17.03.2013

Der deutsche Fukushima-Mythos

Analyse von Matthias Heitmann

Führende Politiker wie auch Leitmedien hierzulande verlieren zwei Jahre nach dem Erdbeben in Japan die Tatsache aus den Augen, dass es sich bei den Katastrophenopfern nicht um Opfer eines Atomunfalls handelt. Das ist typisch für die deutsche Wahrnehmung.

Als im März 2011 infolge eines schweren Erdbebens ein Tsunami weite Teile der Ostküste von Japans Hauptinsel Honshu verwüstete, etwa 16.000 Menschenleben forderte und weitere rund 2.700 Menschen spurlos verschwanden, war das weltweite Entsetzen groß. Menschen überall auf dem Globus zeigten Solidarität und Hilfsbereitschaft und organisierten Hilfs- und Benefizaktionen, um die Hinterbliebenen und den Wiederaufbau der zerstörten Region zu unterstützen. Auch in Deutschland war dies der Fall. Und dennoch nahm hierzulande die Diskussion über die Ereignisse in Japan eine andere Wendung als in den meisten anderen Ländern der Welt. Die durch den Tsunami verursachten Schäden und die Trauer um die Toten wurde alsbald durch ein anderes, sehr deutsches Motiv verdrängt: die Angst vor dem Super-GAU in dem ebenfalls vom Tsunami getroffenen und schwer beschädigten Atomkraftwerk in Fukushima. Diese Angst führte innerhalb weniger Wochen zu einem nicht vorhersehbaren Erdrutsch in der deutschen Politik. Zwar nahm man immer noch Anteil am Schicksal der japanischen Bevölkerung, doch mehr und mehr kreiste das Interesse um die eigenen Ängste – auch wenn die Ereignisse in Fernost dafür keinen Anlass boten. Man spendete zwar Geld für Japan, kaufte sich gleichzeitig Geigerzähler für den Heimgebrauch – und schaltete aus Sorge um sich selbst die eigenen Atomkraftwerke ab.

Angst made in Germany

Sehr schnell wurde „Fukushima“ zum Inbegriff des atomaren Super-GAUs, vor dem man sich nirgendwo so sehr fürchtet wie in Deutschland – in einem Land, das sich noch tags zuvor gerühmt hatte, die sichersten Kernkraftwerke der Welt zu besitzen und gerade erst deren Laufzeiten verlängert hatte. Zuvor war die Akzeptanz der Atomkraft in der Bevölkerung wieder gestiegen, obwohl der Atomausstieg ein Kernthema der bis 2005 regierenden rot-grünen Bundesregierung war und obwohl deren CDU-geführte Nachfolgeregierung die Kernenergie nur halbherzig als eine „Übergangstechnologie“ verteidigt hatte. Schon eine im August 2008 veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS emnid hatte ergeben, dass mit 52 Prozent eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung einer Verlängerung der Laufzeiten über das Jahr 2021 hinaus zustimmte. Doch mit dem 11. März 2011 änderte sich all dies. Innerhalb weniger Tage wurde die Katastrophe innenpolitisch ausgeweidet und verdaut. Die deutsche Anti-Atombewegung, die trotz des nahenden 25. Jahrestages des Unfalls von Tschernobyl immer mehr an Schwungkraft verloren hatte, feierte ihre Wiederauferstehung. Die Regierung Merkel änderte ihre eben noch gültige (halbherzige) Atompolitik und verkündete, nunmehr unverzüglich eine „Energiewende“ einleiten zu wollen. Und obwohl das Erdbeben vor der ostjapanischen Küste die Risikolage in Europa keineswegs verändert hatte, schlug deren Bewertung in ihr Gegenteil um mit der Folge, dass Ende Mai 2011 nur noch 4 der 17 deutschen Atomkraftwerke Strom produzierten. Nicht zuletzt gewann aufgrund der wiedererwachten Atomhysterie die traditionelle Anti-Atom-Partei Bündnis 90 / Die Grünen spontan und massiv an Zustimmung. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg rund zwei Wochen nach der japanischen Katastrophe erzielte sie mit 24,2 Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis und stellt seither mit Winfried Kretschmann überhaupt zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes.

Schon unmittelbar nach der japanischen Tsunami-Tragödie hatte die entrückte deutsche Lesart der japanischen Tragödie für Irritationen gesorgt. Während weltweit die Akzeptanz der friedlichen Nutzung der Atomenergie nicht zuletzt aufgrund ihrer „Klimafreundlichkeit“ immer weiter stieg, bemächtigte sich die deutsche Politik der japanischen Naturkatastrophe, um sie in ein Mahnmal für die vermeintliche Unkontrollierbarkeit eben dieser Technologie umzudeuten. Nicht zuletzt in Japan und gerade auch unter den dort lebenden Deutschen machten Unverständnis und Wut über die deutsche Atomparanoia breit. Die Art und Weise, mit der deutsche Medien fast schon schadenfroh über angebliche Auflösungserscheinungen der japanischen Zivilordnung und die Zerstörung von Japans Wirtschaft berichtet und aufgrund der Konzentration auf Fukushima die Opfer des Tsunamis fast ausgeblendet hatten, trieb vielen Exil-Deutschen die Zornesröte in Gesicht. So äußerte sich beispielsweise der Unternehmer Christian Thoma, der seit mehr als 30 Jahren in Japan lebt, im März 2011 entsetzt angesichts der „haarsträubenden“ und „schamlosen“ deutschen Medienberichte, die seiner Ansicht nach einer „verdummenden Informationsstrategie“ ähnelten, „die nicht nur dem japanischen Volk Unrecht tut, sondern das Leid der Betroffenen und Angehörigen in einer unvertretbaren Weise eskaliert“ [1].

Diese angstgetriebene Überreaktion schlug sich auch im Handeln der in Japan arbeitenden deutschen Staats- und Wirtschaftsvertreter nieder und sorgte für weiteres Kopfschütteln und erhebliche Verärgerung. Im Gegensatz zu anderen Landesvertretungen hatte sich die deutsche Botschaft nach der Katastrophe nicht nur fluchtartig nach Osaka „verkrümelt“, sondern zudem nicht einmal mehr den Versuch unternommen, die registrierten Landsleute in der Region zu kontaktieren, wie es andere Botschaften erfolgreich taten. Zahlreiche deutsche Unternehmen forderten zudem ihre deutschen Mitarbeiter auf, ihre japanischen Kollegen in der Region zurückzulassen und das Weite zu suchen, was nicht nur viele Deutsche vor Ort für zutiefst verantwortungslos hielten. Die panischen Überreaktionen hielten bis in den April an: Während Behörden und Institutionen anderer Länder schon längst wieder in die japanische Hauptstadt zurückgekehrt waren, blieben die deutsche Botschaft wie auch die deutsche Schule auf Geheiß des Auswärtigen Amtes noch wochenlang geschlossen.

Vorsatz oder bloß ein Versehen?

Die Hysterieverliebtheit der deutschen Öffentlichkeit gipfelte in den Folgemonaten in Medienberichten über die Tsunami-Gefahr in Mitteleuropa oder die Gefährdung aufgrund von seit Jahrtausenden erloschener Vulkane, die das Betreiben von Atomanlagen – wie auch fast aller sonstiger Großanlagen – zu einem sinnfreien Himmelfahrtskommando erklärten. Verfeinert wurden diese verschiedenen Angstcocktails durch regelmäßig wiederkehrende Hinweise auf die latente Terrorgefahr sowie – natürlich – auf den Klimawandel, dessen Folge als so drastisch beschrieben wurden, dass der Schluss, das beinahe sämtliche Atomkraftwerke in der norddeutschen Tiefebene ohnehin dem Untergang geweiht seien, gar nicht mehr explizit gezogen werden musste. Diese Stimmung hält bis heute an. Anti-Atom-Hysterie, Panikattacken, die bar jeder Vernunft und jedes wissenschaftlichen Sachverstandes das gesellschaftliche Klima prägen, und dazu noch die nur zu bereitwillige Aufgabe der bisherigen Energiepolitik durch eine jeder Art von Rückgrat verlustig gewordene Bundesregierung mitsamt der mit ihr auf Gedeih und Verderb verschweißten offiziellen Medien-Öffentlichkeit: Wen überrascht es da noch, dass zwei Jahre nach der Katastrophe das Ereignis von einigen Politikern und Medien so dargestellt wird, wie es hierzulande von Anfang an gesehen und instrumentalisiert wurde?

Vor dem Hintergrund der in Deutschland vorherrschenden Fukushima-Rezeption kann es nicht wirklich verwundern, wenn die Grünen-Politikerin Claudia Roth in einem Facebook-Eintrag anlässlich des zweiten Jahrestages den Hinweis, dass es überhaupt ein Erdbeben und einen Tsunami gegeben habe, für vernachlässigbar hielt und die japanischen Opfer somit direkt mit dem AKW-Unfall verknüpfte: „Heute vor zwei Jahren ereignete sich die verheerende Atom-Katastrophe von Fukushima, die nach Tschernobyl ein weiteres Mal eine ganze Region und mit ihr die ganze Welt in den atomaren Abgrund blicken ließ. Insgesamt starben bei der Katastrophe in Japan 16.000 Menschen, mehr als 2.700 gelten immer noch als vermisst. Hunderttausende Menschen leben heute fernab ihrer verstrahlten Heimat. … Fukushima mahnt.“ [2] Ebenso wenig überrascht es, wenn ihr Parteikollege Jürgen Trittin parallel in seinem Facebook-Post [3] sich sogar den standardmäßigen Höflichkeitshinweis auf die Opfer sparte und nur noch von der Atomkatastrophe und der Abwahl der schwarz-gelben Bundesregierung sprach, um am selben Tag in einem Interview zu verlautbaren, dass 19.000 Menschen „bei Tsunami und Reaktorkatastrophe“ starben [4]. Was an solchen offensichtlich politisch motivierten Äußerungen – und andere ernsthafte Erklärungen kann es für eine solche Häufung derart tendenziöser Statements eigentlich nicht geben – allenfalls noch überraschen könnte, ist die unverfrorene Offenheit, in der sie getätigt werden.

Aufregung hilft nicht gegen Hysterie

Derartige Statements sind bei Weitem kein Privileg der Grünen. Es ist bemerkenswert, wie groß mittlerweile das politische wie mediale Spektrum geworden ist, in dem man sich solche Einseitigkeiten erlauben zu können meint. Selbst das Flaggschiff des deutschen Fernseh-Nachrichtenjournalismus, die „Tagesschau“ der ARD, vermittelte in ihrer Hauptausgabe am 11. März 2013 den Eindruck, in Japan seien „dabei“ 16.000 Menschen ums Leben gekommen – und der Bezug lag auf dem unmittelbar zuvor genannten „Reaktorunfall im Kernkraftwerk Fukushima“ [5]. Selbst die gemeinhin als redaktionell sorgfältig geltende Wochenzeitung Die Zeit bekam die Kurve nicht, wie man in dem am 11. März 2013 auf ihrer Website veröffentlichten Artikel „Fukushima-Unglück: Japan gedenkt der Hunderttausenden Katastrophenopfer“ nachlesen kann. Dort heißt es: „Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,0 den Nordosten Japans, löste einen bis zu 20 Meter hohen Tsunami aus und ließ im Atomkraftwerk Fukushima die Reaktoren kollabieren. Fast 16.000 Menschen starben, mehr als 2.700 Menschen gelten bis heute als vermisst.“ [6]

Wer will, mag diesen Absatz für sich betrachtet als frei von gezielt falschen Bezügen bezeichnen. Liest man jedoch den gesamten Artikel, fällt auf, dass nachfolgend ausschließlich auf den Atomunfall eingegangen wird, die durch den Tsunami verursachten Zerstörungen keine Erwähnung mehr finden, wohl aber die in der Region Fukushima, „wo aufgrund des Atomunfalls weite Teile des Gebiets kontaminiert wurden“. Führt man sich des Weiteren vor Augen, dass am Ende des Artikels ausschließlich weiterführende Artikel zur Atom-Thematik verlinkt sind und nicht zuletzt bereits die Artikelüberschrift eindeutige Bezüge setzt, dann wird deutlich, wie schwer es offenbar fällt, die Kette der Ereignisse sowie die Bezüge zu Opferzahlen und Zerstörungen korrekt abzubilden. Ob das vor lauter Voreingenommenheit oder aus purer Nachlässigkeit schwerfällt, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Die gute Nachricht ist, dass sich sowohl Roth als auch Trittin, die „Tagesschau“ und die Zeit heftiger Kritik ausgesetzt sahen, es also offensichtlich viele Menschen in Deutschland gibt, denen allzu offensichtliche Verdrehungen der Realität durchaus auffallen. Dennoch sollte in dieser Aufregung nicht außer Acht gelassen werden, dass Äußerungen wie diese nicht den eigentlichen Anlass für Unmut und Verärgerung darstellen. Sie sind eben keine unachtsamen Fehltritte einzelner prominenter Politiker, die durch nachgereichte Entschuldigungen oder gar Rücktritte aus der Welt zu schaffen wären. Sie sind vielmehr symptomatisch für den bereits seit einigen Jahren zu beobachtenden Niedergang der politischen wie auch medialen Kultur, in der gerade das Erzeugen von Aufgeregtheiten die sachliche und fundierte Auseinandersetzung sowie die korrekte Darstellung von Fakten immer häufiger verdrängt. In diesem fast schon permanenten öffentlichen Erregungszustand sinkt beinahe automatisch die Hemmschwelle, die Wirklichkeit zur Betonung der eigenen Interessen so zu interpretieren, bis sie passt. Gleichzeitig reduziert sich bei vielen Medienakteuren das grundlegende journalistische Bestreben, sich durch eine besonders große Sorgfalt mit bestimmten Themen nicht gemein zu machen und objektiv zu berichten. Die verbreitete Erregungs- und Aufschrei-Kultur – auch wenn sie sich zuweilen explizit gegen die Verdrehung von Realität wendet –  ist selbst ein Indiz für den Zerfall der politischen Debattenkultur. Um diesem entgegenzutreten, ist punktuelle Entrüstung nicht geeignet.

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