01.03.2006

Deutschlands Energieversorgung: Der Ausstieg ins Ungewisse

Essay von Heinz Horeis

Beitrag zur weltweiten Energiedebatte.

Deutschland ist der größte Energiemarkt Europas, und seit ein paar Jahren ist dieser, wie bild der wissenschaft im Oktober 2005 titelte, auch der „Bolzplatz der Nation“. Ein schlüssiges Energiekonzept gibt es nicht mehr, dafür aber viel Streit, Experimente, einander widersprechende Zielvorstellungen und steigende Kosten. Ein Ende dieses Durcheinanders ist nicht abzusehen. Verständlich ist deshalb der Stoßseufzer des Dr. Hans-Dieter Harig in einem Gespräch mit dem Wochenblatt Die Zeit vor drei Jahren: „Heute ist überhaupt nichts eindeutig“, so klagte der gelernte Ingenieur, damals noch Chef von E.ON, Europas größtem privaten Energieversorger, „sämtliche Produktionstechniken sind umstritten.“

 

„Die ‚überkommene Energiewirtschaft‘ liefert uns eine Lebensqualität, von der die meisten Bewohner dieses Planeten nur träumen können – dies sogar bei leicht sinkendem Energieverbrauch.“



Wohl wahr: In wohl keinem anderen Land der Welt wird die Energiefrage derart tiefgründig behandelt wie in Deutschland. Meist geht es gleich ins Grundsätzliche. Nicht Strom und Wärme sind das Thema, sondern Seinsfragen. Nicht das Machbare zählt, sondern die „große Lösung“. Der Sozialwissenschaftler Hermann Scheer, sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter, belebt in seinem jüngsten Buch Energieautonomie einen Antagonismus, der aus der Mottenkiste des großen Systemkampfs zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu stammen scheint. Da stehen die „jungen Technologien der erneuerbaren Energien“ der „alten überkommenen Energiewirtschaft“ und ihren „reaktionären Platzwärtern“ unversöhnlich gegenüber. Da will Scheer, Energieexperte seiner Partei, „die Strukturmacht des etablierten Energiesystems brechen und ihm den Weg zur künstlichen Existenzverlängerung versperren“. Und wer zweifelt, was danach kommt – für den leuchtet hell aus dem dunklen atomar-fossil Vergangenen die Zukunft aus Wind, Sonne und Biomasse.
Statt „mit begrenzten Geldmitteln“, so der heutige Ruheständler Hans-Dieter Harig, „ein Ziel so effizient wie möglich zu erreichen“, muss es gleich eine neue, blitzblanke Energiepolitik sein – koste es, was es wolle. Dabei liefert uns die „überkommene Energiewirtschaft“ eine Lebensqualität, von der die meisten Bewohner dieses Planeten nur träumen können. In den vergangenen Jahrzehnten hat der deutsche Bürger pro Energieeinheit stetig mehr Nutzen erhalten: größere Wohnfläche, bessere Heizung, bessere Ausstattung mit Haushaltsgeräten und Geräten der Unterhaltungselektronik, inklusive neuer Technologien wie Computer und Internet, höhere Mobilität, den Luxus, beim Essen wählerisch zu sein und, und, und.
All das gibt es bei gleich bleibendem, sogar leicht sinkendem Energieverbrauch: 1980 verbrauchte ein Bundesbürger das Äquivalent von 6,5 Tonnen Steinkohle (tSKE) an Primärenergie; 1991 – nun als Gesamtdeutscher – waren es nur mehr 6,2 Tonnen. Heute sind es knapp sechs Tonnen. Im gleichen Zeitraum aber stieg das reale Bruttoinlandsprodukt um 50 Prozent.
Diese Entkopplung von Primärenergieverbrauch und Wirtschaftswachstum wird auch in Zukunft weiter gehen. Nach einer im August veröffentlichten Studie von Prognos Basel und dem Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) in Köln wird das BIP zwischen 2002 und 2030 um fast die Hälfte wachsen. Im selben Zeitraum wird der Primärenergieverbrauch um mehr als 15 Prozent zurückgehen. Wichtigste Triebkraft der Entkopplung ist die steigende Energieeffizienz: Pro „Nutzeinheit“ wird ständig weniger Energie aufgewendet.
Wie produktiv hierzulande Energie genutzt wird, macht ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten deutlich: Dort benötigt jeder Bürger (unter Lebensbedingungen, die unseren im Großen und Ganzen gleichen) das Doppelte an Primärenergie (12 tSKE). Wir können uns also durchaus auf die Schultern klopfen.
Etwas anders sieht der historische Trend beim Stromverbrauch aus. Seit 1980 ist er pro Kopf um 17 Prozent gestiegen. Der Stromverbrauch korreliert also durchaus noch mit dem Wirtschaftswachstum. So ist wohl auch in Zukunft damit zu rechnen, dass wir mehr Strom benötigen. Der Zuwachs wird jedoch eher gering ausfallen, denn auch Strom wird effizient erzeugt und genutzt. In den Jahren 1991 bis 2002, so hat das DIW errechnet, ist die gesamtwirtschaftliche Stromproduktivität jährlich um 0,8 Prozent gewachsen.
 

„Es gibt, was die Verfügbarkeit von Erdöl angeht, keinen Grund zur Panik oder zu übereilten Entschlüssen.“



Wie lange reicht der Brennstoff?
Durchwachsener sind die Nachrichten, was Kosten für und Verfügbarkeit von Energie angeht: Im vergangenen Sommer gab es die „Ölpreisexplosion“ und damit auch steigende Preise für Erdgas. Natürlich meldeten sich auch diejenigen zu Wort, die das Ende des Ölzeitalters und den wirtschaftlichen Zusammenbruch nahe wähnten. Tatsächlich aber lag der Ölpreis – inflationsbereinigt – noch um etwa ein Drittel unter dem Höchstpreis aus den Jahren 1980/81. Da Öl seit jener Zeit zudem erheblich effizienter genutzt wird, ergibt sich nach Berechnungen des kanadischen Energieexperten Vaclav Smil ein effektiver Ölpreis, der nur 40 Prozent des damaligen Höchstwertes ausmacht. Zur Panik besteht also kein Grund, wie auch die moderate Reaktion der Börsen auf die Ölpreisentwicklung zeigt.
Auch die Preise für Strom sind gestiegen – vor allem aus politischen Gründen. Denn seit 1998 langt der Staat kräftig zu: über die Ökosteuer, die Vergütungen für erneuerbare Energien, die mit 8 Ct/kWh für Wind- und bis zu 62 Ct/kWh für Sonnenenergie erheblich über den Erzeugungskosten für Strom aus Kohle und Kernenergie liegen, über die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und andere Abgaben.
Der gesamte Staatsanteil, so rechnet die Elektrizitätswirtschaft gerne vor, mache inzwischen rund 40 Prozent der Stromrechnung aus. Gleichzeitig fahren aber auch die Energieunternehmen Rekordgewinne ein. Zahlen müssen vor allem die Haushalte, da die Unternehmen die Ökosteuer zu einem großen Teil zurückerhalten. Und der Strompreis wird in den kommenden Jahren weiter steigen. Prognos und EWI erwarten, dass sich der Großhandelspreis für Elektrizität bis 2010 verdoppelt, bezogen auf den Tiefststand zur Jahrtausendwende. Ursachen hierfür seien die Belastungen aus der Förderung der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung.
Fossile Brennstoffe werden den Energiesektor auch in den kommenden Jahrzehnten dominieren. Heute deckt Deutschland 84 Prozent seines Energiebedarfs mit Öl, Erdgas und Kohle, immerhin zehn Prozent weniger als vor 25 Jahren. Alle großen Industrienationen, angefangen mit den USA über England bis Japan, decken ihren Bedarf zu über 80 Prozent mit fossilen Brennstoffen. Lediglich Frankreich stellt eine Ausnahme dar: Aufgrund des großen Kernenergieanteils beträgt der fossile Anteil am französischen Primärenergiebedarf nur 53 Prozent. Daher emittiert Frankreich auch weniger Kohlendioxid: sechs Tonnen pro Kopf und Jahr, verglichen mit zehn Tonnen bei uns und zwanzig Tonnen in den USA.
Die vorhandenen Reserven an fossilen Brennstoffen reichen weit über die kommenden Jahrzehnte hinaus. Beim Öl sind Engpässe laut Prognos erst gegen Ende des Jahrhunderts zu erwarten, auch wenn der Scheitelpunkt der konventionellen Erdölförderung nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) zwischen 2015 und 2035 erreicht sein könnte. Doch sollte man derartige Aussagen nicht allzu ernst nehmen, denn die Geschichte der Vorhersage von Scheitelpunkten der Ölförderung ist eine Geschichte der falschen Prognosen. Bislang hat sich der Zeitpunkt, für den jeweils der Höhepunkt der Förderung prognostiziert wurde, immer wieder in die Zukunft verschoben.
Doch selbst ein frühzeitiger Scheitelpunkt in der weltweiten Ölförderung hätte kaum die gewaltigen Wirtschaftskrisen oder Rohstoffkriege zur Folge, wie sie von „Katastrophisten“ gerne beschworen werden. Die Ölreserven werden allmählich und im Verlaufe von Jahrzehnten abnehmen. Steigende Preise werden zum Teil durch eine steigende Effizienz in der Ölnutzung kompensiert; mehr und mehr nicht-konventionelle Erdölreserven wie Ölschiefer und Teersände werden erschlossen.
Bei nüchterner Betrachtung gibt es also, auch was die Verfügbarkeit von Erdöl angeht, wenig Grund zur Panik oder zu übereilten Entschlüssen.


Das gilt vor allem auch für die Kohle. Deutschland ist noch immer „das Land der Kohle“, zumindest, wenn es um Strom geht. Die Hälfte unseres Stroms stammt aus Stein- und Braunkohle. Die Kohle haben wir mit China gemein. China erzeugt bis zu vier Fünftel seines Stroms aus dem „schwarzen Gold“ und verfügt über immense Vorräte, die weit über dieses Jahrhundert hinausreichen. Die Reichweite der weltweiten Kohleressourcen, bezogen auf die heutige Jahresförderung, wird auf fast 1500 Jahre geschätzt. Man erwartet daher für die nächsten Jahrzehnte, dass die Preise niedrig und stabil bleiben.
In Deutschland hat sich der Anteil der Kohle an der Elektrizitätserzeugung in den vergangenen 25 Jahren um zehn Prozent verringert; die aus Kohle erzeugte Strommenge ist allerdings um ein Drittel gestiegen – von 205 TWh im Jahre 1980 auf 273 TWh im Jahre 2003. Viel wird sich daran in absehbarer Zukunft nicht ändern. Für die nächsten 20 bis 30 Jahre wird man auf Kohlestrom nicht verzichten können.
Trotz ihrer großen Bedeutung ist die Kohle in Deutschland ein ungeliebtes Schmuddelkind. Dabei bietet vor allem die Braunkohle für Deutschland einige unbestreitbare Vorteile: Sie wird im Lande gefördert, sichert Arbeitsplätze und liefert billigen und preisstabilen Strom. Die heimischen Vorräte reichen selbst bei Verdopplung des heutigen Verbrauchs noch mindestens 120 Jahre. Und wie man am Beispiel der Lausitz sehen kann, lassen sich die ausgebeuteten Tagebaustätten rasch in „blühende Landschaften“ verwandeln.
Braunkohle setzt bei Verbrennung allerdings ein Drittel mehr Kohlendioxid (CO2) frei als Steinkohle und fast dreimal so viel wie Erdgas. An diesem Problem lässt sich mit effizienteren Kraftwerken arbeiten. Vattenfall Europe betreibt im Osten Deutschlands die mit Abstand effizientesten Braunkohlekraftwerke Europas (Wirkungsgrad 43 bis 45 Prozent). Klaus Rauscher, Vorstandschef des Unternehmens, hält 53 Prozent für durchaus erreichbar.
 

„Große Verwerfungen wären für die Energieversorgung Deutschlands nicht abzusehen, wenn es da nicht den beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie gäbe.“



In den nächsten 20 Jahren müssen in Deutschland, je nach Restlaufzeit der Kernkraftwerke, bis zu 40 Gigawatt an Kraftwerkskapazität ersetzt werden. Nach der Prognos/EWI-Studie geht das mit einem erheblichen technischen Fortschritt einher: „Bei fossilen Kraftwerken und Kernkraftwerken“, so heißt es in der Studie, „besteht ein erhebliches Potenzial zur Steigerung der Wirkungsgrade, Senkung der Kosten, Verringerung der Schadstoffemissionen und zur Erhöhung der Sicherheit.“
Geplant sind effizientere Kohle- und Erdgaskraftwerke, bei denen durch höhere Wirkungsgrade Brennstoffeinsatz und Kohlendioxidemissionen pro erzeugte Energieeinheit deutlich sinken. In diesem Jahr soll der Grundstein für sechs Kohlekraftwerke gelegt werden, die nach dem Konzept „Referenzkraftwerk NRW“ ausgelegt sind. Ihr Wirkungsgrad beträgt 45,9 Prozent; man rechnet mit Stromerzeugungskosten von etwa 3,5 Ct/kWh. Das liegt erheblich unter den Kosten für Strom aus Wind (8 Ct/kWh) und Sonne (etwa 60 Ct/kWh).
Die alten Kohlekraftwerke haben im Schnitt einen Wirkungsgrad von 40 Prozent; neue Kraftwerke sparen deshalb erhebliche Mengen an Kohlendioxid ein. Verstromte man die heute eingesetzte Kohle mit einem um ein bis drei Prozent erhöhten Wirkungsgrad, so schätzen Fachleute, könnte das in etwa soviel Kohlendioxid einsparen wie der Einsatz der bis heute installierten Windenergieanlagen.
Effizientere Kohlekraftwerke dürften gute Exportchancen bieten. Nicht nur, weil die meisten weltweit vorhandenen Kohlekraftwerke veraltete Dreckschleudern sind, sondern auch, weil Länder wie China in Zukunft auch erheblich mehr Kohle verstromen werden. Durch Ersatz und Modernisierung betagter Steinkohlekraftwerke ließen sich weltweit CO2-Emissionen von rund 1,5 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr vermeiden.
Kohlendioxidfreie fossile Kraftwerke sind noch Zukunftsmusik. Aber immerhin plant das Energieunternehmen Vattenfall Europe südöstlich von Berlin den Bau einer Pilotanlage für kohlendioxidfreien Strom aus Braunkohle. Die 30-MW-Anlage soll im Jahr 2008 in Betrieb gehen. Und ab 2020 könnte das kohlendioxidfreie Kraftwerk kommerziell einsatzfähig sein.


Aussteigen, aber wohin?
Große Verwerfungen wären also für die Energieversorgung Deutschlands nicht abzusehen, wenn es da nicht den beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie gäbe. Der Beschluss ist von grundsätzlich-weltanschaulicher Natur; ein zwingender praktischer Grund liegt dafür nicht vor. Die deutschen Kernkraftwerke zählen zu den sichersten der Welt. Sie liefern seit Jahrzehnten zuverlässig billigen Strom und können dies auch noch in den kommenden Jahrzehnten. Diese Kraftwerke, die ein erhebliches volkswirtschaftliches Vermögen darstellen, vor dem Ende ihrer möglichen Lebenszeit aufzugeben, wäre blanke Verschwendung. Einem Land mit einer öffentlichen Schuldenlast von 1,5 Billionen Euro, in dem es an allen Ecken und Enden mangelt, stünde das nicht gut zu Gesicht.
Für die 16.000 Windräder, die sich derzeit überall in Deutschland drehen, wurden bislang rund 20 Milliarden Euro ausgegeben. Dafür erhält der Verbraucher Strom, den er auch ohne die Windräder gehabt hätte, nur muss er für diesen Strom nun erheblich mehr zahlen. Dieser Mehrbetrag macht derzeit über eine Milliarde Euro pro Jahr aus – Tendenz steigend. Weniger Kohlendioxid wird auch nicht freigesetzt, denn die Kernkraftwerke, die man durch Windräder ersetzen will, erzeugen gar kein CO2. Wo also liegt der Nutzen der Windkonverter? Er liegt, pointiert ausgedrückt, darin, Geld aus den Taschen aller Bürger in die Taschen der wenigen Betreiber, Erbauer und Investoren zu schaufeln.
Geld aber lässt sich nicht zweimal ausgeben. Die Milliarden, die in die erneuerbaren Energiequellen fließen, fehlen an anderer Stelle. Anstatt in Windkonverter könnte man sie zum Beispiel in Forschung und Bildung investieren. Viele unserer Schulen und Universitäten sind maroder als die betagtesten Kohlekraftwerke. Gesunder Menschenverstand und haushalterisches Denken sprechen also dafür, zumindest die Laufzeiten der Kernkraftwerke einzuhalten und zu verlängern. Selbst ein Windkraftanlagenbauer wie Fritz Vahrenholt, SPD-Mitglied und ehemaliger Umweltsenator in Hamburg, sagte im Januar im Hamburger Abendblatt: „Der Ausstieg war ein Kurzschluss!“


Bleibt es aber beim Ausstieg, muss Ersatz her. Zu ersetzen sind 18 Kernkraftwerke (zwei sind bereits abgeschaltet), die zusammen nahezu 30 Prozent des deutschen Stroms erzeugen. Erreichen will die Fraktion der Aussteiger dieses Ziel durch die drei E’s: Energieeinsparung, Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Es geht dabei ordnungspolitisch hoch her: Gesetze wie das Erneuerbare-Energie-Gesetz (EEG) schützen die neuen Energien vor dem Markt; steuerpolitische Maßnahmen („Ökosteuer“) verteuern Energie mit dem Ziel einer „nachhaltigen Umsteuerung der Nachfrage“. Es gibt Energiesparverordnungen, Wärmeschutzverordnungen, Heizanlagenverordnungen, Verordnungen zur Ökosteuer-Rückerstattung, Stromsteuerdurchführungsverordnungen, Förderprogramme und Markttransformationsprogramme und, wenn man den Vorschlägen des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie folgt, bald wohl auch EE-DSM-Programme (EE steht für Energieeffizienz und DSM für „demand side management“).
Dennoch ist absehbar, dass Sparen und effiziente Nutzung die künftige Lücke nicht schließen können. Energie wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten effizient genutzt. Dieser Prozess wird auch in Zukunft weitergehen, aber nicht als „Effizienzrevolution“ sondern als „Effizienzevolution“. Große Sprünge sind nicht zu erwarten. Vollkommen unrealistisch war das Ausstiegsszenario des rot-grünen Bundesumweltministeriums aus dem Jahre 2003. Es sah vor, den Stromverbrauch bis 2020 um die Hälfte zu verringern und so den Kernenergiestrom überflüssig zu machen. Eine grundsolide Studie zum Thema CO2-Vermeidungskosten, erarbeitet am Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik der TU München, kam allerdings zu dem Schluss, dass sich der Stromverbrauch bis 2020 nur um maximal fünf Prozent mindern lasse.
Immer wieder gerne wird die schöne Mär von den stromfressenden „Standby“-Geräten wiedergekäut, wenn man das große Einsparpotenzial belegen will. Danach seien bis zu drei Kernkraftwerke überflüssig, wenn man die Standby-Funktion in Haushaltsgeräten ausschalten würde. Das klingt toll. Aber eine kurze Rechnung auf der Rückseite eines Briefumschlages ergibt, dass in jedem Haushalt zwischen fünfzig und hundert Fernseher, Videorekorder, Computer etc. stehen müssten, damit es mit dieser Aussage seine Richtigkeit hätte. Da läuft die Wirklichkeit dem Wunsch noch weit hinterher.


Was bringen Wind und Sonne?
Bleibt das dritte E, die erneuerbaren Energien, hier vor allem Wind und Sonne. Der Umfang ihrer Stromerzeugung müsste sich in den kommenden zwei Jahrzehnten etwa verfünffachen, um die Lücke zu schließen.
Sicher ist: Solarstrom wird dazu verschwindend wenig beitragen können. Heute kostet eine Kilowattstunde Sonnenstrom 50 bis 60 Cent – 10- bis 15mal so viel wie der durch Kernspaltung oder Kohle erzeugte Strom. Aussicht auf Konkurrenzfähigkeit hätte die Photovoltaik nur, wenn sich der Wirkungsgrad durch technologische Sprünge nicht um Prozente, sondern um Faktoren verbessern ließe. Derartige technologische Wunder sind im wahren Leben sehr, sehr selten und auch für den Solarstrom derzeit nicht absehbar. Schließlich hat die Forschung nicht erst gestern begonnen, sondern läuft schon seit über drei Jahrzehnten.
Das heißt, Solarstrom bleibt vor allem teuer, wie auch die oben genannte Münchner Studie zeigt: Ein fiktiver Ausbau der Photovoltaik auf das Niveau der heutigen Windenergie unter den Bedingungen des EEG würde die Stromkunden (und die Volkswirtschaft) zusätzlich acht Milliarden Euro pro Jahr kosten.
Bleibt der Wind: Dank kräftiger Subventionierung stehen in deutschen Landschaften inzwischen mehr als 16.000 Windräder mit einer installierten Kapazität von 16.000 Megawatt. Sie speisen rund 25 Milliarden kWh ins Netz (2004) und liefern damit rund vier Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms – nicht gerade viel angesichts des massiven Aufwandes. Immerhin hat sich die Windkrafttechnik in ihrem Schonraum, unbelästigt von Wettbewerb und Marktdruck, gut entwickeln können. Eigentlich wäre es an der Zeit, dass sich das gehätschelte Kind nunmehr auch im wirklichen Leben behauptet. Darauf wies auch Hans-Jürgen Cramer, Chef der damaligen Hamburger Elektrizitätswerke (HEW), in einer Diskussionsrunde über hohe Strompreise hin: „Die Windenergie ist technisch ausgereift, voll wettbewerbsfähig und deshalb nicht mehr förderungswürdig.“
 

„Heutige Windkraftanlagen haben nichts mehr mit den frühen ‚Small is beautiful‘-Träumereien der grünen Bewegung zu tun.“



Solche Forderungen hört man in Windkreisen nicht gerne, denn aufgrund der geringen Energiedichte bleibt Windenergie systembedingt teuer. Darüber sollte auch die Zahl von 16.000 Megawatt installierter Kapazität nicht hinwegtäuschen. Damit ersetzt man keine 16 Kernkraftwerke. Denn Windkonverter in Deutschland, so zeigt die Praxis, arbeiten im Schnitt nur mit 18 Prozent ihrer installierten Kapazität, Kernkraftwerke hingegen mit bis zu 90 Prozent.
Vergleicht man Windkonverter und Kernkraftwerke unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Verfügbarkeit miteinander (wohlmeinende 20 Prozent für den Wind und geringschätzige 80 Prozent für die Kernenergie angenommen), so ergibt eine einfache Rechnung, dass ein Megawatt an installierter Windleistung tatsächlich nur 200 Kilowatt entspricht. Auf einer modernen Windkraftanlage (WKA) mag zwar „3 MW“ stehen, „drin“ sind aber nur 0,6 MW! Die zahlreichen bislang errichteten Windräder ersetzen deshalb nicht mehr als drei herkömmliche Kernkraftwerke.
Viele tausend Windräder müssten deshalb in Deutschland noch hochgezogen werden, um die Lücke zu füllen, die der Atomausstieg reißen wird. Damit hat der Einsatz der erneuerbaren Energien eine wichtige Erkenntnis gebracht: Heutige WKAs haben nichts mehr mit den frühen „Small is beautiful“-Träumereien der grünen Bewegung zu tun. Sie sind Großtechnik, benötigen ein großtechnisches, ausgedehntes Übertragungsnetz und führen zu einer weiträumigen Industrialisierung gewachsener Kulturlandschaften. Das stößt auf Unmut bei Bürgern, auch im deutschen Feuilleton: So befand der Kolumnist Harald Martenstein, sonst für die komischen Seiten des Lebens zuständig, in der Zeit, er habe seine alte Heimat Rheinhessen überhaupt nicht mehr wieder erkannt vor lauter Windrädern: „Die rot-grüne Regierung hat Deutschland landschaftlich-baulich so stark verändert wie keine andere Regierung.“ Und auch Jürgen Trittin räumte 2004 – widerwillig zwar – gegenüber Spiegel-Reportern ein: „Es gibt in der Tat einen Nutzungskonflikt zwischen Erhalt der Natur und der Förderung einer erneuerbaren Energie.“
Ein Beispiel: Auf dem Hunsrück, einem typischen deutschen Mittelgebirge, stehen inzwischen 40 Windräder. Bereits diese wenigen Anlagen stoßen auf starken Widerstand von Anwohnern, Bürgermeistern und Gemeinderäten, denen die noch recht intakte Kulturlandschaft des Hunsrücks am Herzen liegt. Diese Bürger (laut Hermann Scheer „reaktionäre und fundamentalistische Landschaftsschützer“) lassen sich auch von lukrativen Pachtangeboten nicht ködern. Zu Füßen des Hunsrücks findet sich bei Koblenz das aus formalen Gründen stillgelegte Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich. Um dieses zu ersetzen, müssten sich auf den Hunsrückhöhen je nach Leistung um die 1000 bis 2000 Windräder drehen! Das wäre schlicht nicht machbar.


Dieser Vergleich macht deutlich, welche immensen Flächen notwendig wären, wenn sich eine moderne Industriegesellschaft vor allem mit erneuerbarer Energie versorgen wollte. Er zeigt auch, dass Kernenergie „Freiheit“ bedeutet – die Freiheit, große Flächen freizuhalten und die Schönheit von Natur- und Kulturlandschaften bewahren zu können.
Die rot-grüne Regierung hatte vor, die installierte Windenergiekapazität bis 2020 auf 54.000 Megawatt mehr als zu verdreifachen. Allerdings geht aus einer Anfang 2005 von der Deutschen Energie-Agentur veröffentlichten Studie hervor, dass 50 Gigawatt an Windenergie nicht in das bestehende Netz zu integrieren seien. Der größte Zuwachs ist für den Offshore-Bereich geplant. Das bedeutet: Etwa 5000 bis 8000 „Monstermühlen“ (Kapazität 5 MW, Rotordurchmesser über 100 Meter) müssten vor Nord- und Ostseeküste installiert und 800 bis 1000 Kilometer an neuen Überlandleitungen verlegt werden, denn die Verbraucher sitzen vor allem im Süden des Landes.
Eine Arbeitsgruppe der Hamburger Universität hat durchgerechnet, welche Kosten für Offshore-Windanlagen mit insgesamt 25 Gigawatt an installierter Leistung zu erwarten sind. Das Ergebnis der im August 2005 veröffentlichten Studie ist ernüchternd: ein Investitionsbedarf von 62 Milliarden Euro und jährliche Mehrkosten (zu zahlen vom Verbraucher) von rund sieben Milliarden Euro! „Wohlfahrtsverluste“, so die Hamburger Studie, seien als Folge dieses Ausbaus zu erwarten.
Solche Pläne sind illusionär. Das schien selbst der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin gegen Ende seiner Amtszeit gemerkt zu haben. Während einer Fraktionsklausur seiner Partei im Januar 2005 pries er die Kombination von „erneuerbaren Energien, effizienten fossilen Kraftwerken und Energieeinsparung“ als Lösung an. Erdgaskraftwerke seien dabei zu bevorzugen, ein Vorschlag, der mit dem jüngsten Erdgasstreit allerdings an Charme verloren hat.


Bleibt es beim Ausstieg aus der Atomenergie, werden also vor allem fossile Kraftwerke die Kernkraftwerke ersetzen müssen. Das ist immerhin besser und billiger, als weiterhin Tausende von Windrädern zu bauen und zu betreiben. Ohnehin müssen die Energieversorger bis 2020 rund 40 Milliarden Euro investieren, um alte Kohlekraftwerke durch neue zu ersetzen. Da kann man dann auch gleich noch ein paar mehr bauen.
 

„In vier Jahrzehnten Kernenergienutzung ist in Deutschland noch kein Mensch Opfer dieser Technik geworden.“



Zukunftsszenario
Die Verfechter der Energiewende versuchen mit unterschiedlichen Methoden und mit aller Macht, die erneuerbaren Energien in den Markt zu drücken. Der genialste Trick war natürlich der Ausstieg aus der Kernenergie. Dass man einen Hauptkonkurrenten per Gesetz aus dem Markt schiebt, davon träumt jeder schlechte Unternehmer. Damit nicht genug: Die Produzenten erneuerbarer Energien können zudem den Verbraucher per Gesetz dazu zwingen, ihr deutlich überteuertes Produkt auch noch zu kaufen.
Warum hat sich der Bürger auf diesen Kuhhandel überhaupt eingelassen? Da helfen Zuckerbrot und Peitsche. Zuckerbrot ist das lockende Bild einer krisenfreien, umweltfreundlichen und nachhaltig erneuerbaren Welt. Mit dem massiven Ausbau der Windenergie beginnt dieser Lack allerdings abzublättern, und eine genauere Analyse, die hier jetzt nicht zu leisten ist, würde zeigen, dass erneuerbare Energien genauso ihre Nachteile haben wie andere Energiequellen. Als Peitsche dienen drei „apokalyptische Reiter“, die angeblich das Leben auf der Erde bedrohen. Diese sind:


Die baldige Erschöpfung der fossilen Energievorräte. Das ist, wie bereits erläutert, kein akutes Problem und kann nicht das Hauruckverfahren rechtfertigen, mit dem Wind, Sonne oder Biomasse zu hohen Kosten ausgebaut werden. Zudem erschöpfen sich Vorräte langsam und stetig; die üblichen Kräfte des Marktes werden dann schon Lösungen finden.


Die gefährliche Kernenergie. Kaum ein Mythos hält sich hartnäckiger als dieser, obwohl die praktische Erfahrung das Gegenteil zeigt. In vier Jahrzehnten Kernenergienutzung ist in Deutschland noch kein Mensch Opfer dieser Technik geworden. Dafür starben im vergangenen Jahr vier Menschen in einer niedersächsischen Biogasanlage. Selbst die Explosion des Reaktors in Tschernobyl (das Schlimmste, was bei der Energieerzeugung durch Kernenergie passieren kann) vor 20 Jahren hat gezeigt, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie eher zu den geringeren zivilisatorischen Risiken zählt. Nach einem Bericht, den eine von der UNO einberufene Gruppe aus 100 Wissenschaftlern im vergangenen September vorlegte, sind etwa 50 Menschen direkt durch die Strahlenwirkung an der Unfallstelle verstorben. Etwa 3900 weitere Todesfälle lassen sich im Verlauf der nächsten Jahrzehnte wahrscheinlich mit Tschernobyl in Verbindung bringen. Dies betrifft Menschen, die aufgrund einer erhöhten Krebserkrankungsrate verfrüht sterben könnten. Diese Zahlen sind nicht schön, liegen aber immer noch weit unter der Zahl von Toten und Verletzten, die pro Jahr auf Deutschlands Straßen zu beklagen sind.


Der Klimawandel. Schuld daran soll vor allem das Kohlendioxid sein, das bei der Nutzung fossiler Brennstoffe freigesetzt wird. Darin, so heißt es, seien sich alle maßgeblichen Wissenschaftler einig (einig waren sich auch „alle maßgeblichen Wissenschaftler“, als es in Deutschland um das „Waldsterben“ ging. Das Ergebnis ist bekannt; siehe Novo79). Wie auch immer: Das CO2 ist da, und man muss sich mit der Frage nach seinen Auswirkungen auseinandersetzen. Aber warum muss „Wandel“ auch gleich „Katastrophe“ bedeuten? Die Welt wird am Klimawandel nicht zugrunde gehen; und die Menschheit auch nicht. Im schlimmsten Fall wird es wärmer werden. Das wird Probleme für bestimmte Regionen der Welt bringen, andere werden davon profitieren. Vielleicht wird sich irgendwann die Erwärmung sogar als Segen herausstellen, weil sie die Erde vor einer neuen Eiszeit bewahrt.


Was folgt daraus? Fragt man nach pragmatischen Lösungen, so bietet sich für die kommenden zwei, drei Jahrzehnte Folgendes an:

  • Die Errichtung neuer effizienter Kohlekraftwerke bringt billigen Strom und Versorgungssicherheit.
  • Der Ausstieg aus der Kernenergie war „ein Kurzschluss“, und es wäre töricht, ihn nicht rückgängig zu machen. Auch die Restlaufzeiten sollten bei entsprechender Nachrüstung verlängert werden. Das sichert nicht nur eine günstige Versorgung mit Strom, sondern auch kerntechnisches Know-how. Ob jemals wieder neue Kernkraftwerke in Deutschland gebaut werden, wird man später sehen. Wenn nic• werden wir wahrscheinlich Nuklearstrom aus Ländern östlich der Oder beziehen. Angeblich sollen namhafte europäische Kraftwerksbauer diese Möglichkeit bereits eruieren.
  • Neue Wind- und Solarenergieanlagen sollten nicht weiter über das EEG subventioniert werden. Das gilt auch für die Biogasenergie, die auf absehbare Zeit sogar unwirtschaftlicher bleiben wird als die Windenergie. Die Photovoltaik ist dafür einfach zu teuer, und die Windenergie ist inzwischen technisch soweit, dass sie auf eigenen Füßen stehen sollte. Hängen diese Technologien weiter am Tropf, wird die Subventionsabhängigkeit zur ewigen Sucht. Beibehtn die übliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Sinnvoll wäre es auch, zwecks praktischer Erfahrung einen Offshore-Windpark zu fördern. Mehr wäre von Übel.



Damit käme Deutschland energetisch sicherlich gut durch die kommenden Jahrzehnte. Und dann? Da sieht der Windkraftunternehmer Fritz Vahrenholt erstaunliche Möglichkeiten. „Vielleicht schaffen wir es, in 30 Jahren die Fusionsenergie, die wahre Sonnenenergie, nutzbar zu machen“, sagte er gegenüber dem Hamburger Abendblatt. „Unseren Ingenieuren traue ich das zu. Wenn man sie lässt.“

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