21.10.2011
Das Ende der Kurvenkultur?
Kommentar von Matthias Heitmann
Politische Korrektheit ist auch im Fußballstadion auf dem Vormarsch. Aber wo liegen eigentlich die Grenzen des guten Geschmacks und wer legt diese fest – etwa das DFB-Sportsgericht? Über die Tendenz, die Meinungsfreiheit in der Fankurve zu beschneiden.
Fußball – kein Sport für Weicheier und Schöngeister? Das war einmal. Seit die frühere Proletensportart zu einem sozial akzeptierten Vergnügen erster Klasse für Familien und „bildungsnahe“ Schichten sowie zu einem äußerst lukrativen Geschäft geworden ist, setzen sich in modernen Arenen zunehmend neue Verhaltenskodizes durch. Galt die „Kurve“ in der Vergangenheit eben nicht nur als stimmungsvolle Schönwetterküche, sondern auch als Ort, an dem man(n) seinen Emotionen verbal und in Form von Plakaten und Transparenten freien Lauf lassen konnte, so werden heute andere Maßstäbe gesetzt – und gemeinhin auch eingehalten.
Heute kann man sich ohne größere Probleme mit seinen Kindern in die Fankurve jedes Bundesligastadions trauen – vorausgesetzt natürlich, man ist nicht inadäquat kostümiert. Was man seinen Kindern jedoch vorab erklären sollte, ist, dass im Fußballstadion Dinge gesagt und gerufen werden, die man außerhalb des Stadions besser nicht laut sagt. Warum das so ist? Nun ja, antwortet man dann, weil man das hier eben dürfe, Fußball sei eben Fußball.
Herr Hopp im Fadenkreuz
Doch denkste! Spätestens seitdem der Mäzen des Bundesligaklubs 1899 Hoffenheim, Dietmar Hopp, einem 19-jährigen Fan von Borussia Dortmund vor drei Jahren einen Klage androhte, weil dieser ein Plakat mit der Aufschrift „Im Fadenkreuz: Hasta la vista, Hopp!“ im Stadion hochgehalten hatte, sollte man sich mit expliziten Äußerungen in der Kurve dann doch zurückhalten. Von der einstigen verbalen Narrenfreiheit kann man heute nicht mehr sprechen: Zwar wird im Stadion immer noch vieles geduldet, was draußen Ärger einbringt, aber die Luft für notorisch-cholerische Beleidiger wird dünner.
Jüngstes Beispiel: Der Zweitligist Eintracht Frankfurt sieht sich Ermittlungen vonseiten des DFB ausgesetzt, da Frankfurter „Ultras“ während des Auswärtsspiels der Eintracht bei Dynamo Dresden am 26. September 2010 ein Transparent mit der Aufschrift: „Bomben auf Dynamo“ entrollt hatten. Natürlich, die dem Satz zugrunde liegende Assoziation mit der Zerstörung weiter Teile Dresdens im Zweiten Weltkrieg ist geschmacklos, gedankenlos und armselig. Und dennoch fragt man sich als regelmäßiger Stadiongänger nicht nur, wo eigentlich die Grenzen des guten Geschmacks liegen und wer diese festlegt, sondern auch, ob es beim Besuch eines Fußballspiels nicht gerade darum geht, den Gegner an seiner Schwachstelle zu treffen und zu beleidigen und, wenn es angezeigt ist, auch den eigenen Spielern verbal einen einzuschenken, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hat.
Tod auf der Landebahn
Schmähgesänge unter der Gürtellinie und jenseits des guten Geschmacks haben im Fußball eine lange und internationale Tradition. So müssen beispielsweise seit Jahr und Tag Spieler wie Anhänger von Manchester United den entwürdigenden und infamen „Runway Song“ über sich ergehen lassen. Mit diesem Lied machen sich gegnerische Fans in geschmackloser Weise über das Munich Air Disaster lustig, den Flugzeugsturz von 1958, bei dem in München acht ManU-Spieler starben. „Who’s that dying on the runway, who’s that dying in the snow“, heißt es in dem Lied, das seit Jahrzehnten immer wieder heftige Debatten auslöst. Aber auch ManU-Fans sind nicht gerade zimperlich: Beim letzten Spiel gegen Leeds antworteten sie auf den „Runway Song“ mit dem nicht minder geschmacklosen Text „Always look out for turks carrying knives“, der sich auf einen Zwischenfall in Istanbul vor elf Jahren bezieht, bei dem zwei Anhänger von Leeds United erstochen wurden.
Sicherlich sind derartige verbale Schlagabtausche geschmacklos, und ich bin weder Anhänger noch Mitsänger solcher Hasstiraden. Wenn wir aber damit beginnen, Fans für politisch inkorrektes, aber niemanden körperlich verletzendes Verhalten zu bestrafen, laufen wir Gefahr, die dem Fußball eigene Kultur zu zerstören und belgische Verhältnisse heraufzubeschwören: Die dortigen Schiedsrichter wurden angewiesen, Spiele im Falle von Schmähgesängen sofort zu unterbrechen. Eine Entwicklung, die absurde Blüten treibt: Im August diesen Jahres wurde das Erstligaspiel zwischen Lierse SK und Beerschot AC unterbrochen, als Beerschot-Anhänger den japanischen Torwart von Lierse mit „Fukushima! Fukushima!“-Rufen bedachten.
Dieses Beispiel mag extrem erscheinen. Die Frage aber bleibt bestehen: Wer legt fest, was guter Geschmack ist? Soll ein Schiedsrichter ein Spiel unterbrechen dürfen, weil man ihn als „Wichser“, „Schieber“ oder als Vertreter der „Fußball-Mafia DFB“ in seiner Ehre kränkt oder ihm mitteilt, man wisse, wo sein Auto steht? Wollen wir wirklich, dass künftig jedes Spiel x-mal unterbrochen wird, bloß weil eine Fangruppe die andere beleidigt? Nein. Gehe ich zum Fußball, weil es mir nach feiner Lyrik dürstet? Nein. Ist es ehrverletzend, mit der massenhaften mutwilligen Entwendung bajuwarischer Lederhosen zu drohen oder Ostwestfalen als Idioten zu bezeichnen? Natürlich nicht! Werden im Stadion bald Gesangbücher ausgeteilt mit zulässigen und öffentlichkeitskompatiblen Textzeilen? Hoffentlich nicht!
Über guten Geschmack, so heißt es, lässt sich trefflich streiten – und zwar nicht „vor Gericht“, sondern unter uns. So sollte es auch im Fußballstadion sein. „Bomben auf Dynamo“ ist ein indiskutabler Slogan, aber keine Angelegenheit für den DFB, für Stadionordner oder gar die Polizei. Man sollte von Fußballfans erwarten, dass sie untereinander regeln, was in „ihrer Kurve“ an Plakaten geht und was nicht. Nur wenn man Erwachsene wie Erwachsene behandelt, besteht die Möglichkeit, dass sie sich wie solche verhalten.