01.05.1999
Das große Aufräumen?
Analyse von Helmut Ortner
Wieviel Sicherheit brauchen unsere Städte? Hardliner fordern härtere Gesetze, mehr Polizei und weniger Toleranz. Vorbild ist New York – wo im Kampf gegen das Böse jedes Mittel recht ist. Das ”Zero-Tolerance”-Modell in New York ist eine Null-Lösung, meint Helmut Ortner.
Vor etwas mehr als sechs Jahren wurden die New Yorker eines Montagmorgens unvermittelt von einer bedrohlichen Warnung des größten Nachrichtenmagazins des Landes aufgeschreckt. ”Der Big Apple verfault”, verkündete dröhnend die Titelseite von Time. Das Magazin hatte New Yorks Einwohner gefragt: ”Ist das Leben für Sie in der Stadt einfacher oder schwieriger geworden?”
Einfacher? Von wegen. Gerade mal 11 Prozent der Befragten fanden das. Alles wie bisher? Richtig: Wie immer. 15 Prozent waren dieser Ansicht. Schwieriger? Unbedingt! Ja, alles sei schwieriger geworden, antworteten nicht weniger als 72 Prozent. New York sei schmutzig, gefährlich, gefühllos. Die Lebensqualität habe in den letzten Jahren rapide abgenommen. Bei den Befragten hatte sich laut Time die ”Überzeugung verbreitet, daß die Stadt aus dem Ruder gelaufen und außer Kontrolle geraten ist”.
Was tun? Ein Mann stand auf: William ”Bill” Bratton. Der Polizeichef von New York brachte die aus den Fugen geratene Metropole in knapp zwei Jahren – so will es die Legende – wieder in Ordnung. Im Kleinen wie im Großen räumte er auf. Er organisierte die Polizei neu, installierte ein allumfassendes Computersystem und paukte seinen 45.000 Cops eine neue Philosophie ein: ”Handelt, bevor es zu spät ist, und handelt konsequent.”
Seine Botschaft: Zero Tolerance. Das war 1994. Seither ist New York ”eine der sichersten Städte der Welt”, prahlt Bürgermeister Rudolph Giuliani. Tatsächlich: In den Parks, einst gefürchtete Orte, kann man mittlerweile wieder gelassen und ohne Angst sitzen, vor einer Fahrt in der Subway braucht sich kein Einheimischer und kein Tourist mehr zu fürchten. ”Ein Wunder”, kommentierte die New York Times.
Wundermacher
Als der Wundermacher gilt bis heute Bill Bratton. ”Es war, als steige ich in Dantes Inferno hinab”, erzählte er den Journalisten von seiner ersten Begegnung mit der New Yorker Subway. Das große Aufräumen begann – und es begann in der U-Bahn. Spezialeinheiten durchpflügten die Bahnanlagen, Ecken und Winkel wurden versperrt oder ständig kontrolliert, Schwarzfahrer in Handschellen abgeführt. Brattons Logik: ”Wer in der Subway einen Raubüberfall vorhat, der kauft keinen Fahrschein.” Und tatsächlich: nicht nur die Zahl der Schwarzfahrer sank – auch die der U-Bahn-Raubüberfälle. Danach begann eine Truppe von 4000 Mann die bunten Graffiti zu entfernen. Ein ”clean car program” wurde eigens erstellt. Danach fuhr jeder gesäuberte Wagen mit einem Bewacher an Bord. Jeder neue Farbklecks wurde sofort entfernt. Dem Sprayerstolz war die Bühne gestohlen worden.
Cops gegen Bierdosen
Nach dem Aufräumen in der U-Bahn begann Brattons Kampf gegen ”public disorder”, die öffentliche Unordnung. Im Visier: Bettler, Störer, Alkoholiker und Krachmacher. Mit rabiaten Methoden gingen die Cops gegen jeden vor, der nicht ins neue Straßenbild paßte. Eine geöffnete Bierdose in der Hand – und schon gab’s Ärger. Selbst Skeptiker mußten zugeben: Brattons machte die Stadt tatsächlich sicherer – und sauberer. Heute pinkelt in der 7,5 Millionen-Metropole niemand mehr ungestraft öffentlich in den Anlagen oder läßt den Müll einfach fallen. Dafür sorgt eine uniformierte Truppe, die ”Beer-and-piss-Patrol”. Ebenfalls eine aufgerüstete, personell enorm verstärkte und grundlegend neu strukturierte Polizei. Ein modernstes EDV-System ist ihr Epi-Zentrum. Hier werden alle Auffälligkeiten, Straftaten, Anzeigen und Festnahmen aus 76 Bezirksabschnitten von Computern registriert. Alles wird hochgerechnet, statistisch aufbereitet, mit anderen Bezirken verglichen. Monatlich wird die Computerzentrale zum Tribunal für verantwortliche Cops und Chefs der Sozial- und Ordnungsbehörden. Warum gibt es in diesem Bezirk mehr Überfälle als in diesem? Die Devise lautet: Erfolg ist meßbar, und ”Niederlagen” sind sofort zu korrigieren. Einen Polizeiapparat müsse man – so Bratton – managen wie MacDonalds: ”Wo sind die Kunden, wo die Märkte?” Die Polizei müsse sich an den Bürgern orientieren – das seien ihre Kunden. Denn: Es gelte nicht, die Probleme der Justiz zu lösen, sondern die Bürger ”vor Verbrechen, Schmutz und Belästigung” zu schützen.
Heute ist Bratton, der nach seiner New Yorker Wunderheilung zum berühmtesten Cop Amerikas aufstieg, nicht mehr Polizist. Er residiert als Chef der ”First Security Consulting Inc.” im 34. Stockwerk eines Wolkenkratzers an der 6th Avenue in Midtown Manhattan. Seine New Yorker Erfolgsstory ernährt ihn redlich. Gerade ist seine Autobiographie Turnaround in Buchform erschienen. Untertitel: Wie Amerikas Top-Cop die Verbrechensepidemie stoppte. Die Lehren aus New York im Aktenkoffer, reist er nun hastig durch die Welt, hält Vorträge vor Stadtpolitikern, Kriminologen und Polizisten.
Sicherheitsgefühl als Produkt
Auch deutsche Politiker sind voller Begeisterung. Ob Berlin, Hamburg oder Frankfurt: In Brattons Modell wird der Beweis gesehen, daß mit einem harten Vorgehen Kriminalität an der Wurzel bekämpft wird und zurückgeht. Berlins Innensenator Schönbohm will wenigstens den ”New Yorker Mentalitätswandel” importieren, denn darauf komme es an: ”Man war hier zu lange bereit, alles hinzunehmen.” Ist das der Ruf nach dem Polizeistaat? Niemand soll mehr sagen, der Kampf gegen das Böse ist verloren. Hat nicht New York gezeigt, daß es geht?
Besonnenere Köpfe wie Frankfurts Polizeipräsident Wolfhard Hoffmann geben sich reservierter: ”Wir können eine Menge von New York lernen, aber vieles ist zu grundverschieden.” Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Renommierte Kriminalpolitiker sind sich einig: Wer meint, ”Zero Toleranz” maßstabsgerecht auf deutsche Verhältnisse übertragen zu können, verkennt soziale Wirklichkeiten und ignoriert verfassungsrechtliche Realitäten. Polizeiliches Handeln ist bislang stets an die Voraussetzung geknüpft, daß eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegt. Jetzt denken viele darüber nach, diese Bestimmung in eine finale Blankovollmacht umzudefinieren. Die Ordnungsgewalt soll jederzeit alles mögliche tun dürfen. In zahllosen Großstädten – auch in Frankfurt – wird solcherart Handlungsfreiheit unter dem Etikett ”Gefahrenabwehrverordnung” bereits praktiziert. Polizei, Beamte des Ordnungsamtes und private Sicherheitsdienste sorgen in Bahnhöfen, Einkaufszentren und auf öffentlichen Plätzen dafür, daß die Stadt zur sicheren Zone wird.
Allerorten sagen selbsternannte Oberpolizisten dem kriminellen Treiben den Krieg an. Beispielsweise Hessens neuer CDU-Ministerpräsident Roland Koch. Der stramm-gescheitelte Hardliner setzt auf härtere Strafen, denn er sorgt sich um die ”ansteigende Kriminalität im Lande”. Richtiger ist: Er sorgt sich um die Lufthoheit über den Stammtischen, denn dort sitzen Wähler.
Politik-Eldorado
Das Land ein Verbrecher-Eldorado? Vielleicht hilft es, Trost in den Statistiken zu suchen. Beispiel Frankfurt – der Stadt, die im deutschen Horror-Ranking als ”Metropole der Kriminalität” gilt. Dort stellt sich die Sicherheitslage ernüchternd undramatisch dar: von 135.326 registrierten Straftaten (1998) macht die Gewaltkriminalität gerade mal 2,5 Prozent aus. Wenn man die Gesamtzahl der Delikte auf die sich an einem Werktag in der Stadt aufhaltenden 1,3 Millionen Menschen umlegt, ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, nicht sehr aussichtsreich. Die Zahl der Strafverfahren gegen Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren ist in Frankfurt von 1992 bis 1998 um 26,3 Prozent zurückgegangen. Ohnehin: Nur knapp sechs Prozent aller Jugendlichen – das belegen Zahlen der Jugendgerichtshilfe – sind in Strafverfahren verwickelt. Anders ausgedrückt: 94 Prozent aller Jugendlichen in Frankfurt treten kriminell in keinster Weise in Erscheinung. Frankfurts Kriminalstatistik weist auch noch folgende interessante Zahl auf: Mit 50 Prozent ist die Aufklärungsquote so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr. Der Ruf nach mehr Sicherheit, mehr Polizei, nach härteren Strafen entpuppt sich als populistisches Säbelgerassel.
”Die objektive Gefahr, zum Opfer zu werden, liegt viel niedriger als die Verängstigung, die sich subjektiv darum rankt”, bestätigt Heinz Steinert, Professor für Kriminalsoziologie an der Frankfurter Universität. In der Tat: Paradoxerweise haben besonders die Menschen, die real am wenigsten bedroht sind, die größte Angst, wie etwa ältere Menschen. Hinter dem von Politikern vielzitierten Sicherheitsempfinden, in dessen Namen mehr Polizei, härtere Gesetze und ”ein bißchen New York” gefordert werden, verbergen sich soziale Ängste und Verunsicherungen, die den Bereich der Kriminalität oft überhaupt nicht berühren.
Gespensterstunde
Eine Umfrage eines großen Versicherungsunternehmens, deren Ergebnis unter dem Titel Ängste der Deutschen 1997 veröffentlicht wurde, zeigt, daß trotz des Kriminalitätsgespenstes bei der Frage nach den dringendsten Problemen nicht die Kriminalität, sondern das Problem der Arbeitslosigkeit, die Steigerung der Lebenshaltungskosten oder die Umweltzerstörung genannt werden. Erst auf Rang 12 rangiert die Angst vor Kriminalität. Mit Debatten über Kriminalität und Kriminalitätsängsten läßt sich aber wunderbar von politischen Problemen ablenken. Vielleicht ein Grund dafür, warum das ”Modell New York” zu einem Medienereignis werden kann.
Das ”Modell New York”, ein Vorbild für Frankfurt, Hamburg, Berlin und Stuttgart? Wohl kaum. Selbst in den USA wird das große Aufräumen mittlerweile kritisch gesehen. Dazu tragen neuere Vergleichsstudien bei, die belegen, daß andere US-Metropolen mit weniger repressiven Aktivitäten durchaus gleiche Erfolge haben. Zudem hat das Bekanntwerden einer Reihe skandalöser Polizeiübergriffe New Yorks Erfolgsgeschichte nachhaltig lädiert. Derzeit wird wegen zahlreicher Foltervorwürfe ermittelt. Übrigens: Als Time jene kühne Titelstory veröffentlichte und die Fluchtgedanken der New Yorker mit reichlich Statistik dokumentierte, lagen der Redaktion einige andere Umfrageergebnisse vor, die aber im allgemeinen Redaktionsfriedhof abgelegt wurden. Erst viel später – als New Yorker Politiker die Rettung der Stadt und sich feierten – wurde bekannt, was bei dieser Erhebung ermittelt worden war und offenbar nicht zu dem pessimistischen Tenor der Geschichte gepaßt hatte: Mehr als die Hälfte der Befragten nämlich war der Meinung gewesen, die Probleme New Yorks seien letztlich nicht gravierender als die anderer amerikanischer Großstädte. Und 86 Prozent hatten gar angegeben, sie fühlten sich auf ihrer Straße sicher. Beinahe 70 Prozent hielten ihre Stadt für die großartigste der Welt. Ganz und gar ohne Bratton.