11.06.2014

Brasilien: Wo Wirtschaft und Verbote boomen

Von Zé do Rock

Das Austragungsland der Fußball-WM war zuletzt Gegenstand von Negativschlagzeilen. Der brasilianischstämmige Schriftsteller Zé do Rock erläutert im Gespräch mit Novo-Redakteur Christoph Lövenich die aktuellen Proteste und die sich ausbreitende Regulierung

Novo: Morgen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Dieses Land wird von vielen immer noch in erster Linie mit Klischeevorstellungen von Samba, Slums und Stränden in Verbindung gebracht. Sie haben Ihr Herkunftsland für Ihr jüngstes Buch „per anhalter durch die brasilianische galaxis“  neu erkundet. Was macht das Brasilien von heute aus?

Zé do Rock: Auf da positiva seite, bin ich verwundert über dás, was im land ökonomisch und politisch passiert [Der Sprachkünstler Zé do Rock antwortet in diesem Interview in einer selbstkreierten Mischung aus brasilianisiertem und Wunschdeutsch – Anmerk. der Red.]. Ich bin realment impressionadu. Má könnte quasi meinen, dás brasilianische volk is aus seinem ignorantentum aufgewacht, wählt die richtigen leute und wird weise, aba wenn má sich den spectakel anschaut, den die tradicionale mittelclasse ­– mittlere und obere mittelschicht – en ihrem geballten hass liefert, gegen Lula [da Silva, ehemaliger Präsident – Anmerk. der Red.] und alles, was nach Lula riecht, kann má keine weisheit erkennen. Und natürlich sind auf der negativa seite die vielen verbote und die tatsache, dás en einem oder zwei décadas die mehrheit da populacion vermutlich evangelicalish sein wird. Sie sind bei jedem verbot sofort dabei.

Die Austragung der Fußball-WM ist seit einiger Zeit Gegenstand von Protesten in Brasilien. Wer demonstriert da und wofür oder wogegen? Spiegeln Sie die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung wider?

Ich muss da a bisschen ausholen: en den 1950er jahren war die brasileinische populacion noch mehrheitlich ländlich, en den 1960er jahren vollzog sich der wandel zu a mehrheitlich urbana populacion (inzwischen um die 85 procent), und Brasilien wurde zur achtgröszten industrienacion. Má sprach von 3 wirtschaftswundern: dem japanesen, dem deutschen und dem brasileinischen wirtschaftswunder. Dás japanês wunder entstand durch den fleiss da japaner und durch ir fähigkeit, westliche producte zu copiar und zu perfeccionar. Dás alemão miracle entstand durch dás talento de organisação und das hohle bildungsniveau, ich meine hohe bildungsniveau der alemães. Dás brasileinische wunder wiederum, dás is wirklich a wunder, dás kann má nich erklären.

„Natürlich gab es mit der WM korrupcion und verschwendung, aber die stadien ham weniger als 3 miliarden gekostet, seit der WM-vergabe sind für gesundheit mer als eine bilion ausgegeben worden.”

Claro, so entstand a mittelclasse, aba die machte ca. 40 procent aus – wenig im vergleich zu Alemanha, fiel im vergleich zur welt insgesamt. Jedenfalls waren 60 procent vom milagre econômico ausgeschlossen, 20 procent unter der UNO-armutsgrenze, die wahrlich keine hohe is. Em den 1980ern kam die quase-insolvência, die inflação, die an manchen jahren 2000 procent betrug. Erst mitte da 1990er kam der social-democrata Fernando Henrique Cardoso, auch FHC genannt, an die macht. Er besiegte die inflação, und obwohl er realpolitik mit dem groszkapital trieb, hat er auch einige sozialhilfe-variantes eingeführt, und zum ersten mal vermutlich em da ganzen história schloss sich die schere zwischen reich und arm a bisschen. Nach acht jahren kam Lula, von der Arbeiterpartei PT, nach sovielen niederlagen dó noch an die macht. Er nannte die letzte regierung ‘a heransa maldita’, dás verfluchte erbe, var aba weise genug, nich fiel zu ändern. Es wurde aba naturalment alles umbenannt. Die lula-jahre waren genauso gut für die economia, für die umverteilung, eigentlich sogar bessa, weil Lula mit der weltconjunctur glück hatte, und es hatte noch den vorteil, dás sich die armen zum ersten mal representados sahen. Brasil hat ao die weltcrise 2008 gut überstanden – plötzlich bringt linke política gute resultados, sogar für die reichen. Plötzlich hatten die ärmeren 120 miliões etwas mehr geld, a gigantesco innenmarkt is entstanden. Inzwischen is das land der viertgröszte automarkt da welt, und die werbeminute von TV Globo is die teuerste da welt. Ausserdeem durften die bancos brasileiros nich am weltcasino mitspilen, das is eer típico für dis verantwortungslosen europeus governos…


Was sind die Ursachen für die aktuellen Demonstrationen?

Die 60 procent armen, die teilweise nu em die untere mittelclasse wandern, liben Lula und liben ao Dilma Rousseff [derzeitige Präsidentin], weil se seine candidata favorita va. Aba FHC hat schon vor langer zeit gesagt: wenn wir mit umverteilung anfangen, wird die mittelclasse gewaltig motzen. Sie hat es bei ihm aba doch nich getan, weil er der besiger der inflaciao var und das ganze sowieso discretamente behandelte. Lula hat es aba gleich an die grosze glocke gehängt, dann war er kaum im da schole – wärend der FHC professor im den groszen unis da welt gewesen va – dazu kam er aus dem armen nordosten. Und auf den ganzen scheiss is er noch stolz! Nordestinos, also nordöstler, sind sou beliebt im südosten und süden vie turkis in Alemanha. Und nu sitzen dise braune leuti neben dir im flugzeug, vileicht sogar deine ex-hausangestellte, die du selber wegen den lonerhöhungen und sozialabgaben nich mer zalen konntest. Wenn ma sagen wir mal 10 procent abgibt, dafür doppelt verdient, is das a super geschäft, find ich. Die mittelclasse sit es aba nich so, und beklagt das die armis reicher sind aber ignorantis gebliben sind – ma sit es schon an irem walverhalten, sie wälen die falschis.

Nu, über erzwungene solidaridäd zu reclamiren, is nich specialment elegant, also müssen moralischere gründe her für den hass. Angeblich gab es noch nie sou ein corruptes governo, ausserdeem: die schulen, hospitäler und straszen befinden sich in eim miserablen zustand, weil das ganze geld für die stadien verschwendet wird. Der satz wird milionenfach widerholt, und schon wird er als etablierte warheit declariert. In den brasiliano medien arbeiten mittelclassis, und die erzälen der mittelclasse, was sie hören will ­– das alles scheisse is. Die absurdesten statistiken werden aufgestellt – und im zweifelsfall braucht ma nur 30 länder zu nemen, die in eim bestimmten punkt besser sind als Brasil, dann Brasil dazu, und schon is das land schlusslicht, quod erat demonstrandum.

„Bis vor wenigen jaren durfte kein journalist irgendwas über Brasil sagen, one die armut und die favelas zu erwänen, er würde als zynisch gelten. Nu darf jeder das.”

Inwieweit statistiken über corrupcion genau sein können, weiss ich nich, jedenfalls gibt es den corrupcions-barometer von Transparency International. Es wird eim rapide clar: je ärmer das land, desto corrupter. Da stet Brasil auf der tabelle ein par posicionen besser als ma von der economischen performance des landes erwarten würde. Und die Dilma hat immerhin 7 ministris wegen corrupcionsverdacht gefeuert. Die straszen sind eer selten so gut wie die deutshus, aber sie sind vil besser als vor 20 oder 30 jaren, als es richtig catastrofal war. Und nu is sogar der nordosten voller autobanen. Wo gabs schon so was? Von öffentlichen hospitälern hat die tradicionale mittelclasse nich die geringste anung, ausser dem, was inen die sensacionsgirigen medien zeigen. Aber Brasil is grade der zweitgröszte lebensmittelexporteur der welt, der drittgröszte flugzeughersteller, der virtgröszte schiffshersteller, plötzlich sind 2 dutzend brasiliano multis unterwegs in der welt und kaufen ein, Burger King zum exempel is brazilian, der gröszte brauereiconzern in Deutshland und in der welt is der belgisch-brazilian Inbev. Naja, das land hat sich enorm verbessert, und das merkt ma vor allem am nordosten.

Es gibt auch linke, die mer links sind als die PT als regirupartei, die protestiren, und ein par andre wollen mal etwas spass haben und die sau rauslassen. Hätt ich inzwischen auch mal wider lust! 


Eröffnet die WM auch Chancen, von denen das Land profitieren kann?

Es hat zusammen mit Olympia enorm dazu beigetragen, das das land plötzlich als boomland geseen wurde. Bis vor wenigen jaren durfte kein journalist irgendwas über Brasil sagen, one die armut und die favelas zu erwänen, er würde als zynisch gelten. Nu darf jeder das.

Natürlich gab es mit der WM korrupcion und verschwendung, aber die stadien ham weniger als 3 miliarden gekostet, seit der WM-vergabe sind für gesundheit mer als eine bilion ausgegeben worden. Also wenn kein stadion gebaut oder renoviert worden wär, hätte ma maximal eine verbesserung von 0,3 procent im gesundheitswesen.


Die Medienberichterstattung hierzulande im Vorfeld der WM war fast ausschließlich negativ. Welche Gründe könnte es dafür geben?

Sie is schon etwas freundlicher und diferenzierter, wenn ma sie mit der berichterstattung vor ein par jaren vergleicht. Aber klar: die brasiliano mittelschicht sit alles ser negativ, dann sen es die brasiliano medien auch so, und die internacionalen medien übernemen dise sicht. Wie füttert ma die mittelklasse mit schlechten nachrichten? Nich nur, indem ma das land mit handverlesenen ländern vergleicht. Zum beispil vergleicht ma das prokopf-einkommen mit ländern der ersten welt, und daneben das waxtum mit den BRIC-staten [Brasilien, Russland, Indien, China]. In beiden schneidet Brasil schlecht ab. Ma könnt auch das prokopf-einkommen mit den BRIC-staten und das waxtum mit den europano ländern vergleichen, dann stünde das land ser gut posizioniert da, aber das is nich der sinn der sache.

Klar, kritisch zu sein und mit dem mainstream-wissen mitschwimmen, da is der berichterstatter auf der sicheren seite, keiner wird ihn hinterfragen. Ein journalist sagte mal in einer groszen deutschen tageszeitung vor über 10 jahren, es leben zwei millionen straszenkinder in Sao Paulo, und der chefredaktör hatte offensichtlich keine probleme damit. Damals gab es 900 obdachlose kinder und 4500 kinder, die ein dach überm kopf hatten aber meistens auf der straße lebten – in einer bevölkerung von 20 milionen. Hätte er gesagt, das nur 0,02 procent der bevölkerung aus straszenkindern besteet, hätte der chefredakteur sofort nachprüfen müssen, ob das stimmen kann. 


Was erwartet anreisende Fußballfans in Brasilien? Wie ist es um ihre Freiheit bestellt und wie um ihre Sicherheit in einem Land, das in dem Ruf steht, man werde häufig auf offener Straße überfallen?

Johannesburg hatte in den 1990er jaren 150 morde pro 100.000 einwoner im jar, heutzutage is San Pedro de Sula in Honduras der champion. Rio und Washington hatten um die 70, Sao Paulo und New York 40, Berlin 15 und München 2. Inzwischen is die mordrate in Sao Paulo um die 10 – so wie Frankfurt. Rio hat 25. Also in einigen groszstädten is die kriminalität stark zurück gegangen, dafür wurde es in andren städten schlimmer, und Maceió und Belém sind unter den 10 gefärlichsten der welt (nummer 4 und nummer 10) – nu ja, da is wenigstens kein WM-spiel… Vitória, nördlich von Rio, war relativ sicher und is jetz eine der gefährlichsten. Die leute erklären es so, das die kriminellen wegen der vielen polizei in Rio nach Vitória ausgewichen sind, in Rio fühlten sie sich nich mehr sicher.

Es werden über 40 000 morde im jahr verübt, aber das land is grosz und hat eine grosze bevölkerung. Insgesamt is die kriminalität etwas zurück gegangen, die mordrate beträgt grade 20,5 morde pro 100.000 einwohner. Ab 20 morde gilt ein land als gefährlich, also is das land noch gefährlich, aber direkt an der grenze zum akzeptablen. Was heisst: manche städte sind sehr sicher, wenn man aber nich weiss, wie’s mit der kriminalität in den einzelnen städten steht, empfiehlt es sich weiterhin, menschenleere straszen zu meiden, sowohl nachts wie tagsüber…

„Zum fahren gilt die grenze 0,0 promille, also abends gescheit bechern und am näxten morgen fahren, is nich drin.“

In Deutschland haben Sie sich aktiv gegen Rauchverbote eingesetzt, in Ihren Büchern verschiedentlich diese und ähnliche Fragen angesprochen. Wie steht es um die Regulierung persönlicher Lebensweisen wie den Verzehr von Fleisch oder alkoholischen Getränken und dem Rauchen in Brasilien? Mit welchen Verboten ist man in Brasilien konfrontiert, etwa beim Public Viewing der Spiele?

Eine verbotswelle fegt über das land. Rauchen vor dem flughafen, vor den kneipen, alles verboten, obwohl das Senat auf seiner webseite abstimmen lassen hat und eine mehrheit dagegen war. Es is strikt verboten, eim raucher schutz gegen pralle sonne, regen oder kälte zu geben. An den raststätten muss ma sich vom restaurant entfernen, dabei lassen 20 oder 30 busse ihre motoren eine halbe stunde lang laufen, damit die klima-anlage weiter funktioniert. Klar, auch an den stränden von diversen bundesstaten is das rauchen verboten, wie auch strandverkäufer, sonnenschirme in den falschen farben, etc. Manche kneipen und shopping centers verbieten das küssen.

Zum fahren gilt die grenze 0,0 promille, also abends gescheit bechern und am näxten morgen fahren, is nich drin. Und es wird sowieso immer schwieriger, alkoholische getränke zu finden, weil viele besitzer von lokalen und kiosken inzwischen evangelikalisch sind. Und die ‘geração saúde’, die gesundheitsgeneration, greift um sich.

Meine schwester wohnt in a hochhaus in Sao Paulo. Wenn man ankommt, hängt an der einfahrt schon a schild: „HUPEN VERBOTEN“. Má betritt dás grundstück und schon im freien sieht má 3 rauchverbotsschilder. Am aufzug liest má, dás es verboten is, gäste mit zum swimmingpool zu nehmen, es is verboten für kinder unter 12 jahren, den aufzug alleine zu benutzen, es is verboten, menschen aufgrund ihrer raça, religion etc zu discriminaren – und darunter die hotline für raucherdenunzierungen. Erst als má den aufzug betritt, sieht man a schild, dás kein verbot is, dá steht: Lächeln Sie, Sie werden gefilmt!

„Wenn ich sou seh, vi demonstrações em Tailândia und em der Ucrania geschafft ham, democraticamente gewählte governos rauszuekeln, mach ich mir schon sorgen.“

Zu guter Letzt bitten wir um eine Vorhersage: Wie werden das brasilianische und das deutsche Team bei der WM abschneiden?

Es sind nach da histórisca punktezahl die zwei besten times da welt, und ich kann nich imaginar, dás se mau abschneiden. Ich möchte trotzdem nich, dás Alemanha gewinnt – europäer dürfen nich auf dem continent americano gewinnen, sie sind schon so überheblich… Normalerweise bin ich für die underdogs, hoff immer dás mal a time gewinnt, dás nó nie gewonnen há, andererseits hoff ich diesmal dó, dás Brasil gewinnt. Erstens weil zweimal zuhause verlieren (dás erste mal wa 1950 contra Uruguai) wer zu fiel des guten, zweitens weil ich dás schlimmste für die política brasileira fürchte, wenn dás land verliert – und verlieren heisst em dem fall auch a zweiter platz. Wenn ich sou seh, vi demonstrações em Tailândia und em der Ucrania geschafft ham, democraticamente gewählte governos rauszuekeln, mach ich mir schon sorgen. Die instituições democráticas im land machen a gefestigten eindruck, aba ganz sou sicher bin ich mir doch nich. Dis mittelclasse is dermaszen von ir hass geblendet, dás se vermutlich vi die Tea Party sogar die democratie und stabilidad opfern würde, um nich mehr von da PT regiert zu werden. Jedenfalls va die FIFA vermutlich dagegen, dás Brasil bei den letzten WMs gewinnt, und konnte dás gut einfädeln – Sepp Blatter va der ziehson von Joao Havelange, der wiederum mit dem presidente da CBF, Confederaçao Brasileira de Futebol, verschwägert is. Als milionärstes event der welt weit und breit, kann sich die WM kein monopolisirer wie Schumacher oder FC Bayern leisten, es muss spannend bleiben. Diesmal darf Brasil sicher gewinnen, und es werden bestimmt kaum ungerechte elfmeter contra Brasil gepfiffen. Andrerseits is fussball unvorhersehbar wie das leben, und das macht seine spannung aus.

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