01.09.2000

Beim Arbeitsamt auf der Couch

Analyse von Stefan Chatrath

Jugendlichen Erwerbslosen wird statt Arbeitsplätzen therapeutische Betreuung geboten, die ihnen nicht weiterhilft.

“Das Sofortprogramm der Bundesregierung”, so der sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Adi Ostertag, “ist eine Erfolgsgeschichte, die uns so keiner zugetraut hätte.”[1] Und Bundesarbeitsminister Walter Riester verkündete stolz zur neuen Runde des Bündnisses für Arbeit, dass die Bilanz des Sofortprogramms (SPR) zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit positiv ausfalle. 179.000 Jugendliche seien durch die Maßnahme gefördert worden, dies hätte spürbar zum Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit beigetragen.[2] Die Statistik scheint den Vertretern der Bundesregierung auf den ersten Blick Recht zu geben: Die Arbeitslosenquote unter 25-Jähriger ist in diesem Jahr stetig unter Vorjahresniveau geblieben. Betrug sie beispielsweise im Mai 1999 noch 8,9%, so war sie im gleichen Monat dieses Jahres auf 8,3% gefallen.Dennoch sind die Ursachen für diesen erfreulichen Trend alles andere als klar. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der konjunkturelle Aufschwung der letzten Monate eine tragende Rolle spielte. Zudem führt eine genauere Analyse der Daten der Begleitforschung zum SPR zu einer anderen Schlussfolgerung als der obigen: Das SPR konnte seiner ursprünglichen Intention, Jugendliche in Arbeit und Ausbildung zu bringen, nicht gerecht werden. Die im folgenden präsentierten Informationen deuten auf die eher sozialpolitische Motivation des Projekts hin.
 

Das Sofortprogramm im Überblick:
Das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit besteht aus einer Vielzahl (bereits erprobter) Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Programm-Innovation liegt in der Bündelung der Maßnahmen. Hier eine kurze Auflistung der einzelnen Projekte:

Kurzfristige Trainingsprogramme
Trainingsprogramm für noch nicht vermittelte Bewerber Bei erfolglosen Bewerbern für einen Ausbildungsplatz sollen Mängel, die einer Ausbildung entgegenstehen, beseitigt werden. Dieser Ansatz wurde jedoch Anfang dieses Jahres eingestellt, da Berufsvorbereitungsmaßnahmen nach dem SGB III, die in der Regel früher ansetzen, besser geeignet scheinen. Trainingsmaßnahme zur Nach- und Zusatzqualifizierung:Hier sollen arbeitslose Jugendliche durch Nachqualifizierung beschäftigungsfähig gemacht werden.

Maßnahmen mit bis zu einem Jahr Dauer
AQJ – Arbeit und Qualifizierung für (noch) nicht ausbildungsgeeignete Jugendliche:
Dieses Instrument kombiniert berufsvorbereitende Betreuung bei einem Bildungsträger mit einem Praktikum in einem Betrieb. Nach- und Zusatzqualifizierung (FbW): Arbeitslosen Jugendlichen ohne Berufsabschluss, die nicht in eine Ausbildung vermittelt werden können, soll geholfen werden. Mit Hilfe der FbW sollen sie einen anerkannten Berufsabschluss oder einen auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Teil einer anerkannten Ausbildung erwerben.

Maßnahmen mit Zielrichtung Arbeitsaufnahme
Beschäftigungsbegleitende Hilfen: Die betriebliche Eingliederung Jugendlicher soll bis zu sechs Monate durch gezielte Hilfe zur Qualifizierung und Stabilisierung gefördert werden. Ein Betrieb, der einen vorher arbeitslosen Jugendlichen beschäftigt, kann mit Hilfe dieses Programms bis zu 24 Monate bezuschusst werden (bis zu 60% der Lohnkosten des Beschäftigten). Qualifizierungs-Arbeitsbeschaffungsmassnahmen (Quali-ABM): Durch diese ABM mit bis zu 50% Bildungsanteil sollen Jugendlichen arbeitsmarktverwertbare Qualifikationen vermittelt werden. Dieses Projekt richtet sich auf Arbeit im so genannten zweiten Arbeitsmarkt (zum Beispiel Vereine, Kommunen). Außerbetriebliche Ausbildung
Förderung außerbetrieblicher Ausbildung (ABA): Jugendliche, die ausbildungsfähig sind und einen Ausbildungsplatz suchen, sollen – wenn sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben – zunächst für ein Jahr in eine ABA vermittelt werden.

Weitere Instrumente
Nachholen des Hauptschulabschlusses, Soziale Betreuung zur Hinführung an Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen: Dieses Instrument zielt auf die Aktivierung, Stabilisierung und Motivation des “harten Kerns” der Problemjugendlichen hin.

Aktuelle Zahlen zum Sofortprogramm Juni 2000
Ende Juni 2000 nahmen 68.918 Jugendliche an den Maßnahmen des Sofortprogramms teil: 22.506 LKZ, 21.611 ABA, 9.216 Quali-ABM, 6.058 Nach- und Zusatzqualifizierung (FbW), 3.956 AQJ, 3.030 hinführende Maßnahmen, 1.548 Trainingsmaßnahmen, 855 Nachholen des Hauptschulabschlusses, Beschäftigungsbegleitende Maßnahmen

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

 

Bewertung des Programmverlaufs
Zum Anfang des Jahres hatten gut die Hälfte der Teilnehmer des SPR das Programm bereits beendet. Von diesen waren zum damaligen Zeitpunkt 30.300 Jugendliche arbeitslos und 28.000 unbekannt oder sonstig verblieben. Nur 10% hatten eine Arbeit gefunden, und lediglich weitere 12% konnten eine berufliche Ausbildung aufnehmen. Die unmittelbare Erfolgsquote des SPR lag damit bei 22%. Selbst diese Zahl überzeichnete den eigentlichen Effekt des SPR: Der Kreis der jungen Leute, die in die Sofort-Maßnahmen rückten, war sehr großzügig gefasst – zumindest bis zum Jahresende 1999. Dies hat mit großer Wahrscheinlichkeit zu kostenträchtigen Mitnahmeeffekten geführt, da davon auszugehen ist, dass verstärkt Jugendliche gefördert wurden, die auch ohne Unterstützung Ausbildung oder Arbeit gefunden hätten. Solches trifft beispielsweise auf die außerbetriebliche Ausbildung (ABA) zu: Sie wurde zu 53% an Personen mit mittlerem und höherem Schulabschluss vergeben.

“Jugendlichen lernen nicht nur einen Job, sie tanken hier Selbstwertgefühl”

Zudem ist bemerkenswert, dass gut 60% der ABA in Westdeutschland stattfindet.
Das SPR besteht aus einer Vielzahl bereits erprobter Ansätze, die seit längerem einer wissenschaftlichen Bewertung unterliegen. Deshalb ist es schon jetzt möglich, über die Langzeitwirkung des einen oder anderen Instruments des SPR relativ zuverlässige Aussagen zu treffen.
Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung 1995/96 sowie der Technischen Universität Dresden 1997 untermauern die besonderen Beschäftigungsprobleme außerbetrieblich Ausgebildeter, die sich in der Bilanz des SPR niederschlagen.

[3]3 Die Studien zeigen, dass gut 70% der außerbetrieblich ausgebildeten Fachkräfte unmittelbar nach Abschluss der Lehre arbeitslos waren. Im Vergleich dazu: Von denjenigen, die im Betrieb gelernt hatten, begannen 76% sofort zu arbeiten. Nach einem halben Jahr waren immer noch 34% ohne Arbeit (betrieblich Ausgebildete: 10%), und nur 51% hatten Arbeit gefunden (betrieblich Ausgebildete: 77%). Dies stellt der ABA kein gutes Zeugnis aus.

Zu ähnlich niederschmetternden Ergebnissen gelangte eine Studie, die erst kürzlich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialforschung (1 / 2000, S.60-80) veröffentlicht wurde. Der Aufsatz untersucht für den Zeitraum 1990-97 die Effektivität der öffentlich finanzierten Weiterbildung (Fortbildung, Umschulung, Ausbildung mit Zielrichtung Arbeitsaufnahme), die auch Teil des SPR ist: Kann diese die Chancen der Beschäftigung für Arbeitslose signifikant erhöhen? Die Schlussfolgerung der Autoren ist, abgesehen von der Problemgruppe der Langzeitarbeitslosen, negativ. Berufliche Weiterbildung führe sogar, da sie den Arbeitslosen von der Stellensuche abhalte, zu einer Verlängerung der Arbeitslosigkeit.


Sozialpolitsche Motivation
Die magere Erfolgsquote des SPR war demnach voraussehbar. Doch aus welchem Grund wurde das SPR dennoch initiiert? Die Antwort ist nicht einfach. Es scheint aber so, als ob die proklamierte Qualifizierungsintention hinter einer sozialpolitischen Motivation zurückstand. Die Teilnahme am SPR ist anscheinend nicht Mittel zum Zweck der Weiterbildung, sondern dient vielmehr der sozialen Integration bestimmter Jugendgruppen, die ansonsten schwer zu erreichen wären. Der Sozialarbeiter Frank Otto vom Internationalen Bund bestätigt dies: “Das Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg steckt Leute in Projekte [des SPR], die man früher in Ruhe gelassen hätte, weil sie nicht vermittelbar sind.”[4] Die Intention mag zunächst begrüßenswert erscheinen, aber letztlich wird die Beschäftigungsfähigkeit dieser Jugendlichen dadurch nicht gesteigert. Vielmehr sind solche Maßnahmen kritisch zu bewerten, da es offenkundig ausschließlich um reine Beschäftigungstherapie geht – eine Therapie mit allerdings zweifelhaftem therapeutischen Nutzen, schon deshalb, weil sie der Mehrheit der Jugendlichen nicht weiterhilft.

“Das Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg steckt Leute in Projekte, die man früher in Ruhe gelassen hätte, weil sie nicht vermittelbar sind.”

Der Einfluss eines sich in den letzten Jahren entfaltenden therapeutischen Ethos wird auch an anderer Stelle deutlich: Zunehmend klingt an, dass Projekte wie das SPR selbst bei Nichterfüllen der arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung als “erfolgreich” beurteilt werden dürfen, wenn beispielsweise positive Effekte auf psychosozialer Ebene ausgemacht werden. Im Rahmen einer umfassenden Evaluation der aktiven Arbeitsmarktpolitik müsse auch die subjektive Teilnehmerperspektive eine wichtige Rolle spielen. Auf der Fachtagung “Strategien zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa”, zu der der Berliner Senat, die Friedrich-Ebert- und die Freudenberg-Stiftung geladen hatten, wurde deutlich, dass viele der Experten in diese Richtung argumentieren. “Jugendliche müssen Selbstwertgefühl erlangen”, forderte Prof. Lothar Böhnisch von der Universität Dresden. Deshalb stehe die Gesellschaft in der Pflicht, Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen.[5] Michael Sasse, Leiter des am SPR beteiligten Berliner Bildungswerks in der Neuköllner Allee, sieht das ähnlich: “Die [am SPR teilnehmenden] Jugendlichen lernen nicht nur einen Job, sie tanken hier Selbstwertgefühl”, erklärte er.[6]
Die zunehmende Diskussion über das emotionale Wohlbefinden arbeitsloser Jugendlicher darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der eigentlich zu behebende Misstand auf einer ganz anderen Ebene liegt: Wie an anderer Stelle in diesem Novo ausgeführt, ist die gesamtwirtschaftliche Lage der Bundesrepublik alles andere als zufriedenstellend, was vor allem an der niedrigen Investitionsquote der Privatwirtschaft liegt. Es liegt auf der Hand, dass dies letztlich auch negative Konsequenzen für den Grad der Beschäftigung hat.
 

Therapeutische Elemente auch im Arbeitsamt
Therapeutische Elemente finden sich auch in der neuen Strategie der Arbeitsämter.[7]Unter dem Stichwort “Angebotskonzept” wollen beispielsweise die Berliner Arbeitsämter entgültig den Sprung von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen packen. [8]Dies soll primär mit Hilfe einer Neustrukturierung von Organisation und Kundenangebot erreicht werden. Eine herausragende Rolle hierbei spielt die Systematisierung der Beratung. Diese soll vor allem für Arbeitslose mit besonderem Beratungsbedarf intensiviert werden. Zudem sollen in Zukunft Anliegen der Arbeitssuchenden durch ein Team ganzheitlich erledigt werden. In diesem organisatorischen Rahmen wird es dann auch möglich sein, den Arbeitslosen ein wenig näher zu kommen: Im Angebot sind eine vertiefte Analyse ihrer Fähigkeiten und Stärken, aber auch möglicher Vermittlungshemmnisse, sowie eine gemeinsame Entwicklung von Strategien zur Wiedereingliederung.

Was das konkret bedeutet, kann am Beispiel der privaten Hamburger Arbeitslosen-Telefonhilfe nachvollzogen werden. Neben der Arbeitsvermittlung sollen deren Mitarbeiter – zumeist Sozialarbeiter und Psychologen – versuchen, das Sorgenpaket der sich bei ihnen meldenden Personen aufzuschlüsseln: Schulden, psychische Probleme, Stress mit der Familie u.s.w.

Glaubt man den Ankündigungen der Arbeitsämter, dann werden sie sich zumindest tendenziell in diese Richtung bewegen. Der ursprüngliche Zweck der Beratung Arbeitssuchender durch das Arbeitsamt bleibt selbstverständlich erhalten. Die Entscheidung des Arbeitslosen bezüglich seiner beruflichen Zukunft soll erleichtert und beschleunigt werden. Neu ist jedoch die angepeilte Qualität und Tiefe der Beratung, die eher an eine Sitzung mit einem Therapeuten erinnert. Der eine oder andere mag das zunächst begrüssen. Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass ein Grossteil der Berater im Arbeitsamt für diese Art von “Kundenorientierung” nicht ausgebildet ist. Außerdem dürfen keine falschen Hoffnungen geweckt werden: Eine 1997 durchgeführte Studie zum britischen “Welfare-to-work”-Programm zeigte, dass die Nettoerfolgsquote intensiver Beratungen Arbeitsloser bei zwei bis vier Prozent liegt (K. Gardiner: Bridges from Benefit to Work). Dies ist vermutlich in Deutschland auch nicht viel anders.

Das therapeutische Ethos, das die aktive Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre und die Umstrukturierung der Arbeitsämter erheblich beeinflusste, sollte mit Vorsicht genossen werden und bedarf weiterer Untersuchung. Skeptisch stimmt, dass es offenbar die wirklichen Probleme unserer Wirtschaft nur kaschiert. Die Nettoerfolgsquoten “therapeutischer” Maßnahmen zu ihrer Überwindung sind verschwindend gering.

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