen, wie der Begriff auf alles, von der Vernichtung der Artenvielfalt bis hin zum Abbau von Jobs, übertragen wird. „Holocaust“ ist zu einem Schlagwort geworden, mit dem jeder beliebige Anspruch auf Sympathie und moralische Überlegenheit zum Ausdruck gebracht werden soll – er ist zu einer Plattitüde verkommen und wird zu jeder noch so unpassenden Gelegenheit ausgebreitet.
Als die Feministin und Publizistin Germaine Greer nach fünf Tagen aus der englischen Version von „Big Brother für Prominente“ ausscheiden musste, machte sie ihre Mitbewohner dafür verantwortlich, dass diese nicht ihren Widerstand gegen den „Big-Brother-Faschismus“ unterstützen wollten. „Der Holocaust geschieht, wenn gute Menschen tatenlos zuschauen“, belehrte sie die Öffentlichkeit. Nachdem ich auf die frommen Rechtfertigungen von Greer gestoßen war, fielen mir die Warnungen meines Vaters vor einem Ausverkauf des Holocaust wieder ein. Er glaubte, dass, wenn der Holocaust erst einmal zu einem universellen Symbol für das Böse geworden sei, jede Erinnerung an ihn zu einem inhaltsleeren Ritual für eigennützige Interessen verkommen würde. Die jüngsten Behauptungen, dass die britischen Bombenangriffe auf Dresden ebenfalls eine Art Holocaust gewesen seien, hätten ihn nicht verwundert, ebenso wenig wie die Kampagnen radikaler Tierschützer gegen „Hühner-KZs“ oder den „Holocaust an Robben“. Ist der Holocaust erst einmal zu einem universell gültigen Symbol geworden, wird er zwangsläufig zu einem Handelsgut auf dem Markt der Moral.
„Die Institutionalisierung des Holocaust-Kults wird dazu führen, dass sich Skepsis in Ungläubigkeit umwandelt.“
Je mehr das schreckliche Erlebnis der Nazi-Ära durch Holocaust-Gedenktage, Denkmäler, Museen, Lehrpläne oder Filme institutionalisiert wird, desto mehr konzentrieren sich die unterschiedlichsten Interessengruppen darauf, die gegeneinander um die Sympathie der Öffentlichkeit buhlen. Es ist kaum verwunderlich, dass seine emotionale Stärke auf andere Ereignisse wie z.B. den amerikanischen, den serbischen, den bosnischen oder den ruandischen „Holocaust“ übertragen wurde. Jeder möchte sein Recht auf einen eigenen Holocaust geltend machen. Anstatt die Völker zu einen, bestärkt diese vorherrschende Form des Gedenkens die verschiedenen kulturellen Gruppen darin, sich selber als Opfer eines historischen Unrechts darzustellen und ihr eigenes Leid künstlich aufzublähen. Diese Reaktion ist wenig erstaunlich, denn es ist schwer, einzelne Gewalterfahrungen, egal wie barbarisch sie auch sein mögen, in ein Symbol für universelles Leiden zu verwandeln, um damit Unterstützung zu mobilisieren. Es ist eine Sache, das Ausmaß der Vernichtung und den einzigartigen Charakter des Holocaust zu verstehen. Es ist eine ganz andere Sache, hieraus eine Moralgeschichte zu machen, die bei Menschen überall zu jeder Zeit Betroffenheit auslösen soll.
Wenn die zentrale Gedenkstätte oder auch der Gedenktag nur Ausdrücke weiterer inhaltsloser Rituale wären, würde ich mir darüber keine Sorgen machen. Das Problem ist jedoch, dass diese Initiativen in Wirklichkeit ein Klima des Zynismus und der Skepsis gegenüber den tatsächlichen Ereignissen während der Nazi-Ära erzeugen. Falsche Moral befördert stets zynische Gegenreaktionen – und die Phrasendrescherei über den Holocaust stellt hier keine Ausnahme dar. Im Jahr 2004 führte das Ipso-Forschungsinstitut für die italienische Zeitung Corriere della Sera in Italien, Frankreich, Belgien, Österreich, Spanien, den Niederlanden, Luxemburg, Deutschland und Großbritannien eine Umfrage durch. Sie ergab, dass 35 Prozent der Befragten glaubten, die Juden sollten aufhören, bezüglich des Holocaust und der Verfolgung vor 60 Jahren „das Opfer zu spielen“. Einer anderen, in Großbritannien durchgeführten Umfrage zufolge waren 15 Prozent der Befragten der Meinung, das Ausmaß des Holocaust werde übertrieben. [1] Noch sind die Formen der Skepsis sehr amorph. Die zwanghafte Institutionalisierung des Holocaust-Kults wird jedoch dazu führen, dass sich diese Skepsis in Ungläubigkeit umwandelt.
Dort, wo die Erinnerung politisiert wird, muss man mit Problemen rechnen. Die wirklichen Gefühle von Menschen, die den Holocaust miterlebt haben, bieten die beste Basis für eine Erinnerung an das Leiden. Doch selbst die Überlebenden empfinden ein Befremden darüber, das ihr Leid zu einem universellen Symbol umdefiniert und in einer Art und Weise dargestellt wird, die mit ihren Erinnerungen nicht übereinstimmt.
Das Ereignis, das mich wahrscheinlich am meisten dazu bewogen hat, mich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen, war eine Unterhaltung, die ich vor 15 Jahren mit meiner damals 82-jährigen Mutter hatte. Nachdem wir eine Fernsehsendung über Holocaustopfer gesehen hatten, schien sie über die darin benutzte Terminologie verwundert. Sie sagte mir, ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie ein Opfer sei. Was sie aber wirklich aufregte, war der zum Ausdruck kommende Vorwurf, sie könne nicht normal sein, da ihr gesamtes Leben, anders als das der in der Sendung Interviewten, keineswegs von der Tragödie der 40er-Jahre bestimmt gewesen sei. „Vielleicht stimmt mit mir wirklich irgendetwas nicht“, meinte sie. Viele Therapeuten würden ihr hier vermutlich beipflichten und sie als kranke, sich selbst verleugnende Frau einstufen. Ich sehe in ihr einen Menschen, dem es gelungen ist, mit den schwierigsten Umständen auf die eine oder andere Art fertig zu werden. Hierfür benötigen wir keine offiziell geförderten Rituale.