01.11.2002

Amerikas präventive Außenpolitik: “Hans Jonas pur”

Kommentar von Michael Miersch und Dirk Maxeiner

Die Bush-Doktrin folgt dem grünen Vorsorgeprinzip.

Im Zusammenhang mit dem Irak ist dieser Tage auf Seiten der Befürworter eines Angriffs viel von Prävention, Vorsorge und der Verantwortung für künftige Generationen die Rede. Die Argumentationsmuster sind nahezu deckungsgleich zu denen, die in Deutschland gegen Atomkraftwerke und Gentechnik vorgebracht werden. Es muss etwas geschehen, bevor etwas geschieht, auch wenn es sich lediglich um potenzielle Bedrohungen handelt. Diese Maxime geht zurück auf den deutschen Philosophen Hans Jonas und sein Werk „Das Prinzip Verantwortung“. Darin legte er 1979 die philosophischen und ethischen Grundlagen des so genannten Vorsorgeprinzips (auch Vorsichtsprinzip). Jonas befürchtete, dass neue Technologien große Risiken aufwerfen, die das langfristige Überleben der Menschheit in Frage stellen könnten. Zur Abwehr menschheitsbedrohender Gefahren solle der Staat daher bereits einschreiten, bevor die Bedrohung völlig frei von wissenschaftlichen Zweifeln bewiesen sei. Hans Jonas hatte dabei etwa die Gefahr von Atom- oder Chemie-Katastrophen im Sinn, an Saddam Hussein dachte er nicht.

Das Vorsorgeprinzip wurde rasch zu einer Leitidee der entstehenden Umweltbewegung und fand in Europa und besonders in Deutschland große Akzeptanz. Die Europäische Kommission hat inzwischen sämtlichen Mitgliedstaaten empfohlen, es systematisch anzuwenden. Der Europäische Gerichtshof bemühte den Terminus unlängst in einer Entscheidung zu gentechnisch verändertem Mais. Das Prinzip wurde sogar in einigen Regularien der Welt-Handelsorganisation festgeschrieben, wogegen sich die USA heftig sträubten.

Mit den Attentaten vom 11. September bekommt der Gedanke der Prävention nun eine unerwartete Wendung. Es stehen plötzlich nicht mehr die inhärenten Unfallrisiken einer Technologie an und für sich im Zentrum der Besorgnis, sondern eine ungleich konkretere Gefahr: Terroristen oder Regime, die mit solchen Techniken willentlich die Menschheit bedrohen könnten. Wer wollte beispielsweise ausschließen, dass Saddam Hussein seine Nachbarn mit chemischen oder bakteriologischen Waffen angreift? Die Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen könnte weiter fortgeschritten sein als bislang angenommen. Die Sicherheitsdoktrin der USA läuft darauf hinaus, bei Gefahr im Verzug auch ohne letzte Beweise präventiv in einem souveränen Land zu intervenieren. Das ist nichts anderes als lupenreines Vorsorgeprinzip, gewissermaßen Hans Jonas pur. „Wir haben jeden Grund, das Schlimmste anzunehmen, und wir haben die unbedingte Pflicht zu verhindern, dass das Schlimmste eintritt“, beteuerte Bush und fügte hinzu: „Die Vereinigten Staaten könnten nicht bis zum zweifelsfreien Beweis warten, um zu handeln.“ Nur wird das Prinzip, Ironie des Schicksals, jetzt von vielen Europäern und allen voran von den Deutschen abgelehnt. Dabei beherzigt Präsident Bush nichts anderes, als was insbesondere grüne Politiker auf dem Gebiet der Umwelt seit Jahren predigen und praktizieren.

Die Europäer befinden sich in einem Dilemma. Entweder sie müssen sich vorwerfen lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Oder sie müssten eingestehen, auf welch abschüssige Bahn die rechtsverbindliche Verankerung des Vorsorgeprinzips jetzt schon geführt hat: Egal ob es sich um asiatische T-Shirts oder amerikanischen Gentechnik-Mais handelt, sobald irgendein Verdacht auftaucht, können ohne schlüssige Beweise Verbote oder Sanktionen ins Werk gesetzt werden. Und dies bei Risiken, die im Vergleich zur Bedrohung durch Terrorismus winzig sind. Die Eingriffsschwelle für das Vorsorgeprinzip ist mit der Zeit ins Bodenlose gesunken: von menschheitsbedrohenden Großrisiken hinab zur chemischen Zusammensetzung einer Badeente.

Eines der Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates lautet: Im Zweifel für den Angeklagten. Das Vorsorgeprinzip funktioniert in der heutigen Verfahrensweise aber genau anders herum: Im Zweifel gegen den Angeklagten. Der Hersteller eines Produktes oder Anwender eines Verfahrens soll deren zweifelsfreie Unschädlichkeit beweisen, was faktisch unmöglich ist. Es genügt beispielsweise, wenn eine Minderheit von Ländervertretern in der EU an seinen Vorbehalten gegen angeblich krankmachende Weichmacher in Kinderspielzeug festhält, um es letztendlich europaweit zu ächten. Ein unbewiesenes Gerücht reicht aus, um vorbeugend ein Produkt zu verbannen.

Wenn ein Fabrikant gegen ein solches Verbot verstößt, läuft er Gefahr, hart bestraft zu werden. Es ist damit bereits heute denkbar, dass jemand aus vorbeugenden Gründen eingesperrt wird. Mit dieser Entwicklung wird eine Grundlage der freien Gesellschaft und des Rechtsstaates ausgehöhlt. Man bewegt sich auf der verhängnisvollen Spur der Hexenjagd.

Wohin dies führen könnte, zeigt Steven Spielbergs neuer Film „Minority Report“: zur Bestrafung eines Täters, bevor er die Tat begangen hat. Und damit schließt sich der Kreis: So verständlich ein Einschreiten gegen den gefährlichen Diktator Saddam Hussein auch sein mag, so viel Sympathie man Bushs entschlossenem Vorgehen gegen den Terror auch entgegenbringen mag, er höhlt das Völkerrecht aus. Man wüsste eben doch gerne: Wer verhindert künftig einen Missbrauch dieser Praxis? Wie weit wird die Eingriffsschwelle in Zukunft sinken? Sowohl Europäer als auch Amerikaner eröffnen an unterschiedlichen Gefahrenfronten das Tor zur Willkür, ohne die grundlegenden Probleme zu bedenken oder gar einzuhegen, die sich damit für den Rechtstaat und die Freiheit ergeben. Im Umgang mit dem Vorsorge-Prinzip ist größte Vorsicht geboten.

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