09.01.2015

Charlie Hebdo: Die offene Gesellschaft am Wendepunkt

Analyse von Robert Benkens

Die Warnungen vor Islamhass sind nach wie vor richtig, doch wie der jüngste Anschlag zeigt, ist es naiv und gefährlich, wachsende Probleme mit Islamismus zu ignorieren. Robert Benkens legt dar, warum wir gerade jetzt nicht den Kulturpessimisten das Wort überlassen sollten

Zu oft pendelt die Debatte um Zuwanderung und Integration zwischen relativierendem Beschönigen und dumpfer Hetze hin und her. Diese Entwicklung könnte sich nach dem Terroranschlag gegen Menschlichkeit und Meinungsfreiheit in Paris weiter zuspitzen. Deshalb ist es gerade jetzt notwendig, eines klipp und klar deutlich zu machen: Eine selbstbewusste Einwanderungsgesellschaft muss sich gegen Feinde der offenen Gesellschaft wehren – egal von welcher Seite. So darf auch Kritik am politisierten Islam nicht ausbleiben, weil aus falsch verstandener Toleranz Rücksicht auf kulturelle Empfindsamkeiten genommen wird oder Angst vor einer Instrumentalisierung dieses Themas durch Fremdenfeinde besteht. Denn das hieße, dass „die“ Muslime nicht ernst genommen würden und eine – wenn auch gut gemeinte – kindliche Sonderbehandlung erhielten, was letztlich Wasser auf die Mühlen der notorischen Islamhasser wäre.

 

Zwar befinden wir uns mitten in einem Kulturkampf, das stimmt. Er findet aber nicht zwischen zwei starren Blöcken, westliche Aufklärung hier und islamische Rückständigkeit dort, statt. Sondern zwischen der offenen Gesellschaft hier und Islamhassern wie Islamfanatikern dort. Natürlich gibt es in bestimmten islamischen Milieus ein Selbstverständnis, das Muslime als Opfer des Westens und zukünftige Beherrscher über den Westen sieht. Ein solches Opferdenken verhindert einen Diskurs auf Augenhöhe und auf Basis gegenseitiger Achtung. Muslime sind keine Opfer, sondern gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, denen folglich genauso viel an Toleranz entgegengebracht, aber auch abverlangt werden darf wie allen anderen auch.

„Liberale Kräfte und westliche Werte müssen gestärkt werden, um Universalismus und somit Vielfalt zu ermöglichen.“

Die genannten Probleme nun aber absolut zu setzen, dabei soziale und ökonomische Aspekte auszublenden und einer Kultur zu unterstellen, per se nicht reformfähig oder integrierbar zu sein, hieße die Tür für eine allmählich entstehende gemeinsame Identität und Solidarität endgültig zu schließen. Zudem würde somit ignoriert, dass die islamische Welt im Mittelalter offen für die Errungenschaften der europäischen Antike war und diese weiterentwickelt hat, was auch zur Renaissance und späteren Aufklärung beitrug.

Gleichwohl darf es nicht darum gehen, heutige Missstände schönzureden, sondern darum zu zeigen, dass kultureller Fortschritt immer möglich ist. Deshalb müssen die liberalen Kräfte gestärkt werden, die eine starke Identifikation mit westlichen Werten vorleben und so beweisen, dass diese nicht starr kulturgebunden, sondern potentiell universell sind. Universalismus, zu dem auch Werte wie uneingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit gehören, bedeutet aber nicht Uniformität, sondern ist eine Grundvoraussetzung für Vielfalt.

So könnte mit einer starken Bewegung für den Euro-Islam [1]ein wirksames Signal für die Vereinbarkeit von Tradition und Integration gesetzt werden; diversen Islamhassern, die einer vermeintlichen Islamisierung Europas das Wort reden, zum Trotz. Für alle müsste es nun aber auch heißen: Runter von der kulturellen Scholle, rein ins kalte Wasser der Politik und auf zu neuen Ufern! Erst wenn sich eine Einwanderungsgesellschaft über die rationalen Grundsätze des Zusammenlebens einig wird, kann etwas verbindendes Neues entstehen, das unterschiedliche Einflüsse integriert, emotionale Zugehörigkeit stiftet und zu Verantwortung als stolzer Citoyen motiviert. Nicht ein moderierendes Nebeneinander der Kulturblöcke, sondern ein konstruktives und demokratisch streitendes Miteinander sollte die Folge aus den schrecklichen Ereignissen sein.

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