01.11.2006

Auf der Suche nach Bedeutung

Kurzkommentar von Frank Furedi

Die letzten fünf Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington haben vor allem eines gezeigt: Der Westen ist verwirrt, und er hat seine Werte verloren.

Einen Tag nach dem 11. September prophezeite die Los Angeles Times, das „nächste große Ding“ werde „keine technische Neuerung, kein Durchbruch in der Medizin“ sein, sondern „wahrscheinlich die Angst“[1]
Für andere war der 11. September der Auftakt einer Ära des Terrors. Fast alle waren sich einig, dass nach diesem Tag nichts mehr so sein werde wie zuvor. Auch in Großbritannien hat der Terror Spuren hinterlassen. Eine Umfrage der BBC zeigte kürzlich, dass viele Briten das Leben in ihrem Land heute weniger lebenswert finden als vor 20 Jahren – der Hauptgrund: Terrorismus.


Obgleich am 11. September 2001 etwas Bedeutendes geschah, ist alles andere als klar, wie sich Welt dadurch verändert hat. Kaum jemand im Westen kann ernsthaft von sich behaupten, dass seine Lebenswelt in den vergangenen fünf Jahren vom Terror geprägt gewesen sei. In den USA wurde zwar wiederholt Terroralarm gegeben, aber Anschläge gab es keine mehr. Auch ist Terror nicht unbedingt das, vor dem Menschen sich am meisten fürchten. Wie schon vor dem 11. September, so leben wir heute in einer Kultur, die vor vielen Dingen Angst hat. Die Furcht vor dem Terror geht einher mit der Angst vor Verbrechen, vor Krankheiten, verseuchten Lebensmitteln, Arbeitslosigkeit, der Klimakatastrophe und zahlreichen anderen Sorgen. Der Alltag der meisten Menschen hat sich dadurch nicht verändert.
 

„Die Unfähigkeit, Vorkommnisse von scheinbar historischem Ausmaß einordnen zu können, ist die bedeutendste Veränderung, die die Welt nach dem 11. September erfahren hat.“



Dennoch ist der Eindruck, der 11. September stelle eine historische Zäsur dar, von Bedeutung. Auffällig ist, dass kaum jemand die Geschehnisse plausibel erklären und einordnen kann. Die Unfähigkeit, Vorkommnisse von scheinbar historischem Ausmaß einordnen zu können, ist die bedeutendste Veränderung, die die Welt nach dem 11. September erfahren hat. Nicht die Zunahme von Gewalt weltweit ist es, was die Zeit nach dem 11. September ausmacht, sondern die Tatsache, dass der Westen kulturell und moralisch jede Orientierung verloren hat. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld brachte diese Geisteslage auf den Punkt, als er 2002 vor „unbekannten Unbekannten“ warnte, d.h. vor terroristischen Bedrohungen, von denen wir nicht die Spur einer Ahnung haben. Rumsfelds Spekulationen über Gefahren „von denen wir nicht wissen, dass wir nichts von ihnen wissen“, ist einer der wenigen Fälle, in denen ein westlicher Politiker eingestanden hat, dass wir nicht wissen, wovor wir uns fürchten.


Die Vorstellung, uns drohten unbekannte Gefahren, grassiert nicht nur in Washington. Im Bericht des britischen Geheimdienstausschusses über die Londoner Anschläge vom 7. Juli 2005 trägt ein Abschnitt die Überschrift „Das ‚Unbekannte’ neu bewerten“. Darin wird ein führender britischer Geheimdienstler mit den Worten zitiert: „(Wie wir) schon vor Juli gesagt haben, gibt es vermutlich Gruppen, über die wir rein gar nichts wissen. Und da wir nichts über sie wissen, wissen wir auch nicht, wie viele von ihnen es gibt.“[2] Wieder und wieder ist in dem Bericht zu lesen, wie wenig man wisse, welchen Gefahren Großbritannien ausgesetzt sei, und ganz offen wird zugegeben, die Geheimdienste seien nicht in der Lage, die Bedrohung, die von den Terroristen ausginge, einzuschätzen.


Häufig wird angenommen, die „unbekannten Unbekannten“ zeigten, wie inkompetent die Geheimdienste, wie mangelhaft unsere Informationen seien. Ein Bericht über die US-Geheimdienste kam zu folgendem Schluss: „Informationen, die man nicht hat, kann man nicht analysieren. Unsere Fallstudien belegen eindrucksvoll, wie wenig wir über einige der Dinge wissen, die unsere Geheimdienste mit höchster Priorität untersuchen.“[3] Das Problem der „unbekannten Unbekannten“ hat wenig mit der Unfähigkeit der Geheimdienste zu tun – vielmehr weist es auf eine grundlegende Unfähigkeit hin, die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, begreifen und erklären zu können. Die westlichen Gesellschaften wissen nicht weniger als vor dem 11. September, aber Wissen, gleich ob über Gegenwärtiges oder Vergangenes, ist nutzlos, wenn man es nicht interpretieren kann. Aus ebendiesem Grund glauben die Eliten im Westen nicht, Wissen könne helfen, die Gegenwart zu begreifen und unsere Probleme zu lösen.


Manche der Fragen, die nach dem 11. September gestellt wurden – „Warum hassen sie uns so?“, „Was wollen die?“, „Wie können sie nur so abgrundtief böse sein?“ –, verraten eine gewisse kulturelle Naivität. Sie zeigen aber auch, wie schwer wir uns damit tun zu begreifen, was die Gegenwart bedeutet. Mit dem alten politischen Vokabular, den überkommenen Denkschemata ergibt viel von dem, was heute geschieht, in der Tat wenig Sinn.


Die große Unbekannte
Die große Unbekannte ist: Wofür stehen unsere Gesellschaften heute? Oft schon ist angemerkt worden, dass es den westlichen Regierungen nur unzureichend gelingt, den Gegner im Krieg gegen den Terror zu benennen. Dabei wird häufig übersehen, dass Politiker gleichfalls kaum erklären können, wer wir sind und wofür wir stehen. Entsprechend ist es nicht gelungen, aus der unbekannten Bedrohung durch einen schattenhaften Feind ein starkes Gemeinschaftsgefühl oder eine Widerstandskraft zu formen. Trotz aller Versuche hat es Präsident Bush nicht geschafft, für seinen Krieg gegen den Terror breite Unterstützung zu mobilisieren. Seine Kritiker, die ihm immer wieder vorwerfen, er nutze Ängste manipulativ aus, erkennen zumeist nicht, dass hinter Bushs patriotischen Tiraden nur wenig steckt.


Nicht aus bloßer Kriegsmüdigkeit gibt es in den USA wenig Begeisterung für den Krieg gegen den Terror. Der Konflikt bedeutet der Öffentlichkeit einfach nicht viel. Folgerichtig gibt es keine Einigkeit darüber, was am 11. September geschah. Sehr viele Amerikaner glauben nicht, dass Terroristen hinter den Anschlägen steckten. In einer Umfrage vom August 2006 erklärten 36 Prozent von 1010 Befragten, die Regierung sei an den Anschlägen beteiligt gewesen oder habe sie zumindest nicht verhindert, mit dem Ziel, einen Krieg im Nahen Osten besser rechtfertigen zu können. Insgesamt bezweifelte eine sehr hohe Zahl der Befragten die offizielle Version der Ereignisse.[4]


Dass über ein Drittel aller US-Bürger Verschwörungstheorien über den 11. September Glauben schenkt, zeigt, wie tief die Krise im Westen reicht. Verschwörungstheorien werden immer dann populär, wenn die Welt unverständlich scheint. Sie gehen einher mit einem Verlust an Kausalität, einem Mangel an Verständnis dafür, wer und was für etwas verantwortlich ist. Jede Form von Autorität verliert so an Bedeutung.


Auch die Ereignisse im Irak und in Afghanistan werden von dieser Verwirrung beeinflusst. Sollen Soldaten erfolgreich kämpfen, müssen sie wissen, wofür und wogegen. Ist das „unbekannt“, kann eine Militärstrategie allein das Desaster nicht abwenden. Um dem Problem entgegenzuwirken, erhalten US-Truppen im Irak „Werteunterricht“. Peter Chiarelli, stellvertretender Kommandeur im Irak, erklärte, Soldaten müssten sich die Zeit nehmen „darüber nachzudenken, welche Werte uns von unseren Feinden unterscheiden“.[5]


Geht man nach den Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte, so erscheint es wenig wahrscheinlich, dass ein Wertetraining den Truppen ein Gefühl davon vermitteln wird, wofür sie stehen und kämpfen. Entsprechende Kurse, die im Westen von vielen Institutionen gerne angeboten werden – Diversitytrainings, Bürgerschaftsunterricht, Gendertrainings und Sensibilisierungsmaßnahmen – sind ganz und gar symbolisch und rituell. Solche Maßnahmen belegen den Verlust des Gemeinschaftsgefühls und das Fehlen geteilter Werte. Sie lehren uns: In westlichen Gesellschaften werden Werte in Fortbildungen vermittelt, statt aus Lebenserfahrung abgeleitet.


Der Kampf um Ideen
Die wichtigste und vielleicht überraschendste Folge des 11. September ist die Geschwindigkeit, mit der die moralische Autorität des Westens geschmolzen ist. Seit dem 11. September ist der Westen befangen, in der Defensive, diskreditiert. Im Unterschied zum Kalten Krieg ist es ihm nicht gelungen, sich als moralischer Sieger darzustellen. Ganz im Gegenteil, die Verunsicherung nimmt zu, und auch innenpolitisch fehlt immer öfter die Legitimität, entschieden zu handeln, eindeutig Position zu beziehen.


In einem Bericht über Politik und Öffentlichkeit in Großbritannien heißt es: „Effektive politische Strategien gegen die neuen Bedrohungen müssen ganz anders aussehen als im Kalten Krieg, und die Öffentlichkeiten müssen wesentlich aktiver von ihnen überzeugt werden.“ Und weiter: „Die politischen Antworten auf die Gefahr eines Atomkriegs, einer russischen Invasion, stießen auf viel breitere, unhinterfragte Unterstützung als die politischen Antworten auf die Gefahr von Terroranschlägen. Letzteren gegenüber verhält sich die Öffentlichkeit sehr skeptisch, insbesondere, was Präventivkriege angeht und den Sturz von Regierungen, die den Terrorismus unterstützen.“[6] Die vergleichsweise geringe Unterstützung, die der Krieg gegen den Terror findet, zeigt, dass aus unterschiedlichen Gründen die kurzfristige Folge des 11. September ein Verlust von sozialem Kapital darstellte. Sollten Washington und London tatsächlich aktiv eine „Politik der Angst“ betreiben, dann funktioniert diese Strategie nicht.


Die Unfähigkeit westlicher Eliten, ihrer Außenpolitik Sinn zu verleihen, bedeutet auch, dass sie gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung den Kampf um Ideen aufgegeben haben. Am deutlichsten wird dies, wenn man sich vergegenwärtigt, wie befremdet westliche Regierungen den Moslems im eigenen Land gegenüberstehen. Untersuchungen kommen regelmäßig zu dem Ergebnis, dass weltliche und liberale Werte nur einen geringen Einfluss auf die Moslems in Europa haben. Trotz zahlloser Initiativen, einen „multikulturellen Dialog“ anzustoßen, zeigte eine Studie unlängst, dass in Europa die britischen Moslems am stärksten antiwestlich eingestellt sind.[7] Die Kritiker Tony Blairs behaupten, Schuld daran sei der britische Einsatz im Irak. Doch dieses Argument greift zu kurz, denn der Westen genießt generell in der islamischen Welt ein nur geringes Ansehen.


Für einen kurzen Moment meinten viele Kommentatoren, der 11. September würde den Westen wieder zusammenschweißen, ihm eine Identität und eine Richtung geben. Aber es gibt kein Bedeutungssystem, keine Idee oder Vision des Westens. An ihre Stelle treten billige Werbung und PR. Im Oktober 2001 wurde die Werberin Charlotte Beer zur US-Informationsministerin ernannt. Ihre Aufgabe war es, mit Unterstützung der Werbeindustrie die USA zu „rebranden“ und diese neu erfundenen USA der moslemischen Welt zu verkaufen. Der Versuch, nur das Image zu verbessern, zeigt, dass man nicht dazu bereit war, sich ernsthaft mit Ideen auseinanderzusetzen.
 

„Für die große Mehrheit von uns hat 9/11 das Leben zwar nicht verändert, uns aber mit großer Deutlichkeit gezeigt, wie schwer der Westen sich damit tut, sich selbst zu definieren.“



Auch in Großbritannien doktert man vor allem an der Oberfläche herum. Die Politik setzt darauf, dass gemäßigte Moslems die Extremisten im Zaum halten. Ein britischer Minister, Lord Triesman, erklärte die Strategie so: „Islamische Gelehrte aus aller Welt touren durch diejenigen britischen Städte und Gemeinden, in denen viele Moslems leben, um den Parolen der Extremisten etwas entgegenzusetzen.“[8] Dieses Outsourcing im Kampf gegen den Extremismus rührt daher, dass man selbst nicht glaubt, es gebe eine positive Vision des Westens, die man an die Menschen herantragen könne. Im Februar 2003 fragte Donald Rumsfeld: „... fangen wir mehr Terroristen, töten wir mehr, schrecken wir mehr ab, bringen wir mehr von ihrem Weg ab, als die radikalen Prediger, die Koranschulen anwerben, ausbilden und gegen uns ins Feld schicken?“[9] Sieht man sich die Fakten an, ist die Antwort ein eindeutiges Nein. Die Erfahrung zeigt nur zu deutlich, dass die Werbekampagnen, auf die der Westen setzt, ohne klare Botschaft wirkungslos bleiben werden.


Katastrophen, Kriege und historische Großereignisse haben bedeutende materielle, geopolitische und wirtschaftliche Folgen. Sie stellen auch eine Herausforderung für Gesellschaften dar, mit Neuem umzugehen und sich selbst zu beweisen. Materiell gesehen war der 11. September ein kleinerer Zwischenfall. Das kurzfristige wirtschaftliche Durcheinander wurde rasch von einem Aufschwung abgelöst; die allermeisten Menschen gingen schnell zum Alltag über und zeigten, dass sie sehr widerstands- und anpassungsfähig sind. Für die große Mehrheit von uns hat der 11. September das Leben nicht verändert. Der 11. September hat jedoch mit großer Deutlichkeit gezeigt, wie schwer der Westen sich damit tut, sich selbst zu verstehen und zu definieren. Seit dem Ende des Kalten Krieges war klar, dass der Westen sich neu positionieren und eine neue Vision für sich finden müsse. Erst der 11. September aber hat dazu geführt, dass die Eliten im Westen eingestehen mussten, dass für sie unsere Zukunft eine „unbekannte Unbekannte“ ist. Entsprechend kann man heute nur noch wenig als gegeben hinnehmen. Vielleicht ist es das, was die Menschen meinen, wenn sie sagen, der 11. September habe alles verändert.

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