08.11.2013

Die Neuerfindung der Kernenergie

Essay von Thilo Spahl

Unbeeindruckt vom deutschen Atomausstieg arbeitet der Rest der Welt am Neustart der Kernenergie 2.0 mit sicheren Reaktoren, die billige CO2-freie Energie liefern. Auch deutsche Physiker sind am Start, aber ihnen weht der Wind der German Angst entgegen, meint Thilo Spahl

Seit Merkels kühner Wende scheint das Ende der Kernenergie in Deutschland besiegelt. Das Land präsentiert sich als Eldorado für Windmüller und Solardachbesitzer und als Sperrgebiet für Kernphysiker. Ganz Deutschland? Nein! In Berlin hat sich eine kleine Truppe von Enthusiasten zusammengefunden, die mitmischen wollen, wenn die Renaissance jener Energiequelle eingeläutet wird, die beides kann: sehr billig sein und gleichzeitig CO2-frei.

Dass man es mit Exoten in der schnell wachsenden Berliner Start-up Szene zu tun hat, erkennt man schon am sperrigen Namen. „Institut für Festkörper-Kernphysik (IFK) GmbH“ klingt nicht gerade sexy und nicht nach schnellem Geld im Internet. Es klingt auch nicht nach Atomindustrie. Streng genommen muss man das Gründungsunternehmen aber wohl dazu zählen. Denn das Geschäftsmodell besteht darin, eine ganz neue Art von Kernreaktor zu entwickeln und zu kommerzialisieren. Das war so allerdings erst mal nicht geplant. Als der Kernphysiker Armin Huke das Unternehmen vor vier Jahren als gemeinnützige GmbH gründete, wollte er vor allem seine Grundlagenforschung im Bereich der Kernfusion fortführen, nachdem an der TU Berlin wie an vielen kernphysikalischen Instituten in Deutschland die Kernphysik in ein Nischendasein gedrängt worden war. Die Sache mit dem Reaktor ergab sich eher zufällig. Zusammen mit seinem früheren Kommilitonen Götz Ruprecht suchte er nach einem verwertbaren Projekt. Ruprecht war nach Kanada gegangen, wo er am nationalen Kernforschungszentrum TRIUMF Prozesse untersuchte, die im Innern von Sternen ablaufen. Zusammen kam ihnen die Idee, eine neue Quelle für Molybdän 99 zu entwickeln. Das ist ein radioaktives Isotop, das in der Medizin von großer Bedeutung ist und für das 2010 ein akuter globaler Versorgungsengpass entstanden war. Es ließ sich nicht wirtschaftlich umsetzen, lieferte aber neue Lösungen, wie auf Basis alter Konzepte aus den 1950er und 60er Jahren, der wilden Zeit der Kernenergieforschung, ein hoch effizientes Kraftwerk gebaut werden könnte. „Da haben wir gemerkt, dass viel mehr geht, als das, was heute in der Industrie zur Anwendung kommt“, sagt Huke. „Die heutigen Reaktoren haben eine Menge Nachteile, die keineswegs sein müssten.“ Zusammen mit Ruprecht und einigen anderen hat er deshalb in den letzten drei Jahren den sogenannten Dual Fluid Reaktor entworfen und zum Patent angemeldet. Der beansprucht so viele Vorteile, dass auch hartgesottene Atomkraftgegner ins Nachdenken kommen könnten.

„Der Dual Fluid Reaktor beansprucht so viele Vorteile, dass auch hartgesottene Atomkraftgegner ins Nachdenken kommen könnten.“

Der Rest der Welt ist vom deutschen Ausstieg ohnehin wenig beeindruckt. Weltweit laufen rund 435 Reaktoren, 60 sind im Bau, 160 in Planung, 320 vorgeschlagen. Die World Nuclear Association geht sogar davon aus, dass in einigen Jahren alle fünf Tage ein neuer Reaktor ans Netz gehen könnte. Das eigentlich Spannende ist aber nicht, dass munter weiter gebaut wird, sondern dass in technologischer Hinsicht tatsächlich mit einem großen Bruch zu rechnen ist. Im nächsten Jahrzehnt wird nicht der Ausstieg vorbereitet, sondern ein Neustart unter neuem Vorzeichen. Wenn man sich in der Welt umschaut, sieht man, dass das IFK mit seinem Vorstoß nicht alleine dasteht. Es mehren sich die Stimmen, die in der Kernenergie 2.0 eine Riesenchance sehen. Bill Gates, der mit seiner Stiftung u.a. Milliarden in Bildung und medizinische Forschung steckt, zählt zu den Investoren der US Firma Terrapower, die sich vorgenommen hat, ein technisches Wunderwerk namens „Laufwellenreaktor“ zu entwickeln. „Wenn ich nur einen Wunsch für die nächsten 50 Jahre hätte“, sagte er bei einer Vorstellung des Konzepts, dann sei es der, dass diese Technologie umgesetzt wird, die sichere, CO2-freie Energie zum halben Preis für die ganze Welt liefern soll. Die Betonung liegt auf „ganze“ Welt.

Neben Terrapower entstehen vor allem in den USA immer mehr „Nuclear Start-ups“, die die Kernenergie neu erfinden wollen. Mark Massie hat ein Praktikum bei Terrapower gemacht, bevor er am renommierten MIT gemeinsam mit seiner Mitstudentin Leslie Dewan 2011 sein eigenes Unternehmen, Transatomic Power, gründete. Sie bauen auf der gleichen Technologie auf wie die Berliner. Ihr Projekt heißt WAMSR. In einem Vortrag werfen sie das Akronym in einer Comicsprechblase an die Wand, in er sonst wohl „Wham“ oder im Deutschen „Rumms“ stehen würde. Das Kürzel steht für Waste Annihilating Molten Salt Reactor (Müll vernichtender Salzschmelzereaktor). Und die zwei würden wahrscheinlich sagen, dass er einschlagen wird, wie eine Bombe – wenn sie nicht wüssten, dass allzu viele Menschen das in diesem Fall allzu wörtlich nehmen würden. Der WAMSR soll in der Lage sein, den gesamten global vorhandenen Atommüll zu verbrennen und allein damit die Welt über 70 Jahre lang mit Strom zu versorgen. Auch Massie und Dewan zählen sich zu einer neuen Generation von Nuklearwissenschaftlern, die mit der alten Atomindustrie nicht viel am Hut hat. „Heute gibt es junge Leute“, sagt die 28-jährige Dewan, „junge, umweltbewusste Leute, die glauben, dass Kernenergie der richtige Weg ist.“

Die neuen Kernkraftpioniere haben erkannt, dass die Reaktoren, die in den letzten 60 Jahren mehr oder weniger mit dem grundsätzlich gleichen Design gebaut wurden, weit hinter den Möglichkeiten zurückbleiben. Und die sind enorm: Bei der Spaltung eines Atomkerns wird 100 Millionen Mal so viel Energie freigesetzt wie bei der Verbrennung eines Kohlenstoffatoms. Uran ist in großen Mengen vorhanden und Thorium, das u.a. als Abfallprodukt bei der Förderung von Seltenen Erden anfällt und auf das viele nun setzen, noch häufiger. Laut David LeBlanc, Chef der kanadischen Firma Terrestrial Energy, werden in Zukunft Rohstoffkosten keine Rolle spielen: „Thorium ist spottbillig, der Brennstoff für ein Kraftwerk kostet vielleicht 40 bis 50 Tausend Dollar pro Jahr und damit wird Energie im Wert von 500 Millionen Dollar produziert.“

Wo liegen die wirklichen Probleme der in Deutschland totgesagten Atomkraft? „Das Grundübel der herkömmlichen Kernenergie“ sieht der Kernphysikstudent Nico Bernt in ihrem militärischen Ursprung. „In den 1950er und 60er Jahren wurden zunächst Reaktoren für U-Boote entwickelt, dann für die Stromerzeugung adaptiert und letztlich über Jahrzehnte ohne grundsätzliche Veränderungen weltweit gebaut. Zudem war eines der wichtigsten Kriterien die Möglichkeit, mit den Reaktoren Plutonium für Atombomben gewinnen zu können. Trauriges Paradebeispiel für ein so ausgelegtes Kraftwerk war Tschernobyl.“ Deshalb sei es an der Zeit, ein konsequent auf die zivile Nutzung ausgelegtes Kraftwerk zu bauen. Das würde seiner Meinung nach ganz anders aussehen. Vor allem hätte es keine festen Brennelemente mehr, die nach wenigen Jahren ausgetauscht werden müssen, obwohl sie noch 97% der Energie enthalten und eine extrem teure Infrastruktur erfordern.

Wer heute neu über Kernenergie nachdenkt, startet mit anderen Prioritäten. Er muss vier Kriterien berücksichtigen, sonst braucht er erst gar nicht anzufangen: Kosten, Sicherheit, Ressourcennutzung, langlebiger Atommüll. Bisherige Reaktoren sind relativ teuer, relativ sicher, relativ ineffizient und sie hinterlassen relativ viel Atommüll. Zukünftige Reaktoren müssen mehr bieten. Sie müssen deutlich billiger sein, extrem sicher, so effizient, dass der vorhandene Brennstoff mindestens für Tausende von Jahren reicht, und fast keinen Müll hinterlassen. Die Latte hängt also hoch. Dennoch traut man einigen Konzepten zu, das alles zu leisten.

Das im Jahr 2000 ins Leben gerufene Generation IV International Forum hat aus rund 100 Konzepten sechs Reaktortechnologien ausgewählt, die gemeinsam entwickelt werden sollen. Mit von der Partie sind die USA, Argentinien, Brasilien, Kanada, China, Frankreich, Japan, Russland, Südkorea, Südafrika, die Schweiz und Großbritannien sowie die EU - im Grunde alle außer Deutschland.

„Als Hoffnungsträger gelten Schnellspaltreaktoren, die in der Lage sind, Atommüll zu verbrennen, und Salzschmelzereaktoren, die zudem als ‚walk-away safe‘ gelten.“

Als Hoffnungsträger gelten vor allem sogenannte Schnellspaltreaktoren, die in der Lage sind, Atommüll zu verbrennen, und speziell die Salzschmelzereaktoren (Molten Salt Reactor – MSR), die zudem als „walk-away safe“ gelten. Das bedeutet: Wenn der Reaktor beschädigt wird, der Strom ausfällt und das ganze Personal nachhause geht, passiert trotzdem nichts. Weder steht der Reaktorkern unter Druck, noch ist eine aktive Kühlung erforderlich. Er kann nicht in die Luft fliegen, und es kann nicht zur Kernschmelze kommen, da es gar keinen festen Kern gibt, sondern der Brennstoff im flüssigen Salz gelöst zirkuliert. Bei Stromausfall fließt er einfach in ein Auffangbecken, die Kernreaktion erlischt sofort und das Salz kühlt allmählich ab. Probleme mit Restzerfallswärme, wie in Fukushima, gibt es nicht.

Als technisch machbar gelten die neuen Konzepte alle. „Im Grunde wurden sämtliche Bestandteile schon irgendwann einmal erprobt“, sagt Ruprecht. „Es geht nicht mehr um Forschung. Es geht nur noch um technische Entwicklung. Die Innovation erfolgt dadurch, dass wir Elemente neu kombinieren, die vorher in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen eingesetzt wurden.“ In den USA ist in den 1960er Jahren ein experimenteller Salzschmelzereaktor fünf Jahre lang gelaufen. Das von den Berlinern deutlich weiterentwickelte Konzept, der sogenannte Dual Fluid Reaktor (DFR), wurde im März erstmals bei einem Treffen der Internationalen Atomenergie-Organisation in Paris vorgestellt. Er arbeitet mit flüssigem Brennstoff, was zunächst Flüssigsalz ist, in einer weiterentwickelten Variante aber auch Flüssigmetall sein kann, hat aber im Gegensatz zu allen anderen Konzepten einen getrennten Kühlkreislauf mit flüssigem Blei. Verbrennen kann man Atommüll ebenso wie abgereichertes Uran, Natururan oder Thorium. Die Wiederaufbereitung erfolgt direkt im Reaktor, weder Explosion noch Kernschmelze sind möglich. Es bleiben nur geringe Mengen radioaktiver Stoffe übrig, die für wenige Hundert Jahre gelagert werden müssen und teilweise in der Medizin genutzt werden können. Und er soll vor allem sehr, sehr effizient sein, Strom für weniger als einen Cent pro Kilowattstunde produzieren.

Die große Herausforderung für die US Newcomer und erst recht die Deutschen besteht darin, Investoren zu finden. Auch hier zeigt sich der große Unterscheid zu anderen Start-Up Unternehmen. Mit ein paar Hunderttausend Euro ist es nicht getan. Rund 10 Milliarden müssen fließen, bevor ein marktfähiger Prototyp fertig ist. Und selbst die erste Hürde von 15 bis 20 Mio. für die Simulationsstudien scheint bereits sehr hoch. Weder Transatomic Power noch das IFK haben bisher einen größeren Investor gefunden. Die Amerikaner bewegen sich aber immerhin im deutlich innovationsfreundlicheren Umfeld des MIT. Anfang des Jahres haben sie bei einem Innovationswettbewerb des Energieministeriums (Department of Energy) gegen eine Konkurrenz von 200 anderen Bewerbern, vorwiegend aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, den ersten Preis gewonnen. Die IFK Leute sind ein bisschen neidisch. Sie selbst haben ganz andere Erfahrungen gemacht, als sie sich bei den deutschen GreenTec Awards unter Schirmherrschaft von Peter Altmaier beworben hatten. Dort wurde eigens nachträglich das Reglement geändert, nachdem sie in ihrer Kategorie für alle Beteiligten sehr überraschend als Sieger aus der Onlineabstimmung hervorgegangen und damit automatisch für das Finale qualifiziert waren. Die glamouröse Preisverleihungsgala, auf der auf keinen Fall ein Kernreaktor präsentiert werden durfte, haben sie als Zuschauer besucht. „Es war ganz lustig, sich die Show anzuschauen. Die prämierten Projekte haben uns allerdings nicht beeindruckt“, meint Ruprecht schmunzelnd.

„Salzschmelzereaktoren arbeiten mit sehr hohen Temperaturen und sind optimal geeignet, Wasserstoff und damit Benzin oder andere Treibstoffe herzustellen. Für Erdöl ist dann kein Bedarf mehr.“

Und dann gibt es noch China. Auf China sind sie auch ein bisschen neidisch. Dort wird kräftig investiert. Jiang Mianheng, ehemaliger Vizepräsident der chinesischen Akademie der Wissenschaften und Sohn des früheren chinesischen Präsidenten Jiang Zemin, leitet das gerade mit 350 Mio. Dollar gestartete Projekt zur Entwicklung eines chinesischen Salzschmelzereaktors: „Land ist eine knappe Ressource für China. Deshalb brauchen wir hochdichte Energie“, sagt Jiang, der Kernenergie, Sonne und Wind zu den erneuerbaren Energien zählt. Er nennt die hohe Temperatur von über 900 Grad als einen der wesentlichen Gründe, weshalb China den MSR entwickeln will. Dadurch kann außer Strom auch Wasserstoff produziert werden. „Wenn wir den Wasserstoff haben“, sagt er, „dann können wir CO2 umwandeln, das keineswegs Abfall ist, sondern ein Rohstoff.“ Armin Huke sieht darin ebenfalls einen großen Vorteil des Konzepts. Salzschmelzereaktoren arbeiten mit sehr hohen Temperaturen und sind optimal geeignet, Wasserstoff und damit Benzin oder andere Treibstoffe herzustellen. Für Erdöl ist dann kein Bedarf mehr.

„Wir könnten eine Lösung für die Endlagerproblematik bieten. Man könnte die Reaktoren direkt auf dem Gelände der Kernkraftwerke bauen und den Atommüll verbrennen, der vor Ort in den Castoren lagert.“

Liegt die Zukunft des in Berlin erfundenen DFR in China, Russland, Kanada oder Polen? „Gut möglich“, meint Ruprecht. Wichtigster Forschungspartner ist im Moment die Universität Stettin. „Vielleicht besteht aber auch im Ausstiegsland Deutschland eine Chance. Wir könnten eine Lösung für die Endlagerproblematik bieten. Man könnte die Reaktoren als eine Art Entsorgungsmaschinen direkt auf dem Gelände der vorhandenen Kernkraftwerke bauen und den Atommüll verbrennen, der vor Ort in den Castoren lagert. Laut Atomgesetz ist das eine zulässige Alternative zur Endlagerung. Als Nebenprodukt würden riesige Mengen an Strom produziert.“ Einen Haken habe die Sache allerdings, so Huke: „Das Gesetz erlaubt nicht, dass Elektrizität gewerblich abgeben wird. Man müsste sie demnach entweder durch den Kühlturm jagen oder kostenlos ins Netz einspeisen, also verschenken. Oder man könnte die Prozesswärme nutzen, um synthetisches Benzin herzustellen.“ Und die Politik? Götz Ruprecht zuckt mit den Achseln: „Politik kann sich auch wieder ändern.“

Vielleicht ist ja auch Bill Gates zu begeistern. Terrapower scheint sich nicht ganz auf den Laufwellenreaktor festlegen zu wollen und zeigt sich neuerdings auch an der Salzschmelzetechnologie interessiert. Bei einem Besuch in Berlin könnte der Milliardär, der das Microsoft Imperium bekanntlich in einer Garage startete, an seine jungen Jahre erinnert werden. Wobei die „Garage“ in diesem Fall ein fensterloser Raum mit leeren Regalen, ein paar Tischen und einer Kaffeemaschine im Erdgeschoss des Eugene Paul Wigner Gebäudes der Technischen Universität Berlin ist. Der kahle Raum war in besseren Zeiten die Bibliothek für Kernphysik. Hier treffen sich Armin Huke, Götz Ruprecht, Nico Bernt und Daniel Weißbach, der am IFK seine Doktorarbeit schreibt, stellen ihre Fahrräder in die Ecke, um an den mitgebrachten Laptops Reaktionen zu berechnen und Konzepte zu schreiben. Sie wissen, dass sie große Außenseiter sind. Wenn Sie das Gebäude verlassen, weht ihnen der kalte Wind der German Angst ins Gesicht.

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