26.06.2013
Billige Energie als Menschenrecht
Essay von Ted Nordhaus und Michael Shellenberger
Die Verfechter des Fortschritts waren lange überzeugt, bezahlbare Energie sei ein grundlegendes und vom Staat zu garantierendes Menschenrecht. Wie die Linke dazu kam, billigen Strom für ärmere Menschen abzulehnen.
Progressiv denkende Menschen setzten sich einst für vom Staat geführte Projekte ein, die den wirtschaftlichen und menschlichen Fortschritt förderten, wie zum Beispiel Franklin D. Roosevelts Tennessee Valley Authority. Heute unterstützen westliche „Progressive“ die Rückkehr zu energiearmen Lebensweisen und dezentralisierende, vom Markt bestimmte Projektplanungen. Dabei genießen sie selbst die Früchte der Moderne, die in vielerlei Hinsicht durch öffentliche Maßnahmen geschaffen wurden. Eine wirklich progressive Vision für das 21. Jahrhundert sollte – und wird – deshalb viel stärker von den Eliten der Entwicklungsländer und weniger von westlichen Umweltschützern gestaltet. Denn erstere – wie etwa die brasilianische Staatspräsidentin Dilma Rousseff – machen sich keine Illusionen über die Folgen von Energiearmut.
Die Tennessee Valley Authority: „Ein Segen für die nationale Wirtschaft“
Vor 80 Jahren war die Situation des Tennessee-Tals vergleichbar mit der heutigen Lage vieler armer, ländlicher Gemeinden in den Tropen. Die besten Wälder wurden abgeholzt, um als Brennmaterial für Öfen zu dienen. Die Böden wurden schnell ihrer Nährstoffe beraubt, was zu Ernteausfällen und einer verzweifelten Suche nach neuem Ackerland führte. Arme Bauern wurden von Malaria geplagt und die medizinische Versorgung war nicht hinreichend gewährleistet. Kaum jemand hatte einen Wasseranschluss und noch weniger Menschen einen Stromanschluss im Haus.
Der Erste Weltkrieg gab Anlass zur Hoffnung. Der Kongress bewilligte den Bau des Wilson-Damms auf dem Tennessee River, der eine Munitionsfabrik mit Energie versorgen sollte. Der Krieg endete jedoch kurz nach der Fertigstellung des Projektes. Henry Ford erklärte, dass er Millionen von Dollar investieren, eine Million Männer einstellen und eine 75 Meilen lange Stadt bauen würde, wenn die Regierung ihm nur die gesamte Dammkonstruktion für fünf Millionen Dollar überlasse. Obwohl die Steuerzahler schon mehr als 40 Millionen Dollar in das Projekt versenkt hatten, waren Präsident Harding und der Kongress dazu geneigt, den Vorschlag anzunehmen, denn ihrer Ansicht nach hatte sich die Regierung aus den Angelegenheiten der wirtschaftlichen Entwicklung herauszuhalten.
„Die Linke sieht billige Energie nicht mehr als grundlegendes Menschenrecht an, sondern als eine Bedrohung für den Planeten und Nachteil für die Armen.“
George Norris, ein Senator aus dem progressiven Lager, griff die Abmachung scharf an und schlug stattdessen vor, aus dem Komplex ein staatliches Elektrizitätswerk zu machen. Er war Mitglied des Landwirtschaftsausschusses und besuchte das Tennessee-Tal regelmäßig. Er übernachtete in den unbeleuchteten Hütten der armen Bewohner und lernte deren Situation so wirklich kennen. Norris wusste, dass Ford profitable und daher eben nicht billige Elektrizität und Düngemittel produzieren wollte, und daher war er davon überzeugt, dass Ford sich wie ein Monopolist verhalten würde. Er warnte daher, dieses Projekt werde – im Falle der Genehmigung durch Präsident und Kongress – das schlechteste Immobiliengeschäft seit dem „Verlust des Gartens Eden durch Adam und Eva“ sein. Drei Jahre später hatte Norris die öffentliche Meinung und den Kongress von seinem Standpunkt überzeugt und die Anhänger Fords überstimmt.
Im Laufe der nächsten zehn Jahre mobilisierte er die Fortschrittsbefürworter, um bei der föderalen Regierung Unterstützung für seine mitreißende Vision der modernisierten Landwirtschaft zu finden. 1933 bewilligten Präsident Roosevelt und der Kongress die Gründung der Tennessee Valley Authority (TVA). Diese gab tausenden zuvor erwerbsloser Männer Beschäftigung, indem sie sie hydroelektrische Dämme bauen, Düngemittel produzieren und Bewässerungssysteme anlegen ließ. Die für die lokalen Verhältnisse sensibilisierten Regierungsbeamten fungierten als Gemeindeverwalter und übertrugen den einheimischen Bauern die Koordination und Leitung der Projekte zur Verbesserung landwirtschaftlicher Techniken und der Pflanzung von Bäumen.
„Greenpeace und WWF stellten Experten aus der oberen Mittelschicht der Entwicklungsländer ein, die ihren Landwirten erklärten, sie bräuchten keine neuen Kraftwerke, sondern sie müssten einfach nur effizienter sein.“
Die TVA produzierte billige Energie und erneuerte die natürliche Umwelt. Dank des mit den Dämmen gewonnenen Stroms mussten die armen Anwohner nicht mehr mit Holz heizen. Gleichzeitig erleichterte sie die billige Produktion von Düngemittel und förderte Wasserpumpen zur Bewässerung. Das ermöglichte den Bauern, mehr Nahrungsmittel auf weniger Land anzubauen. Diese Veränderungen erhöhten die Erträge und begünstigten das Nachwachsen der Wälder. Auch wenn aufgrund der Dämme tausende Menschen umgesiedelt werden mussten, konnten durch ihre Errichtung Millionen Menschen mit Strom versorgt werden.
Schon in den 50er Jahren war die TVA das Kronjuwel des New Deal und einer der größten Triumphe der zentralisierten Planung im Westen. Weltweit galt sie als Paradebeispiel dafür, wie Regierungen moderne Energie sowie infrastrukturelle und landwirtschaftliche Unterstützung nutzen konnten, um die Situation der Kleinbauern zu verbessern, die Wirtschaft anzukurbeln und die Umwelt zu schonen. Neueste Forschungen weisen darauf hin, dass die TVA die wirtschaftliche Entwicklung in der Region im Vergleich zu den umliegenden vergleichbaren Regionen wirksam beschleunigt und sich damit auch als Segen für die nationale Wirtschaft erwiesen hat.
Am wichtigsten ist aber wohl die Tatsache, dass die TVA das progressive Prinzip geschaffen hat, demzufolge billige Energie für alle ein kollektives Gut sein muss und nicht den privatwirtschaftlichen Unternehmen überlassen werden darf. Wann immer in der Mitte der 1950er Jahre Bestrebungen aufkamen, Teile der TVA zu privatisieren, wurden diese abgewiesen. Implizit hat die TVA moderne Energie als ein grundlegendes Menschenrecht etabliert, das nicht aus Rücksicht auf Privatbesitz und freie Märkte verweigert werden darf.
Die Ablehnung des Staates und der billigen Energie
Nur ein Jahrzehnt später, während des Vietnamkriegs, kritisierten linksgerichtete Intellektuelle Projekte des Typs TVA zunehmend als Teil der amerikanischen, neokolonialen Kriegsmaschinerie. Die Düngemittelfabriken der TVA hatten früher Munition produziert; die Kernkraftwerke stammten aus der Zeit der Bombenherstellung. Die TVA verwandelte plötzlich nicht mehr Schwerter in Pflugscharen, sondern in Schwerter mit neuem Gewand. In ihrem 1962 erschienenem Buch Der stumme Frühling beschrieb Rachel Carson die moderne Landwirtschaft als einen Krieg gegen die Natur. Die Weltbank, die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) und sogar die Friedenskorps mit ihren TVA-ähnlichen Bestrebungen wurden in den Schriften von Noam Chomsky zu Feigenblättern des imperialistischen Zugriffs auf die Ressourcen.
Während Marx und die Marxisten im durchaus kritikwürdigen Industriekapitalismus lange Zeit trotz allem eine Verbesserung gegenüber dem Agrarfeudalismus gesehen hatten, war die Haltung der Neuen Linken deutlich romantischer. Bevor „Fortschritt“ und „Entwicklung“ aufgekommen sind, hätten die Kleinbauern ihrer Ansicht nach in Harmonie mit ihrer Umwelt gelebt. In seinem 1973 erschienenen Buch Small is beautiful verharmloste der Volkswirtschaftler E.F. Schumacher die von den Bauern verursachte Bodenerosion als „unbedeutend im Vergleich zu den Verwüstungen, die in großem Maßstab durch Habgier, Neid und Machtgier angerichtet werden“. Anthropologen wie James Scott von der Yale University beschrieben Bewässerung, Straßenbau und Bemühungen um Elektrifizierung als böse Belastungen der Moderne auf Kosten unschuldiger Naturmenschen.
„Auf die Frage, warum arme Länder nicht das haben dürften, was wir haben, antworteten immer mehr grüne Vordenker, dass wir mehr wie die armen Nationen leben sollten.“
Weil die meisten Flüsse im Westen bereits gestaut waren, versuchten die amerikanischen und europäischen Umweltorganisationen, wie Friends of the Earth und das International Rivers Network, die Verbreitung der Hydroelektrizität in Indien, Brasilien und anderswo zu verhindern – mit einigem Erfolg. Dies war nicht lange vor der Zeit, da Umweltorganisationen anfingen, fast alle Formen von Stromnetzen in armen Ländern abzulehnen, unabhängig davon, ob der Strom durch Dämme, Kohle oder Kernenergie erzeugt wurde. „Es sei genauso unverantwortlich, der Gesellschaft billige, reichlich vorhandene Energie zur Verfügung zu stellen, wie einem idiotischen Kind ein Maschinengewehr zu geben“, schrieb Paul Ehrlich im Jahre 1975.
Es wurden tiefschürfende Begründungen dafür ersonnen, warum billiger Strom, Düngemittel und Straßen für arme Menschen in anderen Ländern nicht genauso positiv sein würde, wie für die guten Menschen aus dem Tennessee-Tal. Biomasse (also Waldrohdung), Solar und Effizienz „werden nicht mit unangemessenen kulturellen Mustern oder Werten in Bezug gebracht“. In einem 1977 gegebenen Interview fügte Amory Lovins hinzu: „Sinn und Zweck des sanften Denkens ist, alles zu tun, was man will, aber dabei möglichst wenig Energie – und andere Ressourcen – zu verbrauchen“.
Bereits zum Zeitpunkt der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio bestand das Modell der „nachhaltigen Entwicklung“ aus kleinen Genossenschaften von Kleinbauern oder Indianern im Amazonaswald, die Nüsse und Beeren sammelten, die sie an Ben und Jerry’s für deren „Regenwald“-Geschmack verkauften. Ein Jahr später schrieb Al Gore in Earth in Balance: „Stromnetzte selbst sind nicht mehr wünschenswert“. Schumacher zitierend behauptete er, diese seien sogar für die Dritte Welt „unangemessen“.
Im Laufe der nächsten 20 Jahre konstruierten Umweltorganisationen wirtschaftliche Analysen und Modelle, die beweisen sollten, teure und diskontinuierliche erneuerbare Energien wie Solaranlagen und Biomassekraftwerke seien tatsächlich billiger als Stromnetze. Greenpeace und WWF stellten Experten aus der oberen Mittelschicht in Rio de Janeiro und Johannisburg ein, die erklärten, ihre Landwirte bräuchten keine neuen Kraftwerke, sondern sie müssten einfach nur effizienter sein.
Auf die provokante Frage, warum arme Länder nicht das haben dürften, was wir haben, antworteten führende Vertreter des grünen Denkens, dass wir mehr wie die armen Nationen leben sollten. In The End of Nature vertritt Bill McKibben den Standpunkt, entwickelte Wirtschaften sollten die „angemessene Technologie“ der armen Länder übernehmen und zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft zurückkehren. Der Klimawandels hat laut Naomi Klein den Vorteil, dass er in der reichen Welt einen „Typ von Landwirtschaft“ erfordern wird, „der weitaus arbeitsintensiver als industrielle Agrarwirtschaft ist“.
Und so kam die Linke dazu, billige Energie nicht mehr als grundlegendes Menschenrecht zu betrachten, sondern als eine Bedrohung für den Planeten und Nachteil für die Armen anzusehen. Im Namen der „angemessenen Technologie“ missbilligte die umgestaltete Linke billige Düngemittel und Energie. Im Namen der Demokratie bietet sie nun den Armen auf der Welt nicht, was sie wollen – billigen Strom –, dafür aber mehr von dem, was sie nicht wollen, nämlich diskontinuierliche und teure Energie.
Von der Anti-Verstaatlichung zum Neoliberalismus
Der in der Linken wachsende Argwohn sowohl gegenüber zentralisierter Energie als auch gegenüber einer zentralisierten Regierung stand im Mittelpunkt dieser Kehrtwende. Schon lange haben libertäre Konservative ausgeklügelte, kontrafaktische Modelle entwickelt, denen zufolge die TVA und andere öffentliche Bemühungen zur Elektrifizierung den Ausbau des Stromzugangs angeblich verlangsamt hätten. Bereits in den frühen 1980er Jahren stellten Progressive die gleiche Behauptung auf. 1984 publizierte William Chandler vom WorldWatch-Institut das Buch The Myth of the TVA, in dem er versicherte, 50 Jahre öffentliche Investitionen in die Entwicklung hätten nicht den geringsten Nutzen gebracht. Tatsächlich besagt eine neue Analyse von Patrick Klein und Enrico Moretti, Volkswirtschaftler an den Universitäten Stanford und Berkeley, dass „die TVA die nationale Produktionsleistung ungefähr um 0,3 Prozent gesteigert hat und dass der Wert dieses Produktionsgewinns in Dollar die Kosten des Programms übersteigt.
„Die Lösung für die Probleme der Modernisierung liegt in mehr und keineswegs in weniger Fortschritt.“
Trotzdem meinen die Progressiven sich heute profilieren zu müssen, indem sie verstaatlichte Lösungen ablehnen. Umweltschützer wollen die aus Kohle gewonnene Energie teurer machen, damit die „Kräfte des Marktes genutzt werden können“, um die Emission von Treibhausgasen zu verringern. Weltweit lehnen Entwicklungsagenturen zunehmend vom Staat finanzierte Unternehmungen ab, Dämme und große Kraftwerke zu bauen, und begünstigen bei der Finanzierung von Projekten private Firmen, die versprechen, den Armen auf der Welt Solaranlagen und leistungsschwache „Micronetze“ zu bringen – Lösungen, die bestenfalls ein paar Glühlampen zum Leuchten bringen oder Handys mit Energie versorgen können. Dennoch öffnen sie den Armen nicht die Tür zu demjenigen Hochenergie-Lebensstil, der für westliche Umweltschützer selbstverständlich ist.
Während frühere Generationen progressiver Politiker noch die Auffassung vertraten, dass nur die Regierung billige Energie und Düngemittel für arme Bauern garantieren kann, suchen die heutigen umweltpolitischen Anführer politische Lösungen, die den Investmentbanken und privaten Versorgungsunternehmen eine übergroße Rolle zuschreiben. Wenn der große Rückschritt der Sprung vom verstaatlichten Progressivismus zum anarchischen Primitivismus war, so macht die Linke gleichzeitig auch einen kleinen Schritt zur Seite – in Richtung des grünen Neoliberalismus.
Progressivismus 2.0 in den Entwicklungsländern
Anders als die heutigen Progressiven in den Industrieländern, die – selbst gemütlich eingenistet in der Modernität – die alte progressive Vision des billigen, reichlich vorhandenen Netzstroms für jeden zurückweisen, haben die Modernisierer aus den Lagern der Progressiven in den Entwicklungsländern diese Illusionen nicht. Ob Sozialisten, Staatskapitalisten oder, meistens, eine Kombination aus beiden, die Anführer der Entwicklungsländer, wie Brasiliens Lula da Silva, verstehen, dass billiger Netzstrom gut für die Menschen und die Umwelt ist. Dass moderne Energie und Düngemittel Agrarland vergrößern und das Nachwachsen der Wälder ermöglichen. Dass Energiearmut den Armen mehr schadet als die globale Erwärmung. Sie begreifen billige Energie als öffentliches Gut und Menschenrecht und sind auf einem guten Weg, jeden ihrer Bürger mit Strom zu versorgen.
Die TVA und alle anderen Modernisierungsbemühungen führen zu zahlreichen Nebeneffekten. Die Errichtung von Dämmen erfordert, dass Menschen von ihrem Land vertrieben und Ökosysteme unter Wasser gesetzt werden. Das Verbrennen von Kohle rettet Bäume, führt aber zu Luftverschmutzung und Klimaerwärmung. Das Fracking verhindert zwar das Verbrennen von Kohle, kann aber das Wasser verunreinigen. Kernenergie führt zu keinen Emissionen aber zu giftigem Abfall und drohenden Störfällen. Trotz allem liegt die Lösung für diese Probleme jedoch in mehr und keineswegs in weniger Fortschritt.
Aus diesem Blickwinkel heraus ist der Klimawandel ein Grund, die Weiterentwicklung unserer Energieversorgung voranzutreiben anstatt sie zu verlangsamen. Die 1,3 Milliarden Menschen ohne Strom dürften dafür durchaus Verständnis haben. Es wird nicht nur ihren Lebensstandard dramatisch verbessern und sie belastbarer für Klimaauswirkungen machen, sondern auch die Abholzung reduzieren. Der Rest von uns sollte so schnell wie möglich zu sauberen Energiequellen übergehen – von Kohle zu Naturgas, von Naturgas zu Kern- und erneuerbaren Energien und von Benzinfahrzeugen zu elektrischen Autos. Das ist kein Programm nach dem Motto „Weniger Energie verbrauchen“ sondern eines, das den hohen Energieverbrauch befürwortet. Jede Bemühung, die es würdig ist, progressiv, liberal oder umweltschützend genannt zu werden, muss dem Ziel des Hochenergie-Planeten gerecht werden.