25.08.2014

Dabei sein ist alles!

Essay von Björn Hayer

Der Transparenzwahn ebnet die Individualität ein und unterwirft uns permanenter Selbstprüfung hinsichtlich des sozialgefälligen Maßes. Wir sollten dabei jedoch nicht vergessen, dass kreative Individualität ein unerlässlicher Motor des Fortschritts ist.

Gläsern soll die neue Welt sein, ein Paradies, in dem Datenströme und Votings fließen. Inzwischen kommt auch keine Partei mehr umhin, sich das Primat der umfassenden Transparenz nicht in irgendeiner Form auf die Fahnen zu schreiben. Doch welche Art von Transparenz schwebt ihren Apologeten, die sich stets im Mantel des Vorzeigedemokraten und Bürgeranwalts wähnen, eigentlich vor?

Nicht zuletzt durch die Debatte um „Prism“ müssten die Unkenrufe nach Transparenz immer und überall ein wenig leiser werden. Denn zu viel des Guten kann schnell, so zeigt die jüngste Datenaffäre, vom Ziel der Grundrechtswahrung ins Gegenteil umschlagen. Und selbst diejenigen, die stets auf mehr Transparenz in Fragen politischer Prozesse pochen, um dem Bürger zu seiner Kontrollfähigkeit gegenüber den Volksvertretern zu verhelfen, müssen Farbe bekennen. Denn auch dem misstrauisch zu beäugenden Staatsapparat kann man durchaus zugute halten, dass er Daten sammle, um wiederum seine nötige Pflichten zu erfüllen – nämlich um selbst Kontrolle zu erlangen, Kontrolle, um Terrorismus und Sicherheitslücken vorzubeugen, aber eben auch, um im erlangten Wissen, beispielsweise über den Verbleib und die Speicherungen in der Wirtschaft, gerade die Freiheit der Bürger zu schützen. Wo ist also die Grenze zwischen guter und schlechter Kontrolle zu ziehen?

Das Problem liegt offensichtlich schon in der Intention begründet. Wer auf Durchsichtigkeit in allen politischen und sozialen Kontexten insistiert, der strebt – gewollt oder ungewollt – eine Gesellschaftsform allseitiger Observation an. Denn auch eine strengere Überwachung, wie sie doch oftmals vehement für Gehaltslisten von Parteifunktionären und Abgeordneten eingefordert wird, schlägt potenziell in eine Atmosphäre der Denunziation um. Dass Abgeordnete, im letzten Bundestagswahlkampf allen voran der zuvor mit hohen Honoraren bedachte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, verstärkt ihre Einkünfte offen legen sollten, hilft weniger dabei, Phänomene wie Korruption oder Seilschaften zu verhindern, sondern zeugt vielmehr von einer prinzipiellen Verdächtigungsmentalität. Gleichzeitig bilden sich aus der Blickdisposition des Beobachters und bürgerlichen Wächters Kategorien und Schubladen heraus, sodass Transparenz allmählich zur Einebnung von Individualität beiträgt. Denn wenn sich Forderungen kundtun, bestimmte Verhältnisse transparent zu machen, dann doch nur um sie an einer impliziten Norm zu messen. Diese gilt dann als allgemeiner Wertmaßstab, dessen Absolutheitsanspruch nur in einer Egalisierung mündet, die zuvorderst durch eine den permanenten Vergleich erst eröffnenden Transparenz ermöglicht wird. Wenn wir auf Missstände ein Auge werfen wollen, dann doch in Wirklichkeit nur, um zu prüfen, ob die Geschehnisse tatsächlich unserem Wertekanon entsprechen.

„Indem manch einer für allumfassende Transparenz der Emanzipation wegen plädiert, schafft er in dieser Rigorosität zugleich ein neues Gefängnis.“

So benötigt die Transparenzlogik unentwegt objektive Kriterien, anhand deren sie uns vorspiegelt, die Wirklichkeit messen zu können. Aber wer soll sie bestimmen? Und was folgt daraus beispielsweise für das hohe Prinzip des freien Mandats des Abgeordneten? Natürlich, jeder gewählte Parlamentarier ist dem Souverän Rechenschaft schuldig. Dennoch ist er kein bloßer Prozessor, dessen Verhalten technisch determiniert wird, sondern ein Subjekt mit persönlichen Einstellungen, die gerade in Gewissensfragen verteidigungs- oder außenpolitischer Natur zu Recht, zumindest dem Verfassungstext nach, keiner Kontrolle unterliegen. Indem manch einer für allumfassende Transparenz der Emanzipation wegen plädiert, schafft er in dieser Rigorosität zugleich ein neues Gefängnis. Das kollektive wie individuelle Gewissen fallen zusammen, insofern die Normfestsetzung im Rahmen der generellen Transparenz auch auf unser Inneres rückwirkt. Wir beginnen uns permanent selbst zu überprüfen und fragen unentwegt, ob wir transparent genug sind, ja mehr noch: Ob wir dem allgemeinen Maß, das sagt, was gut und was schlecht ist, noch entsprechen.

Erst wenn die Gesellschaft gegenüber der omnipräsenten Offenheit kritische Überlegungen zulässt, kann wieder eine Kultur der wahren Pluralität entstehen. Die Einebnung in die Gleichheit löst sich auf, weil schlichtweg nicht mehr jeder alles über jeden weiß. Das Geheimnis um Intimität und Individualität macht die Gesellschaft wieder reich. Der Umkehrschluss aus einer wünschenswerten Transparenzskepsis läuft auf eine Gesellschaft mit Schattierungen und bewussten Graubereichen hinaus. Diese Vielfalt kann eine neue Stärke sein. Sie beherbergt Freigeister, Provokateure wie Mainstreamer gleichermaßen. Nur dort, wo auch im Stillen – das gilt für das politische, wirtschaftliche wie private Leben unisono – noch Gedankengänge erprobt werden können, ohne sofort durch die Evaluierungsscanner von „Like-“ oder „Dislike-Buttons“ genudelt und abgeschliffen worden zu sein, kann Innovation entstehen. Ohne die Möglichkeit eines privaten Rückzugs hätten Garagentüftler und öffentlichkeitsscheue Genies wohl nie eine Chance gehabt.

„Ohne die Möglichkeit eines privaten Rückzugs hätten Garagentüftler und öffentlichkeitsscheue Genies wohl nie eine Chance gehabt.“

Im Verborgenen lag und liegt immer schon ein Inspirationsquell, weil es Melancholie und Aktivismus gleichermaßen beherbergt. Ein wenig Intransparenz macht das Leben, könnte man zugespitzt pointieren, also überhaupt erst spannend und vielschichtig. Gleichzeitig bietet sie einen Schutz, eine Zone des Austestens jenseits von Sanktion und Ausschluss. Selbst wenn wir es nicht gern hören, aber auch für die Politik erscheint ein solches Terrain geradezu unumgänglich. Insbesondere die Diplomatie und die bilateralen Staatenbeziehungen sind auf Verhandlungsspielräume angewiesen. Im Angesicht einer stets starrenden Öffentlichkeit würde jeder Gesprächspartner alles dafür tun, sich nur keine Blöße zu geben. Die Fronten wären damit verhärtet und unbeweglich. Die Transparenz würde nichts außer dauerhaftem Stillstand bewirken.

Je mehr sich aber auch der technische (Kontroll-)Fortschritt unter der Maske von Fürsorge und Prävention der Idee der omnipräsenten Anwesenheit des Überwachers und Nachvollziehbarkeit von Wegen und Handlungen des Überwachten verschreibt, desto enger wird das Korsett unserer nötigen Entfaltung. Zu viel Transparenz ebnet ein und verschließt die Türen notwendiger Ab- und Umwege. Irgendwann werden Kinder, die in ihren Mini-Mini-Handys GPS-Chips haben werden, wohlmöglich keine Suchen nach Piratenschätzen oder geheimen Indianersiedlungen mehr unternehmen können. Denn Big Mother is watching you und weiß über ihre multifunktionalen und transportablen Flachbildschirme verbotene Abwege frühzeitig zu erkennen. Klar, auch die Verheimlichungen von Affären und sonstigen Tabubewegungen wird schwieriger, wenn alle Wege allen bekannt sind. Aber wollen wir das tatsächlich? Dass wir mehr Transparenz in demokratischen Prozessen, vor allem was die Entscheidungsgänge auf der EU-Ebene anbelangt, brauchen, ist unbestritten und geboten. Denn erst, wenn dort die hermetisch-bürokratischen Strukturen im Sinne von Demokratiehemmnissen in die breite öffentliche Diskussion eingehen, kann es zu Debatten um die nötige institutionelle Neuausrichtung kommen.

Doch um welchen Preis fordern dies die Anwälte der Transparenzgesellschaft ein? In jedem Fall um den des Geheimnisses – einen Wert, den gerade die digitale Revolution mehr und mehr aus unserem Gedächtnis verschwinden lässt. Wir alle stellen fortwährend unsere innersten Daten aus, posten überall unsere Meinungen, stellen Bilder von unseren Urlauben ins Netz, flirten mit einem vermeintlichen Gegenüber, das wir jedoch nur in Form einer technologischen Oberfläche wahrnehmen. Vielleicht erwächst aus eben dieser Inflation des Privaten jene Mentalität der Preisgabe. Doch darüber sollten wir nachdenken. Wir müssen ehrlich zu uns und unseren Volksvertretern sein.

„Eine transparenzkritische Position verurteilt keineswegs den Fortschritt, in welcher Hinsicht auch immer. Im Gegenteil: Individualität und Kreativität mögen sogar der Motor allen Fortschritts sein.“

Kontrolle darf kein Wahn werden. Weder beim Bürger noch bei Behörden. Doch die meisten wollen derzeit nicht nur reines und zwar astreines Wissen, sondern sie streben danach, es völlig zu kontrollieren. Keiner darf sich diesem Drang der Offenbarung widersetzen. Transparenz gilt für alle oder keinen, für alles oder nichts. Sich dem zu entziehen, heißt schlimmstenfalls zukünftig, das Misstrauen anderer auf sich zu ziehen. Das Netz hat schon vieles in dieser Hinsicht möglich gemacht und es wird auch morgen die Welt noch gläserner machen als sie ohnehin schon geworden ist. Dagegen kleine Inseln der Privatsphäre und Vertrautheit zu fordern, bedeutet somit zunehmend wohl mehr oder weniger, das Attribut des Kulturpessimisten mit sich herumzutragen. Doch diese Haltung ist keine genuin reaktionäre, sondern ein wichtiges Erbe der Aufklärung. Mit ihr verbindet sich überhaupt erst die Trennung von Staat und Privatheit. Derzeit wird diese Tradition jedoch sträflich verkehrt. Transparenz tritt als der allgegenwärtige Impetus des aufgeklärten Menschseins auf, während dieser das Wesentliche, das ihn zum Menschen werden lässt, zugleich negiert: dessen Individualität. Aber eine transparenzkritische Position verurteilt keineswegs den Fortschritt, in welcher Hinsicht auch immer. Im Gegenteil: Individualität und Kreativität mögen sogar der Motor allen Fortschritts sein. Eine solche Haltung weiß gerade um die Bedingungen, die Fortschritt überhaupt erst möglich machen.

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