01.05.1999

Atomkraft? Allerdings!

Analyse von Thilo Spahl

Unseren Kindern können wir gerne Windräder vorenthalten, aber auf keinen Fall Kernkraftwerke.

Trittin steht nicht allein. Atomkraft ist in der deutschen Bevölkerung ungefähr so beliebt wie abgestandenes Bier. Von Begeisterung für die Umwandlung von Materie in Energie fehlt jede Spur. Ein neuer Weltrekordler im Gummistiefelweitwurf fürs Guinness-Buch der Rekorde erhält in den Medien mehr anerkennende Beachtung als das niedersächsische Atomkraftwerk Grohnde, das 1998 “Weltmeister” in der Stromproduktion wurde. Es lieferte 11,76 Milliarden Kilowattstunden. Neben Grohnde finden sich unter den ersten sechs in der Welt noch drei weitere deutsche Kraftwerke. Man stelle sich vor, Deutschland wäre auf der ATP-Weltrangliste ähnlich gut vertreten. Wer würde es wagen, den Ausstieg Deutschlands aus dem Tennis zu fordern?

Natürlich sind die beiden Sachen nicht zu vergleichen; auf dem Tennisplatz sterben viel mehr Menschen als in Atomkraftwerken. Und vom Tennis verstehen die meisten Menschen viel mehr als von Atomkraft. Tennis ist einfacher.

BESCHLOSSENE SACHE

In den ersten Monaten der rot-grünen Regierung durften wir eine Ausstiegsdebatte beobachten, die manches Kopfschütteln und Augenverdrehen bewirkte, eine Inszenierung, an der drei Regisseure zur gleichen Zeit arbeiteten und die daher nicht gerade als großes Kunstwerk in die Geschichte der deutschen Politik eingehen wird. Manchem wird inmitten des Getummels entgangen sein, daß es um nichts Grundsätzliches ging. Es ging lediglich um den bescheidenen Unterschied zwischen “Jetzt aber ruck zuck!” und “Nicht jetzt gleich, sondern wirtschafts- und sozialverträglich!”. Von einer Kontroverse kann man bei der ganzen Debatte nicht sprechen, der Ausstieg blieb, wie schon seit Jahren, beschlossene Sache. Die Frage scheint heute nur noch, wie man ihn am besten voranbringt. Sehr gut kommt das zum Ausdruck, wenn man liest, wie die Süddeutsche Zeitung ihre Leserumfrage zum Thema formulierte:

Läßt sich im Bestreben um einen Ausstieg aus der Atomenergie nur vehement etwas erreichen, und bringen deshalb die Äußerungen Trittins die Debatten um den Atomausstieg voran - oder schaden sie eher der Sache?
Halten Sie die Vorgehensweise des Umweltministers in der Atompolitik für richtig?
Das Vorgehen in der Atompolitik ist also dann am ehesten richtig, wenn es der guten Sache, dem Atomausstieg, am besten dient. Andere Meinungen scheinen gerade mal noch Lobbyisten der Atomindustrie, einer aussterbenden Spezies, und der CSU vorbehalten zu sein.

ENERGIE: SCHLIMM ATOMENERGIE: NOCH SCHLIMMER

In der grünen Weltsicht (die sich heute mehr oder minder ausgeprägt in allen politischen Parteien findet) ist Energieverbrauch als solcher schon etwas Schlechtes. Da ist es nicht verwunderlich, daß die Energiequellen, die am meisten liefern, irgendwie die unsympathischsten sind. Dazu gehören neben Atomkraftwerken vor allem große Staudämme. Beliebt dagegen sind Windrädchen, Solarzellen oder vielleicht noch Blockheizkraftwerke, also alles, was sich ohne Probleme im Vorgarten unterbringen läßt. Atomkraft jedoch gehört nicht in den Vorgarten und befindet sich damit außerhalb des braven Häuslebauers Horizont. Atomkraft ist eine technisch aufwendige Form der Energiegewinnung. Das unterscheidet sie von Verbrennungsenergie oder Wasserkraft, wie wir sie schon im letzten Jahrhundert genutzt haben. Sie ist die Energie der Zukunft, sie wird nach dem Ende der Ära fossiler Energien neben der Sonnenenergie die Hauptenergiequelle für die menschliche Zivilisation sein. Während fossile Energieträger ganz deutlich endlich sind und in ein paar hundert Jahren keine große Rolle mehr spielen werden (vgl. Abb. “Consumption of Fossil Fuels”), beträgt nach heutigem Wissensstand die Reichweite von Uran bei intelligenter Nutzung mehrere tausend Jahre. Ähnliche Reichweiten sind für den anderen nuklearen Energieträger Thorium zu erwarten. Die Reichweite der Energieträger Deuterium und Lithium, die in zukünftigen Fusionsreaktoren genutzt werden, ist praktisch unendlich. Das 21. und 22. Jahrhundert werden, objektiv betrachtet, die Periode des Übergangs zum eigentlichen Atomzeitalter sein. Im Rückblick wird es recht skurril anmuten, wenn man sich die heutigen Debatten um den Ausstieg anschaut.

POSITIVE BILANZ

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in gewisser Hinsicht die Frühphase des Übergangs zum Atomzeitalter. Betrachtet man sie als Erprobungszeit, muß man konstatieren, daß der Einstieg erstaunlich problemlos gelaufen ist. Vergleicht man mit den Umwelt- und Gesundheitsbelastungen während der Entwicklung der technischen Nutzung fossiler Energien aus Kohle, Öl und Gas, so erweist sich die Atomenergie als um Dimensionen sauberer und sicherer. Die größten Belastungen entstanden zweifellos in den “wilden Jahren” des Uranabbaus in den späten 40er und den 50er Jahren, in denen Hunderttausende von Bergarbeitern hohen Strahlendosen ausgesetzt waren. Der GAU von Tschernobyl kostete 1986 59 Menschen das Leben und führte zu mehreren Hunderten zusätzlicher Fälle von Schilddrüsenkrebs und 17 weiteren dokumentierten Todesfällen in den folgenden zehn Jahren (s. in diesem Heft der Artikel von Patrick Körber). Vergleicht man mit anderen Unfällen in den 80er Jahren, etwa dem Grubenunglück in Mexiko 1984 mit über 500 Toten, dem Dammbruch 1985 in Italien mit 250 Toten, der Explosion auf der Ölbohrinsel Piper Alpha in der Nordsee 1988 mit 167 Toten oder dem Pipelineleck und dem Feuer in Asha-ufa (Sibirien) 1989 mit 600 Toten, so darf man 1986 nicht unbedingt zu den schwärzesten Jahren in der Geschichte der Energiegewinnung zählen. In der gesamten Zeit der friedlichen Atomenergienutzung sind durch Unfälle weltweit bislang weniger Menschen gestorben als jede Woche in Deutschland allein im Straßenverkehr.
Es dürfte schwer sein, eine komplizierte neue Technologie zu finden, die in den ersten vierzig Jahren ihrer Nutzung, eingesetzt in 32 Ländern der Erde, so wenig unerwünschte Nebenwirkungen mit sich gebracht hat wie die Kernenergie.

SCHRECKENSMELDUNGEN UND UNGLÜCKSVISIONEN

Leider interessieren sich viele Menschen nicht sonderlich für die Fakten, weil sie zu sehr von Schreckensmeldungen und Unglücksvisionen beeindruckt sind. Viele hegen Zweifel, ob man diesen entwarnenden Zahlen trauen dürfe. Wird da nicht doch einiges verheimlicht? Viele mutmaßen auch, daß das, was an Katastrophen bisher nicht eingetreten ist, ja noch kommen und dann ungeahnte Ausmaße annehmen könne. Für die weite Verbreitung beider Bedenken gibt es Gründe.
Verheimlichte “Verseuchungen” lassen sich bei der Atomkraft besonders gut vermuten, da man die Strahlung ja weder riecht noch sieht und sie gerade deshalb eine so heimtückische Gefahr darstellt. Das ist richtig. Andererseits reicht es nicht aus, um wirklich heimliche Katastrophen anzunehmen. Denn unbemerkt können sie nicht bleiben, da Strahlung ja, so unsichtbar sie auch ist, durchaus ständig gemessen und überwacht wird. Man muß also zusätzlich eine regierungsseitige Verschwörung von globalem Ausmaß annehmen, die uns solche Informationen bewußt vorenthält. Dies jedoch entbehrt jeder Plausibilität.
Die noch zu erwartenden Katastrophen ungeahnten Ausmaßes erscheinen auf den ersten Blick nicht unwahrscheinlich - schließlich hat man gesehen, was Atombomben anrichten können. Andererseits weiß man auch, daß Atombomben dafür gebaut sind, größtmögliche Zerstörungen anzurichten, während Atomkraftwerke dafür konstruiert sind, jedes mögliche Risiko zu minimieren. Da gibt es schon Unterschiede. Die begonnene Kernschmelze im Reaktor Three Mile Island bei Harrisburg hat gezeigt, daß ein sicherheitstechnisch mittelmäßiges Kraftwerk zwar bei einem Unfall komplett zerstört werden kann (womit eine Milliarde Dollar vernichtet wurden), jedoch bereits vor zwanzig Jahren einen GAU ohne Gefährdung der Bevölkerung überstehen konnte. Neue Reaktortypen sind weit sicherer und setzen zunehmend auf Mechanismen, die eine Kernschmelze naturgesetzlich unmöglich machen.

ATOMMÜLL: EINE HYPOTHEK FÜR DIE ZUKUNFT?

Bleibt die Frage der Entsorgung. Die wird gemeinhin als vielleicht das größte Problem gewertet; man trifft jedoch nur selten jemanden, der sagen kann, was daran problematisch sei. Unter Atommüll verstehen wir strahlende Materialien aus Atomkraftwerken. Der größte Teil davon ist schwach radioaktiv und wird einfach vergraben. Viele Gedanken macht man sich um die Endlagerung hochradioaktiver Stoffe, die nur in geringen Mengen anfallen, jedoch noch über Tausende von Jahren strahlen und deshalb nicht in Kontakt mit Lebewesen kommen sollten, die sie schädigen können. Das ist technisch gesehen eine durchaus zu bewältigende Aufgabe.
Stand der Überlegungen heute ist, sie zu verglasen und dann in Gesteinen oder Salzstöcken zu lagern, in denen sich schon seit mehreren Hundert Millionen Jahren nichts geregt hat. Das ist eine Methode, die weit sicherer ist, als das Gefährdungspotential es erfordern würde. Abgesehen von der Tatsache, daß man etwa Plutonium lieber weiter zur Energiegewinnung nutzen sollte, statt diese kostbare Substanz zu vergraben, spricht nichts gegen diese Form der Endlagerung.

DAS WISSEN DER ZEIT NUTZEN

Die wichtigste Ressource für die Entwicklung der Menschheit ist die menschliche Intelligenz. Das zunehmende Wissen über die Natur ermöglicht es uns, diese zu nutzen und unser Leben zu verbessern. Es war seit Beginn der Wissenschaften immer selbstverständlich, daß die Menschen darauf brannten, neue Erkenntnisse zu nutzen, um die eigenen Möglichkeiten und die folgender Generationen zu erweitern. Die Fortschritte in der Kernphysik gehören zu den großen Errungenschaften des 20sten Jahrhunderts. Die kleine Einsteinsche Formel e=mc2 verweist darauf, daß Materie in Energie umgewandelt werden kann. (Das ist beim Verbrennen von Holz oder Kohle keineswegs der Fall, es sieht nur so aus, weil feste Stoffe weitgehend in gasförmige umgewandelt werden, wobei jedoch kein Masseverlust zu verzeichnen ist.) Dies passiert, wenn große Atome (etwa Uran) zu kleineren gespalten oder kleine (z. B. Wasserstoff) zu größeren verschmolzen werden. Dabei geht tatsächlich Materie verloren, und große Mengen an Energie werden frei. Aus dieser Kenntnis eröffnen sich phantastische Möglichkeiten - aber kaum mehr einer findet sich, der sie nutzen möchte.
  Die “Wollen-wir-nicht! Brauchen-wir-nicht!”-Haltung gegenüber der Kernenergie am Ende des zweiten Jahrtausends werte ich nicht als Ausdruck tatsächlicher Bedenken, als Ausdruck (wenigstens für sich selbst) begründeter Angst, schon gar nicht als verantwortliche Entscheidung auf Basis einer aufgeklärten gesellschaftlichen Debatte. Ich werte sie in erster Linie als Ausdruck der Perspektivlosigkeit, als Ausdruck einer tiefgreifenden Begeisterungslosigkeit und Zukunftsferne.

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