09.07.2021

Das verführte Denken und seine Helfer

Von Milosz Matuschek

Titelbild

Foto: Comfreak via Pixabay / CC0

Der Vorwurf „Verschwörungstheoretiker“ ist mit das mächtigste Diffamierungswerkzeug in Zeiten der Cancel Culture. Davon lebt eine neue Riege staatsnaher Inquisitoren.

Im Jahre 2017 war Jens Spahn auf der Bilderberg-Konferenz zu Gast, ein Jahr später wurde er Gesundheitsminister. Nach der Konferenz wurde er am Flughafen von freien Journalisten gefragt, worum es bei der Konferenz gegangen sei und was besprochen wurde. Die Antwort von Jens Spahn war abweisend und lautete sinngemäß, es sei um Aliens und Reptilien gegangen.

Diese Episode steht beispielhaft für viele ähnliche Szenen. Es genügt schon, einen gewählten Politiker legitimerweise über Sinn und Inhalt einer unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit tagenden Gruppierung mächtiger Menschen zu befragen, um in eine bestimmte Kategorie einsortiert zu werden. Die Botschaft ist klar: „Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“ Wer trotzdem nachbohrt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Spinner zu sein. Kaum ein Wort ist in letzter Zeit häufiger zu hören, wenn es um die Begründung dafür geht, warum eine bestimmte Debatte nicht geführt zu werden braucht: „Das ist eine Verschwörungstheorie!“

Die Königsdisziplin der Cancel Culture

Seit Jahren macht sich ein Ungeist im öffentlichen Debattenraum breit, den man heute treffend als „Cancel Culture“ bezeichnet. Missliebige Personen werden mit dem Verweis auf politisch inkorrekte Inhalte ihrer Rede diffamiert, ausgegrenzt und mundtot gemacht. Die Cancel Culture hat sich ihren Weg durch Universitäten und Redaktionsstuben bis in den Kulturbetrieb gebahnt. Die Protagonisten der Cancel Culture gehen davon aus, dass Worte verletzen können, dass bestimmte Ideen schädlich sind und es demzufolge jemanden braucht, der beides aus dem öffentlichen Raum (dem vielbeschworenen „Diskurs“) entfernt, bevor „Schaden“ angerichtet wird. Cancel Culture ist zu einer Zensurpraxis Einzelner und von Gruppierungen im vermeintlichen Dienst einer korrekten Ideologie geworden, welche über die Techniken des Druckausübens, des Mobbings und der Nötigung von Veranstaltern, Hochschulpräsidenten, Verlagen und so weiter versucht, die Entfernung von missliebigen Personen und Inhalten zu erzwingen.

In dieser Interessenslage ist der Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ die Königsdisziplin. Verschwörungstheorie klingt nach Lüge, nach faktenfreier Kommunikation, die es nicht wert ist, näher diskutiert zu werden und deren Verbreiter aus dem Diskurs der Vernünftigen ausgeschlossen gehört. Der Vorwurf der Verschwörungstheorie ist der Gipfel der inquisitorischen Praxis, die derzeit in westlichen Demokratien zu beobachten ist.

„Kaum ein Wort ist in letzter Zeit häufiger zu hören, wenn es um die Begründung dafür geht, warum eine bestimmte Debatte nicht geführt zu werden braucht: ‚Das ist eine Verschwörungstheorie!‘“

Die zumeist unklare Definition der Verschwörungstheorie lässt dabei jedoch selbst zu wünschen übrig und weckt den Verdacht, es gehe den Diskursraumvermessern weniger um die Qualität des Diskurses als vielmehr um das Ausklammern missliebiger Themen. Im Grunde behauptet ein Verschwörungstheoretiker lediglich, dass eine Verabredung zum nachteiligen Zusammenwirken von mindestens zwei Personen gegenüber einem Dritten vorliegt, ohne dass er dafür den Beweis erbringen kann. Doch bei dieser engen Definition bleibt es selten. Medial präsente Forscher, wie der Tübinger Amerikanist Michael Butter, nennen drei Merkmale von Verschwörungstheorien: „Alles ist geplant. Nichts ist so, wie es scheint. Alles hängt mit allem zusammen.“ Doch auch diese Aufzählung ist nur bedingt erhellend. Denn es braucht derart eingefahrenes Denken in eigenen Realitätskanälen gar nicht, um heutzutage als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt zu werden. Dafür genügt schon ein deutlich niedrigschwelligeres Agieren, das sich bereits im Aufstellen von Hypothesen, in Fragestellungen wie dem „Cui bono“? (Wem nützt das?) oder in einer abweichenden Interpretation von Fakten äußert.

Doch auch abgesehen davon, ist diese Definition kaum als wissenschaftlich zu bezeichnen. Warum?

  1. Das meiste, was sich auf Regierungsebene abspielt, ist wohl geplant. Oder agieren Regierungen, internationale Organisationen oder auch nur ein Kaninchenzüchterverein ohne Programmatik oder Agenda?
  2. Vieles ist nicht so, wie es scheint. Denn zu glauben, dass alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint oder als Außendarstellung vermittelt wird, wäre „Naiver Realismus“. Alles andere als Grundskepsis gegenüber politischen Abläufen wäre zudem demokratiefern. Gewählte Politiker sind dem Wähler gegenüber rechenschaftspflichtig; ein Abgleich ihrer Handlungen und Absichten mit der Realität ist daher zwingend notwendig, wenn man das Prinzip der Repräsentation nicht aufgeben will.
  3. Die Kriminalistik, der investigative Journalismus und die Wissenschaft schließlich verbinden Punkte und Personen, stellen Zusammenhänge her, versuchen, Muster zu erkennen. Dass es Machtmissbrauch gab und gibt, ist den meisten demokratischen Verfassungen im Übrigen bekannt, deshalb kennen diese in der Regel das Prinzip der Gewaltenteilung oder die Existenz von Grundrechten als Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt.

Es geht um Macht, nicht um Erkenntnisgewinn

Der Begriff der Verschwörungstheorie hat heute den Platz eines Unterscheidungsmerkmals zwischen den medial satisfaktionsfähigen und den offiziell Ausgestoßenen eingenommen. Wer über den Begriff der Verschwörungstheorie bestimmt, erklärt sich zum Gatekeeper der Wahrheit. Der Vorwurf der Verschwörungstheorie an andere behauptet zugleich eine Deutungshoheit bei sich selbst. Ginge es tatsächlich um eine Deutung der Realität, gäbe es Debatten über strittige Themen, wie zum Beispiel den Kollaps des WTC-7-Gebäudes in den Medien – zumindest aber eine Widerlegung der Kritiker. Die sachliche Auseinandersetzung wird jedoch gerade gemieden. Es bleibt stets beim Schattenboxen zweier Gruppierungen, die sich in der Realität der Debatte gar nicht begegnen dürfen. Was wir in öffentlich-rechtlichem Rundfunk, Zeitungen oder Büchern über Verschwörungstheoretiker lesen, ist Schattenboxen auf Distanz, ein Tanz um einen Strohmann, eine klassische Fake-Debatte um ihrer selbst willen.

„Der Vorwurf der Verschwörungstheorie ist der Gipfel der inquisitorischen Praxis, die derzeit in westlichen Demokratien zu beobachten ist.“

Als die Dresdener Jazztage im Herbst vergangenen Jahres wegen der Einladung von Daniele Ganser als Referent unter Beschuss gerieten, ließ sich für Gunnar Kaiser und mich als Initiatoren des „Appells für freie Debattenräume“ die Probe aufs Exempel machen. Die Veranstalter riefen zum Dialog ein, luden Experten wie Michael Butter von der Universität Tübingen ein, um mit Daniele Ganser über dessen Thesen öffentlich zu diskutieren. Es war eine Einladung zu öffentlicher Kritik, diesmal aber unter Anwesenheit des „Gescholtenen“. Doch Butter lehnte jede öffentliche Diskussion ab. Das wiederum wirft einen Schatten auf die eigene Herangehensweise, Verschwörungstheoretikern durch Fakten und Argumente Paroli zu bieten. Wäre die Kritik an Verschwörungstheoretikern so wissenschaftlich, wie sie sich gibt, ließe sich im direkten Vergleich der Argumente und der Faktenbasis eine Klärung von Streitpunkten erreichen. Insofern bleibt die Auseinandersetzung rund um umstrittene Themen in der Regel bei einer Einwegkommunikation.

Diese Erfahrung machten Gunnar Kaiser und ich auch, als es um das Thema des „Great Reset“ ging, eine Agenda des Weltwirtschaftsforums zur Umgestaltung der Welt in Post-Corona-Zeiten, die Züge von Technokratie, Überwachung und planerischem Korporatismus enthält. Mein von Gunnar Kaiser als Podcast produzierter Text wurde von der Plattform YouTube gelöscht. Gunnar Kaiser wurde vom Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung zudem der Verschwörungstheorie bezichtigt, eine Zusammenarbeit mit ihm für die Zukunft öffentlichkeitswirksam über Twitter beendet. Nun lässt ein Thema wie der Great Reset sicher viel Spielraum für Interpretation. Die Existenz dieser Agenda jedoch als Verschwörungstheorie zu bezeichnen, und damit ins Reich der Märchen zu verbannen, schlägt kolossal fehl, zumal es Bücher zum Thema, zahlreiche offizielle Videos und Webseiten gibt und sich zudem viele Politiker und Repräsentanten globaler Institutionen, wie der Europäischen Kommission, der UN und der Weltbank, darauf beziehen. Spätestens wenn hohe Funktionäre diese Bezeichnung im Munde führen, muss darüber diskutiert werden, was unter dieser Agenda denn genau zu verstehen ist. Die Heftigkeit der Gegenwehr bei diesem Thema in den Mainstream-Medien macht uns relativ unmissverständlich klar, dass es sich hier um vermintes Gelände handelt, welches man aus welchen Gründen auch immer besser nicht zu sehr in das Licht der Öffentlichkeit rückt.

Das hat sicher auch mit dem veränderten Informationsauftrag zu tun, der sich in weiten Teilen der Presselandschaft seit Jahren feststellen lässt. Die Bespielung von Meinungssilos statt echter Debatten ist leider zum Geschäftsmodell der privatwirtschaftlichen Presse geworden, wie der ehemalige Rolling-Stone-Reporter Matt Taibbi in seinem Buch „Hate Inc.“ ausführt. Das Ziel bei Debatten von heute scheint nicht die Lösung eines Konflikts, sondern dessen Beibehaltung und Weiterbewirtschaftung zu sein. Das gilt auch für andere Themenfelder, die ideologisch stark besetzt oder umstritten sind, wie Migration, Gender, Klima oder Corona. Die zunehmend intolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden in Redaktionen, wie man es in den letzten Monaten am Beispiel zahlreicher Rücktritte und Rauswürfe beobachten konnte, zeugt von einem zunehmenden Unvermögen, Binnenpluralität im Medieninnenraum zu realisieren. So homogen wie die Leserschaft sein soll, wird auch die Redaktion. Die Langweiligkeit und Inhaltsleere des Medienprodukts ist die unausweichliche Folge.

„Der Begriff der Verschwörungstheorie hat heute den Platz eines Unterscheidungsmerkmals zwischen den medial satisfaktionsfähigen und den offiziell Ausgestoßenen eingenommen.“

Das Fake- und Verschwörungsthema ist bei Mainstream-Medien trotzdem sehr beliebt, denn jeder Beitrag zu diesem Thema ist immer auch versteckte Eigenwerbung. Die Auflagen von Zeitungen sind seit Jahren im ständigen Sinkflug, Bücher zum Thema Verschwörungstheorie und Fake News nehmen inflationär zu, liegen aber wie Blei in den Regalen. Der Leser scheint sich nur ungern darüber belehren lassen zu wollen, was er oder sie aus welchen Gründen auch immer zu glauben hat. Der Mainstream kauft sich über das Thema Fake News/Verschwörungstheorie also immer auch externen Sachverstand zur Versicherung der eigenen Deutungshoheit ein, statt die Auseinandersetzung über letztere dem freien Meinungsmarkt und letztlich der Konsumentscheidung des Lesers zu überlassen. Zur gleichen Zeit kultiviert die Verlagsbranche ihre eigenen Fake-Fabriken in Form der Regenbogenpresse, und erdreistet sich, derartiges ebenfalls Journalismus zu nennen.

Die Nomenklatura der Korrekten

Der politische und der mediale Mainstream haben sich gerade in eine risikoreiche Kooperation begeben. Institutionelle und akademische Verschwörungstheorie-Erklärer bekommen viel Aufmerksamkeit, haben aber letztlich immer die gleiche dürre Botschaft: Es gibt einfältige Menschen, die an einfache Zusammenhänge glauben, weil sie aus Verwirrung, Furcht und fehlender Bildung mit der Komplexität der Welt überfordert sind; aber glücklicherweise gibt es noch die Mainstream-Medien, die vielleicht diese Personen noch auf den Pfad der Vernunft zurückzubringen vermögen.

Schelskys Einordnung der Intellektuellen als „Priesterkaste“ hat hier eine besonders starke Ausprägung gefunden. Der Mainstream ist aktuell nichts anderes als eine herrschaftsstützende Amtskirche, welche die ihm zugeneigten Inquisitor-Intellektuellen gegen die Häretiker der „freien Medien“ in Stellung bringt. So bildet der selbsternannte Putztrupp des öffentlichen Debattenraums inzwischen selbst ein eigenes Netzwerk, und damit seine eigene Echokammer, in welcher bestimmte Deutungen der Realität „offizialisiert“ werden.

In den Medien geben sich Mainstream-Experten wie Michael Butter, Pia Lamberty, Katharina Nocun und Philipp Hübl thematisch die Klinke in die Hand und zeigen dabei vor allem, wie gut sie sich mit der psychischen Verfassung der Schwurbler auskennen. Die staatlich üppig ausgestattete Amadeu-Antonio-Stiftung ist sich selten zu schade, dem Thema Verschwörungstheorie noch einen antisemitischen Anstrich zu geben, das angegliederte „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“ stellt den Bezug zu „rechts“ her, gerne noch ergänzt durch die eine oder andere Studie, in welcher dann durch Auswertung von Telegram-Gruppen (wer folgt wem?) eine Nähe von bestimmten Personen zueinander behauptet wird – was in jedem anderen Kontext natürlich eine Verschwörungstheorie darstellt. Den Rest erledigen Faktencheckerportale wie „Volksverpetzer“, die in der Endlosmühle des Propagandakanals versuchen, Etiketten aufzukleben und Diffamierungszusammenhänge herzustellen.

„Der Mainstream ist aktuell nichts anderes als eine herrschaftsstützende Amtskirche, welche die ihm zugeneigten Inquisitor-Intellektuellen gegen die Häretiker der ‚freien Medien‘ in Stellung bringt.“

Zur Belohnung gibt es neben Fernsehauftritten und Engagements für die Beteiligten kostenlos die Hybris oben drauf, an der vermeintlichen Spitze einer Deutungspyramide zu stehen. Das alles hat natürlich nichts mit Wissenschaft, sondern viel mit Propaganda zu tun. Und es ist zudem risikoreich. Der Finanzmathematiker und Buchautor Nassim Nicholas Taleb stellte schon in seinem Buch „Der schwarze Schwan“ die Überlegung an, dass alle Branchen, in denen Kompetenz über die Anerkennung von Kollegen vermittelt wird statt durch einen Test mit der Realität, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt sind. Derartige „Experten“ können quasi also nur in bestimmten medialen Lebensräumen eine Zeitlang überleben. Der interessierte Leser schaut bei all dem währenddessen weiter in die Röhre. Er erlebt keinen Erkenntnisgewinn, sondern die schleichende Abnutzung einer vorgesetzten Expertenriege und ihren Austausch gegen eine neue.

Dem erkenntnisorientierten Leser und Nachrichtenkonsumenten bleibt derweil weiter nur, sämtliche Realitätskanäle offen zu halten, sich aus möglichst verschiedenen Quellen zu informieren und seine Skepsis gegenüber allen Arten von Glaubenssystemen zu kultivieren. Dieser Weg kann zwar leider keine Scheinsicherheiten bieten, sorgt aber laut dem Autor und echten Experten in Sachen Verschwörungstheorie, Robert Anton Wilson, irgendwann dafür, dass man nichts mehr glaubt – oder paranoid wird.

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