08.05.2015

Als Raser gebrandmarkt

Kommentar von Günter Ropohl

Geschwindigkeitskontrollen wie der jüngst erfolgte „Blitz-Marathon“ stempeln Fahrer mit nur geringen Übertretungen als Raser ab. Das dient nicht der Verkehrssicherheit, kritisiert Günter Ropohl, sondern hauptsächlich den Einnahmen öffentlicher Kassen

Am 16. April dieses Jahres hat es eine europaweite Razzia gegen die Raser gegeben. In 22 Staaten des „christlichen Abendlandes“ fand rund um die Uhr ein „Blitz-Marathon“ statt, um die Unmenge von Geschwindigkeitssündern dingfest zu machen, die notorisch die Verkehrssicherheit bedrohen. So haben es die Behördenvertreter dargestellt, und so hallte es aus dem Wald der pflichtschuldigen Medien tausendfach wider. Doch was, fragt sich der kritische Bürger, ist da wirklich im Gang, in einer Mammutaktion, die wieder einmal an den totalen Überwachungsstaat gemahnt?

Bundesweit haben rund 13.000 Polizisten und Mitarbeiter der Kommunen an gut 7000 Messstellen im ganzen Land die Geschwindigkeit von 3,2 Millionen Autofahrern kontrolliert. Dabei hat die Polizei rund 91.000 „Raser“ erwischt. Das sind gerade mal 2,8 Prozent. [1] Und wenn man Details aus Baden-Württemberg ansieht, sind lediglich in 0,5 Prozent der Fälle nennenswerte Verstöße festgestellt worden. [2] Alle anderen waren gemeingefährliche „Raser“ wie du und ich, Zigtausende, die 56 statt 50 oder 88 statt 80 Stundenkilometer fuhren.

Mit dem „Raser“ ist der deutsche Sprachschatz um ein Reizwort bereichert worden, das in ein neues „Wörterbuch des Unmenschen“ passen würde. Denn Hand aufs Herz: Sind wir nicht alle schon einmal als „Raser“ ertappt worden? Gut, wir sind erwischt worden, wie wir in einer der um sich greifenden 30er-Zonen – breite Straße, wenig Bebauung, keine spielenden Kinder – einmal unbedacht sieben Stundenkilometer zu schnell gefahren sind. In der Rhetorik der Alarmisten aber sind wir dadurch zu potenziellen Mördern geworden, und am liebsten würden sie uns das Kainsmal an die Stirn heften.

„Hier schreit eine Besorgnisgesellschaft nach dem Überwachungsstaat“

Ich will nicht unsachlich werden. Tatsächlich gibt es ein paar Zeitgenossen, die ihren fahrbaren Untersatz als Rennmaschine missbrauchen. Wer bei einer vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern mit 180 durch die Autobahnbaustelle brettert, dem würde auch ich den Titel „Raser“ nicht verwehren, ebenso wenig wie dem, der einen unübersichtlichen Kindergartenausgang im Wohngebiet mit mehr als 70 passiert. Doch bezogen auf die Gesamtzahl der Autofahrer dürften solche wirklichen Raser noch nicht einmal im Promillebereich liegen. Ist dann wirklich irgendwann ein so fahrlässiges Subjekt gestellt worden, gibt es in der Presse sogleich eine Sondermeldung wie bei einem Vulkanausbruch im Pazifik.

Aber das ist die Logik einer Besorgnisgesellschaft, die mit ihren hysterischen Ängsten nach dem Überwachungsstaat schreit. [3] Weil man ein paar mögliche Terroristen entdecken will, muss man Millionen Bürgern auf die Finger ihrer Rechnertasten schauen: „Vorratsdatenspeicherung“. Weil es in 40 Millionen Haushalten jährlich ein paar hundert Zimmerbrände gibt, werden per Gesetz an die 100 Millionen Warngeräte verordnet: „Rauchmelderpflicht“. Weil sich eine Minderheit von Nichtrauchern beim gelegentlichen Gaststättenbesuch von Tabakgeruch belästigt fühlt, werden flächendeckende Rauchverbote befohlen: „Nichtraucherschutz“. Weil ein paar gewissenlose Geschäftemacher unmündigen Kindern unangenehme Nacktfotos abluchsen, wird nun jedes Betrachten solcher Bilder inkriminiert – auch wenn es das dreißig Jahre alte Strandbild meines damals achtjährigen Sohnes ist: „Lex Edathy“.

So geht es auch mit den „Rasern“: Weil ein paar tausend Möchtegern-Schumachers sich nicht beherrschen können, werden Hunderttausende friedlicher Automobilisten als „Raser“ inkriminiert, bloß weil sie es versäumt haben, ständig die Tachonadel zu fixieren (was nebenbei gesagt mindestens ebenso vom Verkehrsgeschehen ablenkt wie das Handy). Wie gesagt: Verlässliche Zahlen gibt es kaum, doch gelegentlich lässt eine Behörde schon einmal die Katze aus dem Sack. So hat das Regierungspräsidium Karlsruhe, zu dem die Zentrale Bußgeldstelle von Baden-Württemberg gehört, vor fünf Jahren die Zahlen der erfassten Verkehrsverstöße und Bußgeldeinnahmen mitgeteilt, [4] die ich in der folgenden Tabelle ausgewertet habe:

Jahr Verstöße Einnahmen (Mio. €) Bußgeld pro Verstoß
2008 295.000 12,5 48
2009 517.000 18,8 36
Anstieg 75 % 50 % -25 %

Tabelle 1. Bußgeldfälle auf Fernstraßen in Baden-Württemberg und Einnahmen.


Die größte Anzahl der Verstöße entfällt, wie es heißt, auf Geschwindigkeitsdelikte, und der drastische Anstieg der erfassten Fälle wird ganz offen damit begründet, dass man seit 2009 auch geringfügige Geschwindigkeitsübertretungen von mehr als sechs (!) Stundenkilometern ahndet. Daraus erklärt sich wohl, dass die Bußgeldeinnahmen pro Fall wegen der Vielzahl von Bagatelldelikten trotz des dramatischen Anstiegs der „Verstöße“ um ein Viertel gesunken sind. Dass diese rund 200.000 zusätzlich bestraften „Raser“ die Verkehrssicherheit ernsthaft gefährdet hätten, ist unglaubwürdiger als jede Geschichte aus tausend und einer Nacht.

Gleichwohl hieß es in jener Pressemitteilung, „zu schnelles Fahren rangiere unangefochten auf Platz eins der häufigsten Ursachen für Verkehrsunfälle“, und das ist auch in diesen Tagen wieder behauptet worden. Mit Hilfe des ADAC habe ich seinerzeit nach einer seriösen Statistik gesucht, die jene Meinung belegen würde; Ergebnis: Fehlanzeige! Eine zuverlässige Unfallursachen-Statistik scheint es nicht zu geben. Hat sich ein Unfall ereignet, schreibt die Polizei regelmäßig „überhöhte Geschwindigkeit“ ins Protokoll, und damit hat die Polizei wohl Recht. Wenn es gerasselt hat, ist selbstverständlich jemand zu schnell gefahren – und sei es, dass jemand im Parkhaus aus seinem Stellplatz mit 7 statt 3 Stundenkilometern ausgefahren ist oder der andere mit 30 statt mit 10 Stundenkilometern vorbeifahren wollte. Es gibt eben Situationen, da ist jede Geschwindigkeit von mehr als Null „überhöht“.

„Denkfehler: Alle ‚Raser‘ sind potentielle Unfalltäter“

Darin liegt der erschreckende Denkfehler vieler Verkehrs-„Experten“: den relativen Begriff der „überhöhten Geschwindigkeit“ in den absoluten Begriff des „Rasens“ umzumünzen. Dazu kommt der zweite Denkfehler – Aristoteles lässt grüßen: Wenn alle Unfälle von „Rasern“ verursacht werden, dann sind alle „Raser“ potenzielle Unfalltäter. Die „Experten“ verwechseln die „überhöhte Geschwindigkeit“ mit der Überschreitung einer vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit und halten allein schon das für unfallträchtig. Tatsächlich ereignen sich die allerwenigsten Unfälle dadurch, dass jemand ein verordnetes Tempolimit missachtet. Das jedenfalls ist die Erfahrung eines ehemaligen Polizeidirektors, der sich in jener Diskussion erfreulicherweise zu Wort gemeldet hat. [5] So ist die ganze Raserdebatte eine unwürdige Mixtur aus Wissenslücken, Fehlinterpretationen und Denkfehlern. Ich kann natürlich nicht behaupten, dass die Menschen schon einmal klüger gewesen wären. Doch es ist schon erschreckend, dass sie immer noch so dumm sind.

Denn die meisten lassen sich einreden, Geschwindigkeitskontrollen erhöhten die Verkehrssicherheit. Es würde, so die Überwachungsspezialisten, vornehmlich an Unfallschwerpunkten überprüft. Jeder aufmerksame „Raser“ weiß, dass diese Behauptung eine faustdicke Lüge ist. Die meisten Messstellen befinden sich nicht dort, wo es häufig Unfälle gibt, sondern an Stellen, wo man am bequemsten jene Autofahrer erwischen kann, die gerade mal ein paar Stundenkilometer zu schnell fahren. So werden die Ziele der Überwachung pervertiert: es geht nicht um Sicherheit, es geht um „Sondersteuern“.

Dieser Verdacht wird durch weitere Beobachtungen erhärtet. Zum einen sind das die Jagdtaktiken, für die sich die Überwacher offenbar nicht zu schade sind. Man stellt Messgeräte am Ortsanfang oder -ende auf, wo die Verkehrsteilnehmer wegen fehlender Bebauung überhaupt nicht auf die Idee kommen, es gäbe da eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Oder man platziert sie so, dass sie kaum wahrgenommen werden können. Oder die Überwacher legen sich, besonders mit mobilen Messgeräten, regelrecht in einen Hinterhalt, in privat aussehende Lieferwagen oder hinter Büsche und Mauern. Kein Wunder, dass Autofahrer so etwas als unfaire Fallenstellerei empfinden.

Zweitens haben in den letzten beiden Jahrzehnten die Sonderregelungen in geschlossenen Ortschaften gewaltig zugenommen. In den meisten Wohngebieten darf man nur noch 30 Stundenkilometer fahren, und auch die so genannten „verkehrsberuhigten Zonen“ haben sich verbreitet, in denen eine „Schrittgeschwindigkeit“ vorgeschrieben wird, die weder einheitlich definiert ist noch von den Tachometern eindeutig gemessen werden kann. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass auf diese Weise Übertretungsdelikte künstlich erzeugt werden.

„Übertretungsdelikte werden künstlich gezeugt“

Zum Dritten betrachtet die Staatsgewalt alle Versuche, vor Geschwindigkeitskontrollen zu warnen, ebenfalls als gesetzeswidrig. Sei es der Anlieger, der mit einem Schild auf seinem Grundstück die Vorbeifahrenden auf die zu erwartende Messstelle hinweist, seien es Fahrzeuge des Gegenverkehrs, die warnende Blinkzeichen geben, seien es gewisse Radiosender, die Informationen über Kontrollpunkte verbreiten, oder seien es besondere Apparate im Auto, die rechtzeitig die Strahlung der Messgeräte erfassen und dem Fahrer signalisieren – all diese verständlichen Versuche der Gegenwehr werden von staatlichen Stellen als illegal eingestuft und nach Möglichkeit bestraft. Jene kleinen Listen würden genau das bewirken, was die Sicherheitsbesorgten angeblich allein im Auge haben: Die Autofahrer würden an unfallgefährdeten Stellen – wenn denn wirklich nur dort die Kontrollen eingerichtet wären – ganz selbstverständlich die Geschwindigkeit reduzieren. Aber natürlich hätten die Aufpasser das Nachsehen, weil ihnen die Einnahmen aus Strafmandaten entgehen würden. Darum bekämpfen die „Jäger“ jeden, der ihnen das „Wild“ vergrault. Es ist das Inkasso, das die Verkehrsüberwachung zum großen Halali verleitet.

Übrigens gibt es in der Strafverfolgung das bewährte Opportunitätsprinzip. Das besagt, dass Bagatelldelikte nicht zwingend geahndet werden müssen. Das Verkehrsrecht scheint davon noch nichts gehört zu haben. Sonst würden nicht die lächerlichsten Übertretungen unnachsichtig bestraft. Auch dies spricht dafür, dass es der Verkehrsüberwachung nicht um wohlverstandene Sicherheit geht, sondern vor allem darum, zusätzliches Geld einzutreiben. Die Behörden weisen diesen Verdacht lautstark zurück, doch hin und wieder verplappern sie sich.

So hat das Ordnungsamt der Stadt Karlsruhe über den „Erfolg“ neuer Messsäulen an einer Umgehungsstraße berichtet. [6] Dort hat man Stelen aus mattgebürstetem Edelstahl errichtet, eine Augenweide für jeden Liebhaber der guten Form (wenn sie nicht im Blickschatten von Brückenpfeilern nahezu unsichtbar wären!). Dass es dort zuvor einen Unfallschwerpunkt gegeben hätte, kann das Amt nicht nachweisen. Warum also investiert die Stadt 180.000 Euro in ein einzelnes Messgerät? Ganz einfach: Das Gerät erfasste binnen eines Jahres 85.000 „Raser“, die meisten natürlich bloß mit minimalen Überschreitungen, für die dann jeweils 15 Euro Verwarnungsgeld fällig wurden. Die formschöne Säule hat also mindestens 1,3 Millionen im Jahr eingespielt. Das ist das Siebenfache der Anschaffungskosten; anders gerechnet, hat sich die Investition in zwei Monaten amortisiert. Betriebswirte können von einem solchen „return on investment“ nur träumen.

Es geht eben nicht um die Sicherheit, es geht ums Geld! Diese These habe ich nur mit Zufallsbeispielen belegen können. Darum muss die Verkehrswissenschaft endlich einmal systematische Untersuchungen dazu anzustellen. Wenn sich dann meine Vermutung bestätigt, wäre es an der Zeit, die Verkehrsüberwachung wieder auf ihr legitimes Ziel zurückzuführen: Sie soll allein die Sicherheit im Verkehr erhöhen und nicht die Autofahrer mit ungerechtfertigten „Sondersteuern“ schröpfen. Wir „Raser“ tun nichts Schlechtes. Der Staat soll uns in Ruhe lassen!

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