04.06.2012

Alle zehn bis zwanzig Jahre ein Gau

Analyse von Heinz Horeis

Die Max-Planck-Gesellschaft gilt weltweit als exzellente Forschungseinrichtung. Veröffentlichungen aus den Instituten folgen in der Regel wissenschaftlichen Standards. Manchmal gibt es allerdings Ausrutscher. Kommentar über ein Papier zu den angeblichen Gefahren eines nuklearen GAUs.

Ein nuklearer GAU soll nach Studien der Mainzer Chemiker „im momentanen Kraftwerksbestand etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten können“. Er wäre damit 200 Mal wahrscheinlicher als Schätzungen der amerikanischen Zulassungskommission für Kernreaktoren (NRC) im Jahr 1990 ergeben haben. Die Einschätzung der NRC beruht auf recht komplexen Risikobetrachtungen; den Mainzern reicht eine einfache Rechnung, um die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze zu ermitteln: Sie teilten laut Presseerklärung die Laufzeit aller Kernreaktoren weltweit von der Inbetriebnahme des ersten zivilen Reaktors bis heute durch die Zahl der bisherigen Kernschmelzen. Also Laufzeit bislang 14.500 Jahre, Zahl der Kernschmelzen vier – eine in Tschernobyl und drei in Fukushima. Ergebnis, konservativ aufgerundet: alle 5000 Reaktorjahre ein schwerer nuklearer Unfall mit erheblicher Freisetzung von Radioaktivität. Das ergibt einen GAU alle 10 bis 20 Jahre.

Auf dieser einfachen Rechnung, die man sich gut im gymnasialen Leistungskurs Mathematik vorstellen kann, beruht die zentrale Aussage der Mainzer Studie über die Wahrscheinlichkeit von schweren Reaktorunfällen. Damit haben sich die Chemiker allerdings auf sehr dünnes Eis begeben. Die Zahlen stimmen, wie häufig in der Statistik. Aber gibt das, was die Autoren der Studie aus diesen Zahlen machen, auch die Wirklichkeit wieder?

Nein. Man kann zum Beispiel nicht einfach den Reaktorunfall von Tschernobyl mit dem der Fukushima-Reaktoren gleichsetzen. Im Tschernobyl-Reaktor ist der Reaktorkern praktisch explodiert, nicht geschmolzen. Eine Sicherheitshülle gab es nicht, so dass bei der Explosion große Mengen an radioaktivem Material freigesetzt wurden. Vor allem aber ist der Tschernobyl-Reaktor nicht repräsentativ für den vorhandenen Reaktorbestand. Um Aussagen über die Zukunft eben dieses Bestandes zu treffen, wie es die Mainzer tun, ist die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ungeeignet.

Bleiben die drei Kernschmelzen im Kraftwerk Fukushima 1. Gleicher Reaktortyp, gleiche Unfallursache, ähnlicher Verlauf – es spricht vieles dafür, diese drei Ereignisse als ein Ereignis zu behandeln. Dann wird die Mainzer Rechnung absurd. Außerdem sind auch die Fukushima-Reaktoren nur bedingt repräsentativ für den weltweiten Reaktorbestand. Ausgelöst wurde das schwere Unglück im japanischen Kraftwerk durch ein extrem starkes Erdbeben, gefolgt von einem extrem starken Tsunami. Das Erdbeben haben die Reaktoren überstanden; die Flutwelle deshalb nicht, weil die Anlage eklatante Sicherheitsmängel aufwies. Inzwischen haben Stresstests belegt, dass andere Reaktoren diese Mängel nicht haben. Den deutschen Reaktoren zum Beispiel hätten Erdbeben und Tsunami wie im Norden Japans keinen nennenswerten Schaden zugefügt.

Solche und andere Unterschiede zwischen Reaktoren ignorieren die Mainzer Forscher. Sie begründen dieses Vorgehen damit, dass es „auch in einem vermeintlich sicheren Reaktor zu einer Kernschmelze kommen kann“, weil man nicht alle möglichen Ursachen eines solchen Unfalls vorhersehen könne. Das ist zweifellos richtig, aber die Annahme von Nichtwissen macht schlecht begründete Vorhersagen nicht verlässlicher. An einer detaillierten Risikoanalyse führt kein Weg vorbei.

Alles zusammengenommen, können seriöse Wissenschaftlicher die Aussage „Ein GAU all zehn bis zwanzig Jahre“ guten Gewissens nicht treffen. Das sollte man Greenpeace und anderen überlassen.

Die Sache mit der „radioaktiven Verseuchung“

Im Abstract zu ihrem Artikel schreiben die Mainzer Chemiker zu Beginn: „Schwere Reaktorunfälle in Kernkraftwerken sind selten, aber ihre Folgen katastrophal. Aber was bedeutet ‚selten’“? Diese Frage haben sie beantwortet, allerdings ungenügend. Viel interessanter ist die Frage: Was bedeutet ‚katastrophal’? Auch hier machen es sich die Mainzer Chemiker leicht. Sie sehen als katastrophale Folge einer Kernschmelze eine „weit über Staatsgrenzen hinweg [reichende] radioaktive Verseuchung“. In Westeuropa wären davon, so das Ergebnis ihrer Computersimulationen, durchschnittlich 28 Millionen Menschen betroffen.

Mit diesem Computermodell ermitteln die Forscher, wie sich die bei einer angenommenen Kernschmelze freigesetzten radioaktiven Gase – in diesem Fall Cäsium-137 und Jod-131 – ausbreiten. Die Menge der freigesetzten Gase bestimmen die Mainzer Forscher anhand der Mengen, die beim Tschernobyl-Unglück freigesetzt wurden. Da radioaktives Jod aufgrund seiner geringen Halbwertszeit sehr schnell verschwindet, beschränkten sie sich auf die Verteilung von Cäsium-137. Ergebnis ihrer Simulation: Nur acht Prozent der radioaktiven Gase würden sich im Umkreis von 50 km um die Unglückstelle verteilen; über die Hälfte ginge innerhalb von 1.000 Kilometern nieder, und etwa ein Viertel würde weiter als 2.000 Kilometer transportiert.

Mit diesen Angaben haben die Mainzer vom Computer eine Reihe schöner Karten herstellen lassen. Darauf lässt sich das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung ablesen, wenn mal wieder eines der Kernkraftwerke in Europa oder anderswo havariert. „Im weltweiten Vergleich“, so fasste die Rheinzeitung am 23. Mai zusammen, „tragen die Einwohner im dicht besiedelten Südwestdeutschland das größte Risiko einer radioaktiven Verseuchung.“ Und der Zeitungsautor bemerkt ganz richtig, dass dieses Ergebnis Wasser auf die Mühlen der Atomkritiker sein dürfte, die im grenznahen französischen Atomkraftwerk Cattenom ein „gewaltiges Gefahrenpotential“ sähen.

Doch die schönen Computerkarten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Mainzer Forscher, wie schon bei der Vorhersage künftiger GAUs, auch hier auf brüchigem Eis bewegen. Allererster Kritikpunkt: Es geht nicht an, die vom Tschernobyl-Reaktor freigesetzten Strahlungsmengen als Richtschnur zu nehmen, um mögliche Freisetzungen anderer Reaktortypen zu berechnen. Unfallursachen und -verläufe sind nicht vergleichbar. Das ist keine theoretische Frage, sondern praktisch nachweisbar.

Bislang gab es vier Kernschmelzen in Reaktoren, die nicht vom Tschernobyl-Typ sind: drei im Kraftwerk Fukushima und eine im amerikanischen Kraftwerk Three Mile Island (TMI). Letztere haben die Mainzer in ihrer Rechnung nicht berücksichtigt, da dort nur minimale Strahlung freigesetzt wurde. Das kann man machen, wenn man ein wichtiges Argument ignorieren möchte: Im Gegensatz zum Tschernobyl-Reaktor sind Reaktoren wie man sie in den USA, Deutschland oder Frankreich findet, so ausgelegt, dass selbst im Fall einer Kernschmelze kein oder nur wenig radioaktives Material austreten kann. Das ist keine Theorie, sondern belegt durch den havarierten TMI-Rektor.

Aber in Fukushima, war es da nicht viel schlimmer? Ein berechtigter Einwand. Dort wurde große Mengen an radioaktivem Jod- und Cäsiumgas freigesetzt. Die Ursachen sind bekannt; bei richtiger Auslegung wäre das nicht passiert. Aber was dort real passierte, nicht theoretisch, nicht im Computer, ist dennoch weit von dem entfernt, was die Mainzer Forscher ihren Simulationen zugrundelegen. Nach Angaben der japanischen Aufsichtsbehörde NISA lag der Gesamtbetrag der Freisetzungen von Jod-131 und Cäsium-137 in der Größenordnung von etwa 10 Prozent der in Tschernobyl freigesetzten Menge. Eine jüngere Schätzung von TEPCO beläuft sich auf etwa 15 Prozent.

Diese – verglichen mit Tschernobyl – geringe Menge stammt nicht von einem, sondern drei havarierten Reaktoren. Niemand ist daran gestorben. Nach jüngst veröffentlichten Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Wissenschaftlichen Ausschuss der UNO zur Untersuchung der Auswirkungen von atomarer Strahlung (UNSCEAR) haben die meisten Bewohner von Fukushima und benachbarter Bezirke Strahlendosen unterhalb von unbedenklichen 10 Millisievert (mSv) erhalten. An zwei Orten lag diese zwischen 20 und 50 mSv. Zum Vergleich: Die natürliche Strahlenbelastung liegt meist um 2 bis 3 mSv, in etlichen Regionen von Brasilien, Südindien oder dem Iran ist diese um das 10- bis 20-fache höher, ohne gesundheitliche Beeinträchtigung der dort lebenden Bevölkerung. Fachleute gehen in inzwischen von so geringen möglichen Spätfolgen in Fukushima aus, dass diese nicht messbar sein werden.

Diese Werte gelten für die nähere Umgebung des Kraftwerks Fukushima. Von „radioaktiver Verseuchung“ im Umkreis von 1000 bis 2000 km, wie sie die Mainzer berechnet haben, ist in diesen Untersuchungen nicht die Rede. Vielleicht ist aber auch die Bezeichnung „Verseuchung“ fehl am Platz. Radioaktive Kontamination kann noch als wissenschaftliche Bezeichnung durchgehen, radioaktive Verseuchung nicht. Radioaktive Verseuchung ist negativ überladen, im Bewusstsein der Öffentlichkeit steht der Begriff für Krebs, Krankheit, Tod. Er macht Angst, treibt Menschen in die Apotheke, um Jodtabletten zu kaufen. Wer diese Bezeichnung benutzt, weiß um dessen Wirkung.

Das Perfide an der Mainzer Studie, vor allem daran, wie sie in der Presseerklärung der Öffentlichkeit präsentiert wird, ist, dass zwar ständig von „radioaktiver Verseuchung“ die Rede ist, aber nie davon, ob, und wenn ja, welche Folgen diese Verseuchung für die menschliche Gesundheit hätte. Die Mainzer berufen sich auf die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die ab einer Aktivität von 40.000 Becquerel pro Quadratmeter (40 kBq/m2) von radioaktiver Kontamination spricht.

Was bedeutet dieser Wert? Ein Becquerel bedeutet, dass pro Sekunde ein Atomkern zerfällt. Das wissen nicht viele Zeitungsleser; noch weniger wissen, was es für Folgen hat, wenn pro Sekunde 40.000 radioaktive Kerne zerfallen. Vielleicht hilft das: Rund 10.000 Bq beträgt die Aktivität im Körper des Menschen; pro Sekunde zerfallen also im menschlichen Zellgewebe zehntausend radioaktive Atomkerne – tagaus, tagein. Auf Stehplätzen in Fußballstadien drängen sich pro Quadratmeter oft vier, fünf Menschen. Noch dichter steht man in Tokios U-Bahn zu Stoßzeiten. Solche Zusammenballungen müssten also als „radioaktiv verseucht“ gelten.

Oder auch das: Eine Cäsiumaktivität von 40 kBq entspricht einer biologischen Strahlenbelastung von etwa einem mSv pro Jahr. Dieser Wert liegt deutlich sowohl unter der natürlichen Strahlendosis wie auch der Strahlenbelastung durch medizinische Anwendungen, denen der Mensch ausgesetzt ist. Welchen Wert hat, daran gemessen, die Aussage, dass im Falle eines Reaktorunfalls 28 Millionen Menschen von „gefährlicher radioaktiver Belastung“ bedroht seien? Der englische Physiker Wade Allison, der ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Radiation and Reason“ geschrieben hat, fand die Untersuchung der Mainzer Chemiker schlicht „seicht“. Einen wissenschaftlichen Nutzen hat die Studie nicht, wohl aber einen politisch-gesellschaftlichen: Sie macht Menschen unnötig und unbegründet Angst. Diese Art von „Kampagnenwissenschaft“ kennt man von Greenpeace und ähnlichen Organisationen.

Ähnliche Beweggründe mögen auch bei den Mainzer Chemikern eine Rolle gespielt haben. In der Presseerklärung wünscht sich Prof. Dr. Jos Lelieveld, der Leiter der Studie: „Vor dem Hintergrund unserer Erkenntnisse sollte meiner Meinung nach auch ein international koordinierter Ausstieg aus der Kernenergie in Betracht gezogen werden.“

Das allerdings gibt die Studie nun wirklich nicht her.

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