07.08.2017

„Demokratie ist nie der leichteste Weg“

Interview mit Mick Hume

Titelbild

Foto: Fernando Butcher via Flickr / CC BY 2.0

Brexit-Entscheidung und Trump-Wahl haben antidemokratische Ressentiments in der politischen Elite offenbart, die man schon seit Platon kennt. Buchautor Mick Hume bricht eine Lanze für das Volk.

Marco Visscher: Herr Hume, kürzlich ist Ihr Buch „Revolting! How the Establishment Are Undermining Democracy and What They’re Afraid Of“ erschienen. Als vehementem Verfechter der Demokratie dürfte Ihnen deren gegenwärtige Krise nicht behagen.

Mick Hume: Freilich kann man behaupten, dass sich die Demokratie in einer Krise befände – wie es unter Intellektuellen momentan gang und gäbe ist. Aber genauso gut lässt sich sagen, dass gerade eine demokratische Revolte stattfindet, und das stimmt mich positiv. Das Ergebnis des britischen Referendums über die Europäische Union kann man letztlich als Ruf nach mehr Mitbestimmung in der Politik verstehen.

Das Ergebnis dieses Referendums hat zu immer lautstärkerer Kritik an der Demokratie geführt, erst recht seit der Wahl Donald Trumps.

Das stimmt, es herrscht eine sehr starke antidemokratische Stimmung vor: Rückblickend ist man enttäuscht, dass auch normale Menschen bei diesen Abstimmungen eine Stimme hatten und dass sie ein ums andere Mal vermeintlich „falsche“ Entscheidungen getroffen haben. Deshalb werden jetzt alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zukünftig zu verhindern: Bürger müssen besser informiert werden, Fake News soll es an den Kragen gehen.

Was ist daran verkehrt? Demokratie kann doch nur durch richtige Informationen in einer offenen Debatte funktionieren.

Es ist doch absurd anzunehmen, dass die Demokratie durch unrichtige Berichterstattung in Boulevardzeitungen bedroht wäre oder durch bloggende Teenager, die auf Facebook erfundene Meldungen verbreiten. Da scheint durch, dass man den Leuten den Verstand abspricht, den Wert von Informationen einzuschätzen, nachzudenken und sich selbst ein Urteil zu bilden. Die Gefahr besteht nicht in Fake News, sondern in einer Fake-Demokratie. Das Problem sind nicht lügende Politiker oder Journalisten, sondern die etablierte Ordnung, die Wähler in ihrem Denken umerziehen will, ihnen sagen will, was sie zu wissen und zu glauben haben. So wird die freie Debatte im Namen der Demokratie beschnitten. Wo soll das noch hinführen?

„Wer von der Demokratie überzeugt ist, hat das Ergebnis einer Volksabstimmung zu akzeptieren.“

Warum so schroff? Es hat doch niemand die Absicht, die Demokratie abzuschaffen?

Jeder behauptet natürlich, für die Demokratie zu sein, erweist ihr damit aber oft nur ein Lippenbekenntnis. Wie sonst könnte es sein, dass undemokratischen, ungewählten Institutionen immer mehr Macht übertragen wird? Das sind Einrichtungen, deren Zweck allein darin besteht, Politik undurchsichtig und unverständlich zu gestalten und so normale Menschen fernzuhalten. Politische Macht verschiebt sich nämlich zunehmend von den nationalen Parlamenten zur EU und zu internationalen Gerichtshöfen. Wie ernst meint man es dann wirklich mit der Demokratie? Nachdem die Briten ausweislich einer Volksabstimmung von der EU die Nase voll haben und die Amerikaner jemanden wie Trump zum Präsidenten gewählt haben, zeigt sich auf einmal, was die politische und kulturelle Elite wirklich von der Demokratie hält – nämlich gar nichts.

Bezieht sich diese Kritik Ihres Erachtens auf die Demokratie als solche und oder nur auf diese aktuellen Ergebnisse demokratischer Prozesse?

Auf beides natürlich. Wer von der Demokratie überzeugt ist und eine Volksabstimmung oder Wahl durchführt, hat das Ergebnis zu akzeptieren, ob es einem nun passt oder nicht. Man darf gerne inhaltliche Vorbehalte artikulieren, aber man darf nicht versuchen, das Resultat hintenrum zu ignorieren oder zu torpedieren.

Denken Sie da an einen Tony Blair, der Anfang des Jahres seine Landsleute aufrief, sich dem Brexit zu widersetzen?

Ja, aber Blair übersieht das Wesentliche: Seine Landsleute haben sich bereits widersetzt, nämlich ihm und seinen Kumpels von der Kampagne gegen den Brexit. Blair steht damit nicht allein. Milliardäre, Anwälte und Mitglieder des Oberhauses probieren nach wie vor, das Abstimmungsergebnis beiseitezuschieben. Einem anderen früheren Premierminister, John Major, zufolge, bräuchte man dieses Ergebnis nicht zu akzeptieren, weil die Tyrannei der Mehrheit in einer Demokratie noch nie durchgesetzt worden sei. Ach, und ich habe immer gedacht, dass der Mehrheitswille den Kern der Demokratie ausmacht.

Vielleicht ist gemeint, dass in einer parlamentarischen Demokratie das Parlament die Entscheidungen zu treffen hat, auch wenn man ein Referendum anberaumt.

Warum hat man dann vorher versprochen, das Ergebnis hinzunehmen? Und vor allem: Warum haben dieselben Akteure nicht die parlamentarische Demokratie verteidigt, als sie in den vergangenen vierzig Jahren immer mehr durch die EU unterminiert wurde? Das ist nur ein opportunistischer Versuch, Demokratie umzudefinieren, weil man nicht verstehen oder akzeptieren will, dass man verloren hat. Dass das Volk es gewagt hat, ihren Rat in den Wind zu schlagen und nicht gemacht hat, wie ihm geheißen, verbittert diese Leute über alle Maßen.

„Antidemokraten sind im Grunde ihres Herzens gegen die Menschen, gegen die Masse, gegen das Volk, das ihnen schlicht zu dumm ist.“

Denken Sie dabei an Amerikaner, die darauf hinweisen, dass Clinton mehr Wählerstimmen erhalten hat als Trump und deshalb Präsidentin hätte werden müssen?

Ja, das ist ebenfalls ein gutes Beispiel. Die Kritiker, die das Wahlmännerkollegium ungerecht und undemokratisch finden, haben vollkommen recht. Aber warum kommen sie erst nach der Wahl damit an? Dieses System hat alle vorangegangenen US-Präsidenten hervorgebracht und da hat sich keiner beschwert. Die Kritiker wollen den Eindruck erwecken, es ginge ihnen ums Prinzip oder um ein bedeutendes Ideal. Tatsächlich herrscht nur der Kleingeist. Nur weil das System diesmal den „verkehrten“ Kandidaten ins Präsidentenamt gebracht hat, beschweren sie sich. Es geht ihnen nämlich gar nicht um die Verteidigung der Demokratie, auch wenn sie das behaupten. Bizarrerweise wollen sie die Demokratie gegen die Menschen verteidigen. Denn Antidemokraten sind im Grunde ihres Herzens gegen die Menschen, gegen die Masse, gegen das Volk, das ihnen schlicht zu dumm ist. So hat die britische Tageszeitung The Guardian T-Shirts mit der Aufschrift „Never underestimate the power of stupid people in large numbers“ drucken lassen („Man sollte niemals die Macht einer großen Zahl von Dummen unterschätzen“). Deutlicher kann man seine Abneigung gegenüber dem Volk nicht ausdrücken.

Na ja, so was würde hier keine Zeitung tun.

Ach, das könnte mich auch nicht mehr überraschen. Die Maske ist gefallen und das ganze Gift, das die ganze Zeit darunter verborgen lag, kommt nun zum Vorschein. Man sieht nun, wie dünn der Schleier war.

Sie selbst haben für den Brexit gestimmt und sind vielleicht auch Trump-Anhänger.

Hören Sie, ich war und bin absolut pro Brexit, aber ich bin kein Trump-Anhänger. Ich hätte Trump nie gewählt. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe. Beim Referendum konnte ich für ein allgemeines, positives demokratisches Prinzip votieren, aber ein engstirniger Politiker wie Trump kriegt nie meine Stimme. Es ist bezeichnend für die moderne antidemokratische Stimmung, dass der Brexit und Trump über einen Kamm geschert werden, am besten mit Marine Le Pen, Geert Wilders oder auch noch Syriza und Podemos zusammen. Das offenbart Denkfaulheit.

Inwiefern? Geht es nicht in allen Fällen um eine populistische Strömung?

Aber was verbindet denn diese Fälle inhaltlich? Nichts. Die einzige Gemeinsamkeit dieser Politiker besteht darin, dass sie die Eliten verabscheuen. Schon der Begriff „Populismus“ dient als Konstrukt dazu, auf die Gefahren von Demokratie hinzuweisen. Populismus geht auf das lateinische Wort populus zurück, das Volk. Die Lexika in meinem Bücherregal umschreiben Populismus als eine Politik, die normale Menschen anspricht oder die ihnen gibt, was sie wollen. Und das scheint mir nun nicht gerade eine abwegige Idee zu sein.

„Die Elite hat zwar die Kontrolle verloren, unserem Sprachgebrauch drückt sie aber noch einen deutlichen Stempel auf.“

Geben denn Populisten wie Donald Trump, Nigel Farage oder Marine Le Pen den Menschen, was sie wollen?

Nein, nicht wirklich, und in aller Klarheit: Ich bin kein Anhänger auch nur eines der Genannten. Aber darauf kommt es hier nicht an. Es geht vielmehr darum, dass sie sich selbst nicht als populistisch bezeichnen. Dieser Begriff ist nämlich zur Beleidigung geworden, wenngleich antielitäre Parteien vor hundert Jahren ihn noch voller Stolz verwendeten. Heute ist er zum Etikett verkommen, das die etablierten Kräfte jeder Partei anhängen, die ihre Werte ablehnt und die ihre Anhänger unter Unzufriedenen findet. Es stellt sich also die Frage: Wer entscheidet denn, was Populismus ist und was anständige Politik? Das entscheidet die politische und kulturelle Elite. Sie hat zwar auf breiter Front die Kontrolle verloren, unserem Sprachgebrauch drückt sie aber noch einen deutlichen Stempel auf. Wer Populist ist, bestimmt die Elite. Sie versucht, Politik zu steuern, indem sie die politische Sprache steuert, genau wie George Orwell es in seinem Buch „1984“ beschrieben hat.

Wo wir schon bei Begriffen sind: Wen meinen Sie mit Elite?

Ich verstehe darunter diejenigen Politiker und Intellektuellen, die sich aktiv in die öffentliche Debatte einbringen und dazu neigen, sich selbst über die Gesellschaft zu erheben, weil sie alles besser wissen.

Macht das nicht die Elite aus, höher gebildet zu sein, sich besser informieren zu lassen und dadurch tatsächlich über besseres Wissen zu verfügen?

Diese Personen bilden nicht gerade eine Elite im besten Sinne, also aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Talente. Sie operieren vielmehr als Elite im schlechtesten Sinne, nämlich als eine Klasse der Einflussreichsten und Mächtigsten in der Gesellschaft. Sie glauben zu wissen, was für alle anderen das Beste ist, egal, was diese anderen wollen.

Und wie würden Sie Demokratie definieren?

Das griechische Wort demokratia stammt vom demos, dem Volk, und kratos, der Macht oder Herrschaft. In einer Demokratie kommt beides zusammen. Das Problem liegt darin, dass das derzeitige System zwar unter dieser Bezeichnung firmiert, an seiner Spitze aber Personen stehen, die den demos vom kratos abhalten wollen.

„Wir leben in einer sehr beschränkten Form von Demokratie.“

War das je anders?

Das ist eine gute Frage. Nach Auffassung mancher Historiker wäre es schwieriger und weniger interessant, die Geschichte der Demokratie schreiben als die Geschichte der Antidemokratie in der westlichen Welt. Denn seit der Entstehung der direkten Demokratie, vor 2500 Jahren in Athen, hat es heftigen Widerstand gegen sie gegeben, unter anderem von Platon. Damals war „Demokratie“ ein Schimpfwort. Man hat es verwendet wie heute vielleicht den Begriff „Pöbelherrschaft“.

Die amerikanischen Gründungsväter waren auch gegen die direkte Demokratie. Als sie der Demokratie neues Leben einhauchten, wollten sie alles andere als dem Pöbel Macht geben. Sie wollten vielmehr die repräsentative Demokratie, welche entgegen ihrer Bezeichnung nicht dem Zweck dienen soll, das Volk zu vertreten, sondern es im Zaum zu halten. Daher rührt ein ganzer Strauß an Institutionen, wie das System mit den Wahlmännern, gesteuert durch die Elite. Wir leben also schon eine sehr lange Zeit in einer sehr beschränkten Form von Demokratie.

In den letzten Jahrzehnten ist das nur noch schlimmer geworden. Und durch die Geschichte ziehen sich dieselben Argumente gegen die Demokratie: Menschen sind nicht klug genug, nicht vernünftig genug, zu emotional, zu gutgläubig, zu egoistisch. Das wurde immer angeführt, wenn das Wahlrecht ausgedehnt werden sollte, auf Arbeiter, auf Frauen, auf Schwarze.

Worin unterscheidet sich die heutige Gegnerschaft davon?

Man muss nicht mehr römischer Armeeführer, alter, konservativer Philosoph oder Mitglied des Königshauses sein, um verächtlich auf den Demos herabzublicken. Viele derjenigen, die die Demokratie „beschützen“ oder „erneuern“ wollen, betrachten sich als freidenkende, liberale Intellektuelle und Politiker. Und das bereitet mir als jemandem, der von links stammt, zusätzliche Sorgen.

Historisch betrachtet kam der Wunsch nach mehr Demokratie und mehr Macht für das Volk immer von der linken Seite des politischen Spektrums. Das war bei der Englischen Revolution der Fall, bei der Amerikanischen Revolution, bei der Französischen Revolution oder beim Frauenwahlrecht usw. Die politische Linke hat am konsequentesten für mehr Demokratie gekämpft – bis dann die stalinistische Tyrannei ins Bild kam. Heute aber haben die Linken den Kampf um die Demokratie aufgegeben. Linke Politiker und Intellektuelle haben keine Verbindung zur oder Vertrauen in die Arbeiterklasse mehr. Sie glauben nicht, dass man mit niedriger Gebildeten ein inhaltliches Gespräch führen kann. Sie fühlen sich viel wohler, wenn sie den Politikbetrieb in EU-Ausschüsse und auf internationale Gerichtshöfe verlagern können. Dass antidemokratische Vorstellungen von links kommen, ist ein neues Phänomen und eine Gefahr. Denn wenn progressive Denker sich nicht mehr für die Demokratie einsetzen, wer denn dann?

„David van Reybrouck will überhaupt nicht, dass normale Menschen etwas zu sagen haben.“

Der belgische Autor David van Reybrouck, ein progressiver, liberaler Denker, plädiert für eine demokratische Erneuerung, die Bürgern mehr Einfluss verleiht.

Ja, sein Buch „Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ ist mir bekannt. Es gibt den Zeitgeist wieder. Van Reybrouck sagt, dass wir zwar mehr Demokratie wollen, dass aber Wahlen nicht funktionieren, weil Politiker und Journalisten so viele Lügen und Unwahrheiten verbreiten, was zur Verwirrung im Volk und dadurch unbefriedigenden Ergebnissen führe.

Seine Idee, Bürger für politische Aktivitäten auszulosen, wie im antiken Athen, müsste Sie doch ansprechen.

Das klingt erst einmal attraktiv, keine Frage. Aber ich habe eine Schwierigkeit mit seinem Vorschlag. Sein Vergleich mit dem alten Athen geht nicht auf. Dort ist man damals davon ausgegangen, dass alle Bürger gleich sind – die Männer jedenfalls, nicht die Frauen und Sklaven, die keine Bürgerrechte genossen – und deshalb gleich geeignet, zu regieren.
Für van Reybrouck hingegen sind alle Menschen gleich und deshalb gleich ungeeignet, zu regieren. Er möchte nämlich, dass das Volk keine entscheidende Stimme mehr hat. Er will ein paar Bürger herausgreifen und sie in ein Zimmer voller Experten einschließen, wo sie die „richtigen“ Informationen erhalten, bevor sie ihre „informierte“ Entscheidung treffen.

Das klingt doch vernünftig.

Die Frage ist aber: Wer liefert die Informationen? Van Reybrouck erweckt den Anschein, eine Athener Tradition wieder aufleben lassen zu wollen, steht aber in Wirklichkeit Platons antidemokratischer Haltung näher. Denn er möchte überhaupt nicht, dass normale Menschen etwas zu sagen haben. Er möchte, dass eine Handvoll Experten normalen Menschen einflüstert, welche Politik am besten sei. Er möchte eine aufgeklärte, informierte Gruppe, nicht das Volk mit all seinen spießigen Vorurteilen und undurchdachten, emotionalen Reaktionen. Sein Buch ist ein hervorragendes Beispiel für uraltes antidemokratisches Denken, das als Rettungsversuch der Demokratie verpackt wird.

Ein anderer namhafter Erneuerer ist der amerikanische Politologe Jason Brennan, der für eine „Epistokratie“ plädiert: Ein System, in dem Menschen ohne politisches Basiswissen nicht wählen dürfen oder intelligente Menschen Zusatzstimmen erhalten.

Es ist doch nicht zu fassen! Sein Buch „Gegen Demokratie“ wird überall besprochen und ernst genommen. „Eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ – und derlei mehr. Brennan spricht ganz offen aus, was sich viele nicht zu sagen trauen, dass man nämlich manchen Menschen kein politisches Mitwirkungsrecht anvertrauen könne. Er spricht von Personen mit einem „niedrigen Wissensstand“, aber meint damit natürlich niedrige Intelligenz.

„Politikern gruselt es davor, die Kontrolle der Bevölkerung zu übertragen.“

Studien zufolge fehlt vielen wirklich ganz grundlegendes Wissen. Eine Mehrheit der US-Amerikaner weiß nicht, wer ihr Vizepräsident ist und kann nicht einen einzigen ausländischen Staatsmann benennen.

Wissen Sie, woran das liegt? Weil Menschen nicht mehr aufgerufen werden, an Politik und öffentlicher Debatte teilzunehmen. Und wenn sie das dann doch auf ihre Art tun, heißt es gleich, dass man dieses und jenes so nicht sagen dürfe und auf seinen Ton achten müsse. Diese hochmütigen Reaktionen verfolgen den Zweck, der Debatte auszuweichen. Seit Jahren erzählt man uns, dass Politik nicht unsere Angelegenheit, sondern die einer Clique professioneller Politiker und Technokraten sei. Seit Jahren bekommen wir zu hören, wie unglaublich kompliziert die Politik doch sei und dass man sie besser den Fachleuten überlassen solle. Uns fehlt jeder Anreiz, uns in eine Sache zu vertiefen und uns selbst zu informieren. In einer demokratischeren Gesellschaft würde sich das schnell verändern.

Bieten Volksabstimmungen hierfür eine Lösung?

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob man unbedingt über alles eine Volksabstimmung abhalten muss. Meiner Meinung nach funktionieren sie am besten bei großen, heiklen Fragen, die ein Land polarisieren und sich auf eine Ja-/Nein-Frage hin verdichten lassen. Wollen Sie, dass Ihr Land in der Europäischen Union bleibt? Soll Schottland Teil des Vereinigten Königsreichs bleiben? Was mir allerdings bei jedem Referendum immer wieder auffällt, ist der einhellige Widerstand der politischen Klasse. Politikern, ob links oder rechts, gruselt es davor, die Kontrolle aus der Hand zu geben und an die Bevölkerung zu übertragen. Sie schnauben vor Wut, wenn Angelegenheiten, die sie selbst gerne als außerordentlich komplex verkaufen, zu einer einfachen Ja-/Nein-Frage werden.

Letztlich müssen wir uns die Frage stellen, wem wir bei der Meinungsbildung am ehesten vertrauen. Legen wir größeren Wert auf eine Clique von Berufspolitikern, Professoren, Richtern und Experten, die ihre Entscheidungen in irgendwelchen Hinterzimmern fällen oder auf das Urteil des eigenen Freundeskreises, der Familie, der Bekannten und Kollegen, mit denen man sprechen und Ideen austauschen kann? Meine Wahl fällt ganz klar auf letztere Gruppe. Und damit stehe ich nicht allein. Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Briten vor dem EU-Referendum nicht in erster Linie durch Zeitungen oder Politiker informiert haben, sondern ihre Meinung in Gesprächen mit denjenigen Menschen gebildet haben, mit denen sie im täglichen Kontakt stehen. In der Masse steckt Weisheit, denn die kennt das Leben gut.

Würden Sie so weit gehen wie die Chartisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die für das allgemeine Männerwahlrecht mit dem Argument gekämpft haben, dass niedrig gebildete Arbeiter nicht nur genauso gut, sondern sogar besser zum Wählen befähigt sind als die Mittel- oder Oberschicht?

Ja, absolut. Das Volk hat eine Lebenserfahrung, die die jeder Expertenkaste bei weitem übersteigt. Darum kann es besser zu einem Urteil gelangen als die Elite. Experten kommt aus meiner Sicht durchaus eine wichtige Rolle zu, aber in politischen Fragen setze ich doch eher auf die Weisheit der Masse als auf den Wankelmut irgendwelcher elitärer Figuren. Aus dem gleichen Grund möchte ich in einem Gerichtsverfahren lieber von einer Jury aus normalen, mir ebenbürtigen Bürgern beurteilt werden als von einem autokratischen Richter.

„Demokratie besteht nicht nur daraus, alle paar Jahre im Wahllokal ein Kreuzchen zu machen.“

Sind Sie da nicht ein wenig naiv?

Nein, das glaube ich nicht. Demokratie ist nie der leichteste Weg. Man muss hart arbeiten, um seine Ideen durchzusetzen. Das funktioniert nicht immer. Auch arrivierte Politiker wie Cameron, Blair oder Clinton sind damit schon gescheitert. Das können sie immer noch nicht akzeptieren. Sie sehen z.B. nicht ein, dass sie keine guten, überzeugenden Argumente für die EU-Mitgliedschaft oder ihre US-Präsidentschaft hatten. Deshalb neigen sie zu anderen Erklärungsversuchen: Die Medien sind schuld, die Lügen der Gegner, Facebook, russische Hacker, das „postfaktische“ Zeitalter. Sie winden sich in alle Richtungen, um nur nicht in den Spiegel schauen zu müssen. Sie beharren darauf, dass das System nicht für die Menschen geeignet sei – aber sagt das nicht eigentlich aus, dass diese Figuren den Kontakt zu den Menschen gänzlich verloren haben und dass ihnen deshalb kein Vertrauen mehr entgegengebracht wird? So schwierig wirkliche Demokratie auch ist, die Alternative, das Outsourcen der Politik an Experten, ist schlimmer.

Wie entsteht dann Ihrer Ansicht nach eine demokratischere, politisch engagierte Gesellschaft?

Wenn ich das wüsste! Diese Frage beschäftigt schon länger eine Reihe von Think-tanks. Wenn ich deren Berichte lese, fällt mir immer auf, dass sie nach technokratischen Lösungen suchen. Sie empfehlen, Bürgergruppen zusammenstellen, die Politiker beraten, oder Onlinewahlen einzuführen, um die Wahlbeteiligung zu steigern, oder das Wahlrecht auf 16 Jahre abzusenken, als würden Pubertierende massenhaft dafür demonstrieren, endlich wählen zu dürfen.

Kein solcher Vorschlag kann irgendeinen Beitrag zum demokratischen Geist in der Gesellschaft leisten. Es muss uns bewusst werden, dass Demokratie nicht nur daraus besteht, einmal alle paar Jahre im Wahllokal irgendein Kreuzchen zu machen. In einer Demokratie geht es um die Gesellschaft, in der wir leben wollen, wo wir uns als Bürger betrachten, wo wir Einfluss darauf haben, wer wir sind und was wir tun, wo wir denken und sagen können, was wir wollen, und wo wir selbst die Zukunft gestalten.

Eine Mammutaufgabe.

Wohl wahr, aber wenn wir uns ihr verweigern, wird es nicht gelingen, die Demokratie zu retten. Wenn der richtige Geist wieder einkehrt, finden die Leute schon Mittel und Wege des Mitdenkens und Mitentscheidens.

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