01.11.2007

Bildung ist mehr als Berufstraining

Analyse von Sabine Beppler-Spahl

Über die orientierungslose, aber stets hinterherhinkende deutsche Bildungspolitik.

„A theory with mathematical beauty is more likely to be correct than an ugly one that fits some experimental data.“ (P.A.M. Dirac, 1902–84, Physiker und Nobelpreisträger)

Wieder wird, wie jedes Jahr, der Untergang des deutschen Bildungssystems beschworen. Das geschieht immer, wenn die OECD ihren Bildungsbericht „Bildung auf einen Blick – Education at a Glance“ im Herbst veröffentlicht. „Deutsche verlieren den Anschluss“ ist der schlagzeilentaugliche Satz, der die Ergebnisse der jüngsten Untersuchung zusammenfasst.[1] In Sachen Bildung hat die Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung fast prophetischen Status erlangt. Wenn das Bundesministerium für Bildung und Forschung schreibt: „Die OECD-Studie hat sich in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Bezugspunkt für die bildungspolitische Diskussion in Deutschland entwickelt“, so ist dies eine Untertreibung – nichts beeinflusst die Debatte mehr.[2]
Doch bei allem Schielen auf Ranglisten und Kennzahlen wird die Frage, welche Vorstellung von Bildung die OECD eigentlich hat, gerne unterschlagen. Die markigen Sprüche von der Notwendigkeit des lebensbegleitenden Lernens und der Bildung als Schlüssel für unsere Wettbewerbsfähigkeit sind hinlänglich bekannt. Mit konkreter Vorstellung, was Bildung eigentlich sein sollte, haben sie jedoch nur wenig zu tun. Die Organisation, die vollmundig den Mangel an Visionen im Bildungssystem beklagt, sticht selber vor allem durch ihre Fixierung auf rein strukturellen Fragen hervor: Jeder weiß z.B, dass Andreas Schleicher, Leiter der OECD-Abteilung für Indikatoren und Analysen, nichts vom Sitzenbleiben, Frontalunterricht oder dem dreigliedrigen Schulsystem hält. Doch welches Bildungsverständnis sich hinter dieser Kritik verbirgt, kann man nur erahnen. Nur so viel: Mit den Idealen einer anständigen, liberalen Bildung hat sie nichts zu tun.

„Dass der von der OECD alljährlich veröffentlichte Bericht zum wichtigsten Impulsgeber für Reformen geworden ist, zeigt, wie sehr sich das Thema Bildung von der Politik und damit von der demokratischen Gesellschaft losgelöst hat.“

Wer bestimmt über unsere Bildung?

Dass der von der OECD alljährlich veröffentlichte Bericht zum wichtigsten Impulsgeber für Reformen geworden ist, zeigt – so paradox dies zunächst klingen mag – wie sehr sich das Thema Bildung von der Politik und damit von der demokratischen Gesellschaft losgelöst hat. Jahrzehntelang war Bildung eines der zentralen politischen Themen in Deutschland. Bildungsreformen gingen einher mit hitzigen Debatten, die jedoch, ganz anders als heute, Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft waren.
Ob im Jahr 1821, 1919 oder 1960 – stets ging es in Zeiten großer Bildungsreformen auch um Fragen, die etwas mit gesellschaftlichen Zielen und Visionen zu tun hatten. Um ein Beispiel zu nennen: Als der Deutsche Bildungsrat in den 60er-Jahren die Einrichtung von Gesamtschulen forderte, geschah dies in Hinblick auf bevorstehende gesellschaftspolitische Entscheidungen. Unabhängig davon, was aus den Vorstellungen der SPD der 70er-Jahre geworden ist, die die Gesamtschule zum Kernstück ihrer Bildungspolitik machte: Sie waren ein Ausdruck dafür, dass sich eine neue Bildungsphilosophie in der Gesellschaft durchgesetzt hatte, die unter dem Motto „Bessere Bildung für alle“ um Unterstützung warb. Natürlich ging es bei der Diskussion um die Gesamtschule auch um handfeste machtpolitische Interessen. Doch es war eine Auseinandersetzung, die auf demokratischer Basis ausgetragen und von großen Teilen der Bevölkerung mitverfolgt wurde. Ganz anders die heutige Diskussion, bei der die Impulse von den Punktrichtern der OECD ausgehen. Vor allem jedoch stand hinter der damaligen Debatte ein klares Ziel: Schule sollte mehr sein als nur eine Ausbildungs- oder Qualifizierungsstätte, mehr als nur ausgerichtet an den jeweiligen wirtschaftlichen Bedürfnissen. Versprochen wurde, dass die transformierende Kraft der Bildung allen zugute kommen sollte. Die Aneignung der besten Ideen und des vorhandenen kollektiven Wissens sollte nicht nur einer Elite vorbehalten sein. So wurde Bildung damals gesehen.
Und heute? Natürlich muss man sich davor hüten, in Nostalgie zu verfallen. Jedem den Zugang zu einer vordergründig zweckfreien Bildung zu ermöglichen, bei der die Vermittlung von Wissen im Mittelpunkt stand, war ein Ziel, das nie ganz erreicht wurde. Doch wenigstens war es ein Ideal, das von großen Teilen der Bevölkerung – zumindest von denen, die die Politik bestimmten – unterstützt wurde. Mithilfe neuer, externer „Reformer“ scheint man sich von diesem Ziel immer weiter zu entfernen.

Die Tyrannei der Zukunftsrelevanz

Heute werden die Idee von Wissen als einem Ziel an sich und die Ideale einer soliden, liberalen Bildung als altmodisch und überholt dargestellt. Die modernen „Reformer“, die den Zeitgeist vorgeben, legen andere Schwerpunkte. „Chefreformer“ Andreas Schleicher wird nicht müde zu betonen, dass man den Erfolg „zukünftiger Bildungsanstrengungen nicht an der Reproduktion von Fachwissen“ beurteilen werde.[3]„Unser Bildungssystem“, so Schleicher, „muss die Menschen in erster Linie mit der Fähigkeit und Motivation zu lebensbegleitendem Lernen ausstatten.“ Er begründet dies mit zukünftigen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen. Den größten Anteil der Beschäftigten würden Wissensarbeiter bilden, deren Kapital, ihr Wissen, schnell veralte.[4] Hier spricht ein Vertreter einer neuen Art von Bildungsbürokratie, der unter Wissen offensichtlich nur die einfache Weitergabe von Informationen, Fakten oder Daten versteht.
Dieses tief liegende Missverständnis über das, was unter „Wissen“ zu verstehen ist, ist Ausdruck des zunehmend verengten Bildungsethos, der unsere vermeintliche Wissensgesellschaft charakterisiert. Natürlich wird in 20 Jahren vieles anders aussehen. Natürlich vergeht Zeit, bis neue Erkenntnisse aus der Forschung Eingang in Schulbücher finden. Doch ein auf Wissensvermittlung basierender Unterricht ist mehr als nur die Weitergabe von Fakten. Bildung dient dazu, den geistigen Horizont von Schülern zu erweitern – ihnen zu ermöglichen, ihr Denken zu entwickeln. Dies ist die einzige Basis für die Motivation zum lebensbegleitenden Lernen.
Auch die sogenannten „Schlüsselqualifikationen“ wie Kommunikationsfähigkeit, Abstraktionsvermögen oder Problemlösungskompetenzen sind keine gegenstandslosen Tugenden, die man wie gute Tischmanieren erlernen kann, sondern eng verbunden mit dem ernsthaften Studium der klassischen Schulfächer (Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften, Fremdsprachen). Wer Wissen mit Informationen verwechselt, verwechselt auch Bildung mit Berufstraining. Beim Berufstraining geht es darum, Schülern die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie am Arbeitsplatz benötigen. Diese Fähigkeiten werden häufig in der Praxis erst richtig erlernt und weiterentwickelt.
Während wir das, was wir durch unsere Bildung gelernt haben, im Allgemeinen ein Leben lang behalten, verlernen wir die speziellen Fähigkeiten, die wir im Berufsleben benötigen, normalerweise, sobald wir sie nicht mehr brauchen. Einsteins geflügeltes Wort, Bildung sei „das, was übrig bleibt, wenn man alles andere, was man in der Schule mal gelernt hat, vergessen hat“, sollte eben dies ausdrücken. Keiner vermag genau zu sagen, wie die Welt in 20, 40 oder noch mehr Jahren aussehen wird – aber um unseren Kindern eine solide Bildung zukommen zu lassen, ist dies auch nicht nötig.

Der „blinde Fleck“ im Unterricht

Wenn „Wissen“ seines intellektuellen Gehalts beraubt wird, hat dies ernsthafte Konsequenzen für den Schulunterricht und für die Art und Weise, wie wir über Lehrer denken. Die Meinung, die fachliche Kompetenz eines Lehrers sei nicht mehr so wichtig, ist unterdessen weit verbreitet. Vor allem durch die Verfügbarkeit von „Wissen“ im Internet habe sich die Rolle des Lehrers verändert, hört man immer wieder. Bei einem „Internet Summit“ in Wien im September 2007 hieß es: „ (…) der lineare Wissenstransfer vom Lehrer zum Schüler funktioniert nicht mehr.“ Der Lehrer würde vom „Allwissenden“ zum „Begleiter“.[5] Der neue Glaubensgrundsatz lautet: Schüler können genauso viel wissen wie ihre Lehrer.
Auch hier offenbart sich ein grundlegendes Missverständnis. Maschinen können Fakten, Meinungen, Statistiken und sogar ganze Unterrichtsstunden per Knopfdruck ausspucken. Lehrer (zumindest gute) haben sich dagegen lange mit ihren Fächern beschäftigt, über ein Gedicht nachgedacht oder darüber, wie man den Schülern eine spezielle Periode der Geschichte nahebringen kann. Und sie müssen das auch weiterhin aktiv tun. Sie haben ein Chemieexperiment aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – und immer wieder in Gruppen mit unterschiedlichen Schülern bessere Wege zum Erläutern schwieriger Zusammenhänge erprobt.
Die Diskussion über die neuen Medien zeigt, dass sich ein sehr eingeschränktes Verständnis vom Unterrichten durchgesetzt hat. Dieses technische Verständnis vom Unterrichten offenbart sich auch bei manch einem, der fordert, die Qualität des Unterrichts müsse stärker überprüft werden. Dabei geht es nicht um die Forderung an sich, sondern um die Art und Weise, wie dies geschehen soll. Wer ein rein technisches Verständnis vom Unterrichten hat, glaubt natürlich, die Qualität des Unterrichts durch einige wenige, standardisierte Kontrollen (z.B. wie viel Frontalunterricht stattfindet) ermitteln zu können. Eine mir bekannte Lehrerin erzählte mir von einer Kommission, die in die Schule kam und allein anhand der Anordnung der Tische (stehen diese etwa zur Tafel gerichtet in ordentlichen Reihen?) die Fähigkeiten eines Pädagogen beurteilen wollte. Wenn dann noch von Lehrern als „dem blinden Fleck im Unterricht“ gesprochen wird und von der Möglichkeit, Videokameras zur Kontrolle in den Klassenräumen zu installieren, offenbart sich spätestens hier nicht nur ein tiefes Misstrauen gegen Lehrer, sondern auch eine bürokratisch-technische Grundeinstellung.[6]

Wettbewerb um den Standort Deutschland

OECD-Vertreter sehen sich in der vordersten Front derer, die für eine Aufwertung der Bildung eintreten. Tatsächlich tragen sie zu einem sinnentleerten Bildungsverständnis bei. Auch bei einem anderen sehr beunruhigenden Trend haben sie eine traurige Vorreiterrolle eingenommen: bei der Förderung jener höchst instrumentalisierten Sichtweise von Bildung als Mittel zur Rettung des Standorts Deutschland. „Der Wettbewerb um die Zukunftschancen für Deutschland ist im Kern ein internationaler Wettbewerb um die Qualität von Bildungssystemen geworden“, schreibt das BMBF auf seiner Homepage und verweist auf die internationalen Schulleistungsstudien[7] Ein höherer Bildungsstand wird selten als erstrebenswertes Ziel an sich, sondern stets in Zusammenhang mit besseren Berufschancen und geringerer Arbeitslosigkeit gesehen.[8] Diese Sichtweise ist unterdessen so verbreitet, dass kaum einer Anstoß daran nimmt, wenn über Bildung nur noch in der Sprache der Wirtschaftsberater gesprochen wird. Wen können wir zur Hilfe rufen? Ich versuche es mit dem englischen Philosophen Michael Oakeshott. Er beschrieb seinerzeit die wahre liberale Bildung so: Sie befreit den Schüler von der Tyrannei des Hier und Jetzt. Sie tut dies, indem sie solche Schulfächer unterrichtet, die das menschliche Denken in entscheidendem Maße beeinflusst und weitergebracht haben, und nicht die, die gerade modern, relevant oder wirtschaftlich notwendig zu sein scheinen.[9]Ich schlage vor, wir verzichten im nächsten Jahr auf den Bericht der OECD und fangen stattdessen an, uns wieder über den Sinn und Zweck von Bildung Gedanken zu machen.

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