30.03.2020

Corona-Epidemie: Ruhe vor dem Sturm?

Von Thilo Spahl

Die Zahlenlage ist immer noch schwer zu beurteilen, aber wir haben gewissen Grund zu Optimismus.

In Sachen Corona werden wir seit Wochen in allen Kanälen mit Informationen überschüttet. Es ist nicht ganz leicht, sich ein Bild zu machen und eine Meinung zu bilden. Man kann aber vorsichtig optimistisch sein, dass wir einigermaßen glimpflich davonkommen werden (sofern man die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen der Shutdowns und das mit ihnen verbundene Leid hier einmal ausblendet).

Wie viele Menschen erkranken und sterben an Covid-19? Wir können es tagesaktuell nachlesen, und die großen Zahlen sind natürlich beunruhigend. Heute, am 29. März, 15.13 Uhr, werden über 684.000 Infizierte und über 32.000 Tote weltweit gemeldet. Und die Zahlen steigen unablässig. Noch beängstigender sind die drastischen Berichte aus Krankenhäusern in Italien, Spanien oder Frankreich. 

Doch bei den großen Zahlen muss vor allem ein Unsicherheitsfaktor beachtet werden. Sie sagen offenbar nicht aus, wie viele Menschen in Folge der Infektion sterben, sondern nur wie viele „in Zusammenhang“ mit der Infektion sterben. Gezählt werden Menschen, die infiziert sind und sterben. Wir können nur mutmaßen (und Wissenschaftler werden sicher Modellrechnungen dazu anstellen), wie groß der Anteil der Infektion an den Todesursachen ist. Denn betroffen sind ganz überwiegend sehr alte Menschen, und bei denen tragen in aller Regel eine Reihe von Faktoren dazu bei, dass sie nicht am Leben erhalten werden können.

Die Frage nach den Todesursachen zu beantworten ist deshalb so schwierig, weil der Anteil der Todesopfer mit Vorerkrankungen sehr hoch ist. In Italien waren es einer Studie vom 17. März zufolge, bei der 355 Sterbefälle ausgewertet wurde, über 99 Prozent. Insgesamt hatten die Verstorbenen durchschnittlich 2,7 Vorerkrankungen. Das wiederum ist wenig erstaunlich, da auch das Alter der Todesopfer, die zu zwei Dritteln Männer sind, sehr hoch ist. In Deutschland liegt der Medianwert derzeit laut RKI bei 82 Jahren (in der italienischen Studie lag er bei 80,5).  Menschen, die an Covid-19 sterben, leben also insgesamt länger als der Durchschnitt der Bevölkerung.

In Hinblick auf die regionale Überlastung des Gesundheitssystems stellt sich auch die Frage, wie erfolgreich die intensivmedizinische Behandlung von solchen alten und schwerkranken Personen generell ist. Zwei Studien in Wuhan kamen zu dem ernüchternden Ergebnis, dass von denen, die an Beatmungsgeräte angeschlossen wurden, am Ende nur 3 bzw. 19 Prozent überlebten. Man kann mutmaßen, dass auch in Italien viele Patienten nicht davon profitierten, dass sie in Krankenhäuser gebracht wurden. Und dass sie ggf. in vergleichbarem Zustand in der „Vor-Corona-Zeit“ auch nicht eingeliefert worden wären. (Bitte als Vermutung, nicht als Empfehlung verstehen!)

Grippetote und Coronatote

Auch bei der Grippe ist es schwer zu sagen, wer bzw. wie viele wirklich an ihr gestorben sind. Dennoch veröffentlicht man jedes Jahr entsprechende Zahlen. Sie liegen für Deutschland in guten Jahren bei wenigen Hundert,  können aber auch in den fünfstelligen Bereich gehen.

Diese Zahlen werden jedoch nicht dadurch ermittelt, dass man alle Menschen zählt, die mit dem Influenza-Virus infiziert wurden und danach starben. Sonst wären die Zahlen noch deutlich höher. Stattdessen wird statistisch die sogenannte Übersterblichkeit ermittelt. Vereinfacht gesagt: Man schaut, wie viele Menschen in der Influenzasaison mehr gestorben sind, als es ohne Influenza (und verwandte Erkrankungen) zu erwarten gewesen wäre.

Im folgenden Diagramm sehen wir die Grippesaisons in Europa von 2013/14 (ganz links) bis 2017/18 (ganz rechts).

Abb. 1: Grippewellen der letzten Jahre, Quelle: EuroMOMO

Die rote Linie zeigt die Übersterblichkeit durch Grippe (die grüne zeigt Effekte von Hitze und Kälte). In drei von fünf Jahren war die Übersterblichkeit erheblich. In der Saison 2017/2018 wurden sie für Deutschland mit über 25.000 zusätzlichen Toten beziffert. Die Saison 2019/20 weist bisher eine eher geringe Übersterblichkeit aus. Sie könnte also am Ende trotz Covid-19 unter den Werten der starken Grippewellen der Vergangenheit bleiben.

Das folgende Diagramm zeigt den Verlauf der allgemeinen Mortalität bis Kalenderwoche  (KW) 12, 2020 für Europa. Auch hier sind die Grippewellen deutlich sichtbar.

Abb. 2: Mortalität der Gesamtbevölkerung in Europa, Quelle: EuroMOMO

Schaut man auf einzelne Länder, sieht es natürlich jeweils unterschiedlich aus. Hier der Verlauf für Deutschland von der 48. Kalenderwoche 2017 bis zur 12. Kalenderwoche 2020 mit einer relativ niedrigen Sterblichkeit in diesem Winter:

Und für Italien (wo sich erwartungsgemäß ein deutlicher Anstieg abzeichnet):

Abb. 3/4: Mortalität der Gesamtbevölkerung in Deutschland und Italien seit Dezember 2017, Quelle: EuroMOMO

In Hinblick auf die aktuelle Entwicklung merken die Forscher an: „Einige fragen sich, warum in den gemeldeten Sterblichkeitszahlen für die von COVID-19 betroffenen Länder keine erhöhte Mortalität festgestellt wird. Die Antwort ist, dass eine erhöhte Mortalität, die vor allem auf subnationaler Ebene oder in kleineren Schwerpunktregionen und/oder konzentriert in kleineren Altersgruppen auftreten kann, auf nationaler Ebene möglicherweise nicht nachweisbar ist, noch weniger in der gepoolten Analyse auf europäischer Ebene, da die Bevölkerung als Grundgesamtheit sehr groß ist. Darüber hinaus gibt es immer einige Wochen Verzögerung bei der Registrierung und Meldung von Todesfällen. Daher müssen die EuroMOMO-Mortalitätszahlen der letzten Wochen mit einer gewissen Vorsicht interpretiert werden.“ Wir haben es also bisher, abgesehen von Italien, derzeit glücklicherweise nur regional mit einer deutlichen Übersterblichkeit zu tun.

Ruhe vor dem Sturm?

Die große Frage ist natürlich: Was kommt noch auf uns zu? Was man fürchtet und was von vielen vorausgesagt wurde, ist ein exponentieller Verlauf der Erkrankungswelle, der dazu führen würde, dass Krankenhäuser auch in Deutschland überlastet werden. Das würde bedeuten, dass sich die Fälle in bestimmten Zeitabständen verdoppeln. Also nach einem Muster wie dem folgenden: Tag 1: 100, Tag 3: 200, Tag 5: 400, Tag 7: 800, Tag 9: 1600, Tag 11: 3200 und dann weiter 6400, 12.800, 25.600, 51.200, 102.400, 204.800 usf.. Eine solche Ausbreitung hätte sehr wahrscheinlich katastrophale Folgen.

"Von einem solchen exponentiellen Verlauf der Covid-19 Infektionen ist in Deutschland derzeit eher nicht auszugehen."

Von einem solchen exponentiellen Verlauf der Covid-19 Infektionen ist in Deutschland derzeit eher nicht auszugehen. In KW 11 fielen laut Robert-Koch-Institut 5,9 Prozent der Tests positiv aus, in KW 12 waren es 6,8 Prozent. Die Zahlen für KW 13 sind noch nicht veröffentlicht.

Da sich die Anzahl der Tests von KW 11 zu KW12 fast verdreifacht hat, lässt sich die Zunahme der insgesamt bisher erfassten Neu-Infizierten also fast vollständig auf die Zunahme der Tests zurückführen. Der Anstieg der Fälle scheint tendenziell eher linear zu verlaufen, also nach dem Muster: 100, 200, 300, 400, 500, 600 usw.

Abb. 5: Berichtete COVID-19 Fälle in Deutschland, Quelle: Report des Robert-Koch-Instituts, 29.03.2020

Wieviel die bisher ergriffenen Maßnahmen der Ansteckungsprävention zu diesem moderaten Verlauf beigetragen haben, lässt sich schwer sagen. Aufgrund der Inkubationszeit zeigen sich Effekte erst mit ein bis zwei Wochen Verspätung. Die Schulschließungen ab KW 12 und Kontakteinschränkungen ab KW13 dürften also eigentlich noch keine große Rolle spielen. Man sollte daher bald prüfen, wie lange sie noch aufrechterhalten werden sollten, bzw. mit welchen Strategien man noch mehr Daten gewinnen und die weitere Entwicklung steuern möchte.

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