19.11.2015
Die stille Krise der amerikanischen Arbeiterschicht
Von Kolja Zydatiss
Die Sterblichkeit weißer Amerikaner mittleren Alters entwickelt sich gegen den Trend industrialisierter Länder. Nicht nur Alkoholmissbrauch, Selbstmord und Drogenmissbrauch spielen eine Rolle, so Kolja Zydatiss. Vor allem ist es die politische Ohnmacht der weißen Unterschicht
„Eine halbe Million toter Amerikaner sollten noch am Leben sein.“ Zu diesem Schluss kommen der Nobelpreisträger Angus Deaton und seine Frau Anne Case in einem kürzlich in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienenen Artikel. [1] Die Ökonomen von der Princeton-University machten bei der Auswertung von Gesundheitsdaten der US-Regierung eine erstaunliche Entdeckung: Die Sterblichkeitsrate von weißen Amerikanern mittleren Alters hat seit 1998 jedes Jahr um circa ein halbes Prozent zugenommen. Die Bevölkerungsgruppe steht damit in einem deutlichen Gegensatz zum globalen Trend zu besserer Gesundheit und längerer Lebenserwartung.
Dieses Forschungsergebnis ist nicht trivial. Die Zahl der Menschen, die noch am Leben wären, wenn sich die Sterblichkeit der beschriebenen Gruppe wie die der restlichen industrialisierten Welt entwickelt hätte, übertrifft die Opfer der seit 2014 in Westafrika wütenden Ebola-Epidemie um ein 40-faches. Ein Anstieg der Sterblichkeitsrate einer bedeutenden Bevölkerungsgruppe ist in hochentwickelten Staaten praktisch unbekannt. [2] Laut Studienautor Deaton hat nur die HIV-AIDS-Epidemie in Schwarzafrika zu einer vergleichbaren demografischen Entwicklung geführt. [3]
Eine nähere Betrachtung der Daten ergab, dass der beschriebene Trend von der Untergruppe der Individuen getragen wurde, die nur über einen High-School-Abschluss oder gar keinen Schulabschluss verfügten. [4] Eine massive Zunahme von Selbstmord, Drogenmissbrauch und Alkoholismus in dieser Gruppe erklärte, warum Weiße mittleren Alters aus dem Langlebigkeitstrend der Gesamtgesellschaft ausscherten.
„Die Unterschicht wird als Problem gesehen, das durch den interventionistischen Sozialstaat ‚gemanaged‘ werden muss“
Die Umkehrung der Sterblichkeitsentwicklung ging der Finanzkrise 2008 um ein Jahrzehnt voraus. Die Autoren schreiben sie daher einer schon früher einsetzenden allgemeinen Produktivitätskrise zu. [5] „Nach dem Produktivitätsrückgang der frühen 1970er-Jahre waren die Baby-Boomer die erste Generation, der in der Lebensmitte bewusst wurde, dass es ihr nicht besser gehen würde als ihren Eltern.“ [6] Menschen mit niedrigem Bildungsniveau sind von dieser wirtschaftlichen Entwicklung besonders betroffen. Stellen in der Fertigung und in der Baubranche, für die man traditionellerweise keinen Hochschulabschluss brauchte, sind immer seltener geworden. Die Folge sind finanzielle Sorgen, vor allem die Angst vor einer unzureichenden Altersversorgung.
Die Erklärung der Autoren scheint plausibel. Dennoch bleiben offene Fragen. Warum sind nur weniger gebildete Weiße, nicht jedoch andere ethnische Gruppen, betroffen? [7] Warum zeigen andere Industrienationen keine entsprechende Entwicklung? [8] Trotz dieser Unbekannten verdeutlicht die Studie wieder einmal die Realitätsferne der aktuellen „progressiven“ Sozialkritik. Die Studienergebnisse widersprechen dem „White Privilege“-Konzept, demzufolge Weiße per definitionem eine privilegierte gesellschaftliche Gruppe bilden. Im postmaterialistischen Bürgertum verbreitete Erklärungen, wonach die Ursachen gesellschaftlicher Probleme vor allem in vermeintlich ‚hemmungslosem‘ Wirtschaftswachstum und Industrialisierung liegen, lassen sich kaum auf die Sorgen der von Case und Deaton beschriebenen Schicht beziehen. Die populäre Forderung, die Politik solle sich von ‚harten‘ wirtschaftlichen Faktoren abwenden und stattdessen das subjektive Wohlbefinden fördern (Glückspolitik) [9], klingt angesichts der im Paper geschilderten Entwicklungen zynisch.
Wirklichkeitsnahe Gegen-Narrative haben es schwer. Zwar beschäftigen sich die US-Eliten mit dem Lebensstil der weißen Unterschicht („White Trash“-Phänomen). Der Gruppe selbst wird jedoch nicht zugetraut, legitime politische Ziele zu formulieren und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Eher wird sie als Problem gesehen, das durch den interventionistischen Sozialstaat „gemanaged“ werden muss. Joel Kotkin spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚neuen säkularen Klerus‘. Laut dem US-Autor werden Medien, Erziehungswesen, Regierung und Gemeinnützigkeit zunehmend von einer selbsternannten Elite dominiert, die ihre Autorität aus dem „Überzeugen, Unterweisen und Regulieren der übrigen Gesellschaft“ bezieht.
„Meinungen, die von der Orthodoxie abweichen, können geflissentlich ignoriert oder diffamiert werden“
Die neue Priesterklasse will gesellschaftliche Debatten auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse „entscheiden“. Meinungen, die von der Orthodoxie abweichen, können geflissentlich ignoriert oder diffamiert werden. Ironischerweise bekämpft diese vermeintlich „progressive“ Schicht mit ihrer Skepsis gegenüber Industrialisierung und Wirtschaftswachstum vor allem die Aufwärtsmobilität der Massen. Kotkin nennt als Beispiel den Abbau von Schiefergasvorkommen (Fracking), der im größtenteils ländlichen und armen Staat New York durch die Opposition reicher Städter verhindert wurde. [10]
Die verblüffenden Forschungsergebnisse von Case und Deaton werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Zukünftige Untersuchungen werden umfassendere Aufschlüsse über die Situation der amerikanischen Arbeiterschicht geben. Doch eines ist schon jetzt klar: Um den von den Princeton-Ökonomen beschriebenen Problemen zu begegnen, müssen derzeit marginalisierte Schichten als politisches Subjekt handeln. Dazu bedarf es keiner Herrschaft wohlmeinender Eliten, sondern einer Gesellschaft, die auf demokratische Debatten und offen ausgetragene Interessengegensätze setzt.