03.05.2013

Alltagswahnsinn: Im Neobiedermeier

Von Monika Bittl

Angesichts der aktuellen Regulierungs-Hysterie fällt es schwer, die normale Welt von einer neurologischen Intensivstation zu unterscheiden. Immer mehr Verbote führen zu immer geringerer Freiheit. Wo bleibt da der gesunde Menschenverstand, fragt sich die Schriftstellerin Monika Bittl.

Wer seine Tage so wie ich gerade als Besucher auf einer neurologischen Intensivstation verbringt, der wundert sich so schnell über nichts mehr – und zugleich alles. Da bäumt sich ein Zwei-Meter-Mann als Patient immer wieder im Bett auf und schreit laut: „Arzt! Auto! Arzt! Auto!“, weint dankend Freudentränen, wenn eine Krankenschwester sein Zimmer betritt und schreit kurz darauf wieder den gleichen Text, wenn die Pflegerin den Raum verlässt, über Tage, Nächte hinweg die gleiche Dramaturgie. Ein Zimmer weiter wimmert eine dementer alter Mann über die Schokolade, die seine Frau ihm stets wegesse, und eine mir völlig unbekannte alte Dame begrüßt mich mit einem herzzerreißenden Tränenfluss, sie freue sich so sehr, ruft sie laut allen zu, dass ihre Tochter sie nun endlich besuche!

Wie gut, dass es die normale Welt da draußen gibt, meine Familie, meinen Job, den Wald, den nächtlichen Mond und – frei nach Bachmann und Wittgenstein – die noch viel schönere Sonne, die jeden Tag doch wieder aufgeht, auch wenn es nur eine Hypothese ist. Und dann haben wir auch noch eine wunderbare Zeitungsfrau, die uns jeden Tag, noch ehe sie weiß, ob die Sonne wirklich noch aufgeht, die neuesten Informationen vor die Tür legt. Mit einem Griff vor die Wohnungstür kann ich die ganz normale Welt in mein Leben holen und beim Frühstück lesen, was normale Menschen gerade so treiben oder kommentieren oder sie bewegt. „In diesem Krankenhauswahnsinn“, so habe ich neulich zu meinem Mann gesagt, „ist mir der Kontakt zum normalen Leben so wichtig!“ „Ja“, hat mein Mann gebrummt, „aber hältst du das wirklich für normales Leben, was da drin steht?“ Er hat weiter seinen Kaffee geschlürft und sich wunderbar normal erneut den Politik-, Kultur- und Sportinformationsseiten dieser Welt zugewendet.

„Dennoch holt mich der tägliche kollektive Irrsinn sein.“

Seit ich regelmäßig auf dieser Intensivstation weile, lese ich morgens lieber eine althergebrachte Zeitung, als mich via diverse Klicks durchs Netz über Politik, Kultur und Dies & Das zu informieren. Denn wer wie ich nach Natur und Normalität hungert, hat ein dünnes Nervenkostüm und muss schon zwei Mal hinschauen, um wirklich zu glauben, was da so in der gesellschaftlichen „Normalität“ vor sich geht. Liebeslieder sollten verboten werden, schon gehört? [1] Ehe Sie jetzt alles nachlesen, verkürze ich: Liebeslieder fördern die Homophobie in der Gesellschaft! Haben Sie das nicht gewusst? Mein angeschlagenes Intensivstationhirn kommt ins Grübeln: Warum lieben dann meine schwulen Freunde den Eurovision Song Contest so sehr, dass das gemeinsame Gucken längst Kult in der Szene ist? Sind die Schwulen und Lesben vielleicht selbst homophob, ohne es zu wissen? Der wahre Feind lauert heutzutage bisweilen im Unbewussten, wie die Freud-light-Gesellschaft weiß! Oder sollte ich mich täuschen, und der Verbotsforderer will nur Aufmerksamkeit erregen wie andere Leute, die in Shows blind rückwärts die Bibel im Handstand lesen? Ach, wie gut, dass es meinen normalen Mann gibt! Der sagt mir gerade, das sei nur Satire – was ich eigentlich noch viel schlimmer finde, denn mittlerweile glaube ich jede noch so absurde Forderung nach Verboten.

Dann sehe ich eine andere Meldung, ganz ohne Satire. Katzen sollten eine Ökosteuer zahlen, weil sie das Mausen beziehungsweise Vögeln nicht lassen können. Die Tiere seien einfach ein riesiges Problem – und das sagt nicht irgendein erwachsener ADHS-ler, nein, sondern ein Professor, der sein wissenschaftliches Ein- und Auskommen hat, also es wirklich nicht nötig hat, in RTL-Shows eingeladen zu werden. [2]

„Wir mäßigen uns maßlos.“

So lasse ich gerade das Klicken durch das www – und dennoch holt mich der tägliche kollektive Irrsinn sein. Meine patente Nachbarin Ines-Maria hat im ganzen Haus empörte Zettel ausgehängt, dass die Tür zu unserem Müllhäuschen künftig abzuschließen sei, weil doch „Müllvandalen“ (Wirklich! Ja!) unsere Tonnen okkupierten, also ein Unbekannter doch tatsächlich unsere Tonnen mit seinem eigenen Abfall befüllte! Unser Haus ist missbraucht, wir Müll-Entsorger-Frauen sind missbraucht, die ganze Welt ist missbraucht! Ich weiß zwar bis heute nicht, was der unbekannte Täter bei uns ablud, aber Ines-Maria wird mir eines Tages noch das Corpus Delicti, und sei es auch nur in Form eines verfaulten Apfels, präsentieren, wenn ich wieder öfter hier anwesend bin. Bis dahin gilt: Mülltonnen beobachten, Fremdgänger ausmachen, alles abschließen und verriegeln und dem Verbrechen keine Chance mehr geben! Die professionellen grünen Freunde und Helfer können schließlich nicht überall zugleich sein, da müssen schon Privatgrüne akkurat blockwarten!

So einfach ist das alles also nicht mit „Normalität“, „gesund“ und „krank“. Und heute fragte ich mich auf dem Weg vom Aushang der Ines-Maria zum Krankenhaus, warum mir die Patienten der Intensivstation eigentlich sympathischer sind als die ganzen „Gesunden“ um mich herum. Nein, ich setze den kranken Wahnsinn der einzelnen Menschen nicht in die faszinierende Münze der Philosophie und Literatur um, wie es Ende des vergangenen Jahrhunderts „in“ war. „Grenzgänger“ wurden damals zu Schamanen der „Wahrheit“ stilisiert und „Wahnsinn und Gesellschaft“ in dem Sinne verknüpft, dass die Narren eine Wahrheit sagten, die wir verrückten Vernünftigen gar nicht verstehen könnten. Bis heute hält sich diese Weltsicht, wenn Menschen ihren eigenen Geistern der Vergangenheit in esoterischen Sitzungen zu begegnen suchen, gerne „Grenzgänge“ wie vermeintliche Hexen unternehmen und ganz vulgo von ihren eigenen verrückten Lebensläufen mit Auszeiten beim einjährigen Beobachten des sibirischen Hais schwärmen.

Sorry, da bin ich pragmatisch, da sehe ich das Grauen auf der Intensivstation und den elendigen Kampf der Pfleger und der Patienten selbst um ihren Verstand. Das ist keine hexerische Zaunreiterei – das ist ein mühsamer, tagtäglicher Kampf um psychische Gesundheit, der mit romantisierendem Grenzgängertum so viel zu tun hat wie die Hautprobleme von Claudia Schiffer mit der Querschnittlähmung des türkischen Müllmanns mit vier Kindern von gegenüber.

Dabei spielte physische Gesundheit in unserer Gesellschaft noch nie so eine große Rolle wie heute. Seit wir nicht mehr an ein Jenseits nach dem Jordan glauben, versuchen wir auf Teufel komm raus, unsere Lebensjahre zu verlängern. Wir „mäßigen uns maßlos“ [3], joggen, geben das Rauchen auf, ernähren uns vegan und treiben überhaupt allerlei Unsinn, der wissenschaftlich nicht begründbar ist, um unser Leben irgendwie so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, koste es, was es wolle, und sagen auch Studien deutlich, dass kein Ernährungswissenschaftler überhaupt gesicherte Erkenntnisse hat. [4]

Es grassiert eine kollektive Hysterie, wie sie der Schweizer Kinderpsychologe Remo Largo eigentlich für die Kindererziehung beschrieb, aber wie sie mittlerweile auf alle Teilbereiche unseres Lebens zutrifft, denn auch wir Erwachsenen wollen nun hysterisch erzogen werden. Wir kasteien uns puritanisch und versuchen Schuld von uns abzuwenden – aber herrje, wo bleibt der Genuss an einem gutem Essen? An einem Glas Wein? An einem Schweinebraten? Am Flirten? Daran, die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen?

Im Neobiedermeier ruft der neue lustfeindliche Spießer, von der mühsamen Arbeit des ständigen Kontrollierens überfordert, nach immer mehr neuen Gesetzen, Regelungen und Verboten wie einstmals die Schwarz-Braunspießer, die falsch geparkte Autos anzeigten. Wie den Spießeropas geht’s dem Nachwuchs im Milieu nur vordergründig um die stets behauptete „Allgemeinheit“ – in Wahrheit ist es ungeheuer erfüllend, jeden auszugrenzen und auszuschließen, der nicht ganz genauso wie man selbst lebt. Also Leute, die gerne Autofahren, Dicke, Kirchgänger, Hauptschüler und (sollte es sie noch irgendwo geben) Atomkraftbefürworter.

Dabei gibt es einen Unterschied zwischen den alten und jungen Spießern. Sonnten sich die Großeltern gern in der Gewissheit, einer Mehrheit anzugehören, so betonen die Enkel stets ihre Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Ines-Maria, meine Nachbarin zum Beispiel, fühlt sich als zweifache Hetero-Mutter mit Partner einfach in der Minderheit der Familien und kämpft mutig gegen die mehrheitlichen Ignoranten des „Systems“ an, ohne ernsthaft auf die Idee zu kommen, mittlerweile zu einer Gruppe zu gehören, die eine Franz-Josef-Strauß-CSU-Mehrheit längst übertrumpfte. Und wenn es nicht zu einer Minderheit reicht, dann wird Diskriminierung entdeckt, wie wir Frauen und Schwule und die von Katzen gefressenen Vögel sie tagtäglich hautnah erleben.

„Verbiete auf Teufel komm raus!“

„Nein“, wenden Sie ein? Dann denken Sie doch mal nach, ob Sie nicht auch eine unterdrückte Minderheit für sich finden! Sind Sie vielleicht Linkshänder? Oder rothaarig? Oder gar liberal? Ach was, Ihnen fällt bestimmt etwas ein! Aber sagen Sie bitte nicht, Sie zählen noch zu den wenigen Leuten, die einen gesunden Menschverstand besitzen und sich erst einmal informieren und nachdenken!

Ihr gesunder Menschenverstand ist doch ... wie soll ich sagen ... so was von retro und out und nun wirklich komplett am Zeitgeist vorbeigeschmuggelt und eine wirkliche Minderheit! Sie halten ihn für die eigene Tochter, wie mich die Dame von der neurologischen Intensivstation, dabei täuschen Sie sich gewaltig über Ihren Verstand. Denn auch mit dem freien Willen ist das so eine Sache. Den haben wir doch längst zwischen Liebesliedern, Katzen und Mülltonnen verloren, denn wir wissen doch gar nicht, was wir tun, und brauchen deshalb neue Gesetze und Verbote um zu unserem wahren Selbst zu kommen! Wir Menschen sind egoistische Umweltzerstörer, von Grund auf böse und destruktiv und unserem Kopf ist einfach nicht zu trauen, siehe neurologische Intensivstation! Während wir glauben, einen Schweinebraten zu genießen, zerstören wir damit argentinische Landschaften mit nicht-biologischem Rindanbau und verstehen das bloß nicht! Während wir dem neuen Windrädertrend und der Verteuerung des „Öko-Stroms“ nicht zujubeln, verschließen wir doch bloß die Augen vor der ansonsten drohenden Energieapokalypse und wollen einfach unser Ablassgeld nicht bezahlen und vernichten nachhaltig unsere Kinder! Nein, wir wissen nicht, was wir tun, die einzigen, die noch klar bei Verstand sind und über alle parareligiösen Züge und perfiden Methoden erhaben sind, sind unsere grünen Freunde und Helfer, die womöglich dafür gesorgt haben, dass die Staatsorgane nun blau werden, damit man sie nicht mehr verwechselt.

Die Propheten in Grün sagen uns schon, was gut und böse ist, denn das sind Kategorien der neuen Zeit. Nicht mehr „sinnvoll“ oder „gut abgewogen“ sind die Bewertungskriterien, sondern „gut“ oder „böse“. Gut ist: Umweltschutz, Kinderschutz, Gesundheitsschutz (die ersten drei Gebote), gefolgt von Fahrradfahren, Wanderbäume begleiten, Katholiken-Bashing, Bio-Einkauf, Veggie-Days und Homöopathie. Nicht zu vergessen, das zehnte und wichtigste Gebot: Verbiete auf Teufel komm raus! Also: Verbiete auf Freiheit komm raus! Denn individuelle Freiheiten sind Teufelszeug, wo kämen wir auch hin, wenn jeder glaubte, er oder sie könne für sich selbst entscheiden oder gar besser wissen, was gut ist für sie oder ihn. Wir sind doch alle auf der kollektiven Neurologie der menschlichen Überheblichkeit! Nein, nein, der Teufel tarnt sich ganz geschickt wie immer schon, nur im neuen Gewand. Und diesen Teufel können nur die Grünen bannen, indem sie ihr Glaubensbekenntnis weiter in jede kleine Ritze der Gesellschaft tragen und unsere Freiheiten auf dem Altar der Nachhaltigkeit opfern.

Wer für eine bessere Welt, für Vernunft und die Aufklärung kämpft, wird sich nicht der Katzen oder Mülltonnen bedienen, sondern versuchen, mit Argumenten oder Satire auf den ganz normalen Wahnsinn dieser Gesellschaft aufmerksam zu machen. Bitte sagen Sie das nicht weiter, denn die Gesundheit mancher unserer grünen Helfer könnte daran ernsthaft Schaden nehmen und sie in der Neurologie landen lassen. Das wäre wirklich schade, denn die kranken Menschen dort, mit denen ich mich mittlerweile fast angefreundet habe, sind im Grunde alle doch auch sehr nett und haben nicht verdient, dass man sie grün umzingelt, um sie in den endgültigen Wahnsinn zu treiben.

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