01.05.2002

„Akzeptiere mich, so wie ich bin!“

Essay von Frank Furedi

Wer das staatlich garantierte Recht auf Anerkennung fordert, ermuntert Menschen, sich als Opfer ihres eigenen Schicksals zu empfinden, meint Frank Furedi.

Die Welt ist heute durch den Verlust des Bedeutungsgewebes geprägt, über das Menschen sich darüber verständigen können, wer sie sind und in welcher Beziehung sie zu anderen stehen. Mangelnde Klarheit darüber, wer wir sind, gibt der Suche nach Anerkennung besondere Brisanz. Früher beantwortete sich diese Frage durch das Prisma einer gemeinsamen Kultur, geteilter Weltanschauungen, durch Religion oder politische Ideologie. Die Fähigkeit der Gesellschaft, die Frage, wer wir sind, zu beantworten, scheint demgegenüber heute geschwächt. Die Politisierung von Identitäten ist ein Symptom dieser Entwicklung. Die Verbreitung der Identitätspolitik und die Forderung nach Anerkennung haben großen Einfluss auf den politischen Diskurs und die politische Praxis gewonnen. Die Feministin Nancy Fraser ist überzeugt: „Anerkennungsfragen sind weniger eine Ergänzung oder Bereicherung des Verteilungskonflikts, sondern haben ihn marginalisiert und ersetzt.“ Dieser Trend wird generell als Teil einer umfassenden Wende von gesellschaftlichen zu kulturellen Fragen gewertet. Genauer betrachtet handelt es sich aber nicht um eine Hinwendung zur Kultur im Allgemeinen, sondern zu einer Kultur mit ausgeprägt therapeutischer Ausrichtung.Der therapeutische Imperativ hinter der Politik der Anerkennung wird oft durch den Umstand verdunkelt, dass die Diskussion zum Thema sich überwiegend auf Konflikte über kulturelle Identitäten konzentriert. Öffentlich wahrgenommen werden vorrangig die Kontroversen über Multikulturalismus, Rassismus und Kultur. Daher wird der Kampf um Anerkennung meist mit der Forderung nach Anerkennung kultureller Eigenheiten gleichgesetzt. So verknüpft der Philosoph Charles Taylor in seinem Essay The Politics of Recognition Anerkennungsforderungen mit der Politik des Multikulturalismus. Taylors eigene Beobachtung, dass die Forderung nach Anerkennung durch den „Wunsch nach Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung“ angetrieben werde, verweist indessen auf die ausgeprägte Selbstbezogenheit dieser Identitätssuche.

Seit dem Ende des Kalten Krieges werten viele die Politik der Anerkennung als aufgeklärte Alternative zu früheren Formen der Gerechtigkeitssuche. Eine ihrer Tugenden sei, dass sie das Individuum anerkenne, da sie auf die besonderen Eigenschaften ausgerichtet sei, die Menschen in ihrer persönlichen Eigenheit auszeichnen. Hinter dieser positiven Bewertung steht die unausgesprochene Prämisse, die Bestätigung des Selbst sei ein fundamentales Bedürfnis, dem die Gesellschaft sich stellen müsse. Francis Fukuyama geht zum Beispiel so weit zu sagen, die Suche nach Anerkennung sei „eine der Haupttriebkräfte des gesamten historischen Prozesses“.Es ist bezeichnend, dass Anhänger der Anerkennungspolitik sich weniger der breiteren philosophischen Dimension des Themas widmen als der engen Sphäre der Intersubjektivität. Dabei geht es um die Kernannahme, dass das Selbst erst durch Anerkennung aktualisiert wird. Einer der bedeutendsten Vertreter dieser These ist der deutsche Philosoph Axel Honneth. Mit Bezugnahme auf Donald Winnicotts Theorie der Objektbeziehung gelangt Honneth zu dem Schluss, psychische Deprivation sei die zentrale Ursache von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. In dieser Sicht beruht gesellschaftliche Ausgrenzung primär auf Erniedrigung und Scham, die durch mangelnde Anerkennung ausgelöst werden. Honneths Sorge gilt daher den psychischen Schäden, die Menschen durch eine Gesellschaft zugefügt würden, die es versäumt, die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl ihrer Mitglieder zu fördern: „Die Erfahrung sozialer Missachtung oder Erniedrigung gefährdet die Identität von Menschen genauso wie Krankheiten ihr physisches Wohlbefinden bedrohen.“

Dass zwischen dem Bedürfnis nach Anerkennung und der Identitätsbildung ein Zusammenhang besteht, ist unbestreitbar. Dieses Bedürfnis wird jedoch zunehmend als individueller Rechtsanspruch verstanden. Die Folge ist eine explosionsartige Zunahme an Anerkennungsforderungen. Dabei führt die Einforderung dieses Anspruchs zu einer Psychologisierung der Rechtsbeziehungen. „Die Überzeugung, dass Menschen nicht nur ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Anerkennung haben, sondern auch einen Rechtsanspruch auf dessen Verwirklichung, äußert sich in vielen Formen“, schreibt Hewitt, „am deutlichsten aber wohl in der weitverbreiteten Bitte: „Akzeptiere mich, so wie ich bin“. Die Forderung, geschätzt zu werden, verbindet die Identitätssuche bestimmter sozialer Gruppen mit Individuen auf der Suche nach Selbstverwirklichung. Die Identitätspolitik wird oft als Teil eines Kampfes gegen erlittenes Unrecht oder für die Anerkennung missachteter kultureller Lebensformen dargestellt. Diese Interpretation wird der Besonderheit heutiger Anerkennungsforderungen nicht wirklich gerecht. Ihre Stärke gewinnt die Forderung nach Anerkennung nämlich weniger aus vergangenem oder gegenwärtigem Unrecht als aus der schwindenden Fähigkeit formeller und informeller Institutionen, identitätsstützend zu wirken. Und aus eben diesem Grund waren öffentliche Institutionen wohl selten so geneigt wie heute, jedem, der danach verlangt, durch vielfältige Initiativen zum Thema „Inklusion“ Anerkennung zuteil werden zu lassen.

“Ihre Stärke gewinnt die Forderung nach Anerkennung aus der schwindenden Fähigkeit formeller und informeller Institutionen, identitätsstützend zu wirken”

Manche Theoretiker äußern sich besorgt über die inhärenten Probleme des Konzepts eines Rechts auf Wertschätzung. Francis Fukuyama stellt beispielsweise fest, dass die automatische Gewährung von Anerkennung moralische Entscheidungen darüber, was anerkannt zu werden verdient, behindere. Er schreibt, das Problem der Bewegung für Anerkennung sei, „dass ihre Anhänger selten bereit sind, Entscheidungen darüber zu treffen, was anerkannt werden soll“. Nancy Fraser meint, die Ansicht, „jeder habe den gleichen Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung“, mache „das Konzept Anerkennung bedeutungslos“. Das Problem ist indes folgendes: Wenn das Recht auf Anerkennung als Wesenszug einer gerechten Gesellschaft gilt, kann die Gewährung von Anerkennung nicht an Bedingungen geknüpft werden; sie erfolgt wahllos. In Großbritannien kam die therapeutische Politik in den achtziger Jahren unter Margaret Thatcher und John Major in Schwung. Viele Psychologen und Therapeuten wunderten sich über die plötzliche Nachfrage nach ihren Diensten unter einer konservativen Regierung. „Uns, die wir schon seit Jahren in der Beratung und Therapie tätig sind, erscheint es überraschend und ironisch zugleich, dass plötzlich Beratung und therapeutische Begleitung als Kernthemen sowohl in der vorberuflichen Bildung als auch in den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Jugendliche überaus gefragt sind“, schrieb schon 1984 ein begeistertes Mitglied der Therapieszene. Aber erst unter Tony Blair gewann der therapeutische Ansatz großen Einfluss auf die öffentliche Selbstdarstellung der Politik. Es ist eine der Grundprämissen der Politik der New Labour-Regierung, dass Kontakt mit den emotionalen Bedürfnissen der Menschen und politische Maßnahmen, die das Selbstwertgefühl stärken, von außerordentlicher politischer Bedeutung sind. Die Rhetorik der Blair-Regierung ist im therapeutischen Diskurs tief verankert. Konzepte wie „Dritter Weg“, „soziale Inklusion“ und „Ausgrenzung“ beziehen sich sehr explizit auf das Bestreben, emotionalen Bedürfnissen öffentliche Anerkennung zu verschaffen. So ist Ausgrenzung für Tony Blair weniger ein Problem materieller Benachteiligung als destruktiver Einflüsse, die „die Selbstachtung beeinträchtigen“. Dementsprechend geht es in fast jedem Projekt des „Social Exclusion Unit“ (SEU) der britischen Regierung darum, das Selbstwertgefühl der Beteiligten zu stärken.

Der therapeutische Stil der SEU beruht großenteils auf dem Ansatz von John Vasconcellos, Mitglied des US-Senats für das kalifornische Silicon Valley und einer der führenden Vertreter therapeutischer Politik. Für Vasconcellos ist Selbstachtung ein „sozialer Impfstoff“, der uns vor einer Vielzahl sozialer Übel schützt. „Unser künftiges wirtschaftliches und gesellschaftliches Wohl hängt davon ab, dass alle als gesunde, wachsende und verantwortliche Personen geschätzt und in unsere kalifornische Familie integriert werden“, schreibt Vasconcellos. In Großbritannien wird die Selbstverwirklichungspsychologie kalifornischer Prägung durch die Erbschaft des Sozialstaats modifiziert. Das Ergebnis ist eine Synthese, die manche ihrer Anhänger auch als „positive welfare“ bezeichnen. Für Anthony Giddens ist „Wohlfahrt… im Wesentlichen kein ökonomisches, sondern ein psychisches Konzept, denn worum es geht, ist das Wohlbefinden“. Folglich sollten soziale Einrichtungen sich um „psychische ebenso wie wirtschaftliche Zuwendung“ kümmern. Als Beispiel psychischer Zuwendung nennt Giddens die Bereitstellung von Therapien: „Psychische Beratung kann beispielsweise oft hilfreicher sein als direkte finanzielle Unterstützung.“ Diese Akzentverlagerung in Richtung Anerkennung des Individuums ist nicht nur eine Ergänzung der traditionellen Prioritäten sozialstaatlicher Politik, sondern der Versuch, neue Anknüpfungspunkte zu einer stark individualisierten und fragmentierten Bevölkerung zu finden. Diese Politik zielt auf die Herstellung von Kontakt mit der Öffentlichkeit durch die therapeutische Verwaltung sozialer Probleme. Besonders charakteristisch für diesen Ansatz ist die Bekundung von Anerkennung für das Selbst durch öffentliche Institutionen. Inklusion erfolgt über öffentliche Anerkennung bislang missachteter oder unsichtbarer Gruppen und Individuen. Damit einher geht das Postulat eines Rechts aller auf gesellschaftliche Achtung. Für Blair ist eine gute Gesellschaft durch den „Glauben an die Gleichwertigkeit aller“ definiert. Hier tritt das Konzept einer „Gleichheit der Wertschätzung“ der Individuen an die Stelle der traditionellen, kollektiv ausgerichteten Konzepte sozialer Gleichheit. Dieses Konzept hat mit früheren Anschauungen über Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit nur noch wenig zu tun. Auch die traditionelle moralphilosophische Unterscheidung zwischen Respekt und Wertschätzung ist hier aufgehoben. Denn laut Fraser wurde dort noch zwischen Respekt, der jeder Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit gebührt, und Wertschätzung unterschieden, die zwischen Personen aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften, Leistungen und Beiträge differenziert.

Das Konzept der sozialen Inklusion ist zwar vage und wird für eine ganze Reihe sozialer Probleme bemüht. Im Wesentlichen zielt es aber darauf ab, zwischen formalen Institutionen und Ausgegrenzten eine Reihe von Verbindungen herzustellen. Daher bedienen sich die verschiedensten Bereiche des Regierungsapparats immer wieder dieses Schlagwortes. In den letzten Jahren war der systematische Versuch zu beobachten, verschiedenste Initiativen in den Bereichen Sport, Kunst und Kultur unter dem Aspekt der Inklusion zu präsentieren. „Sport ist ein ideales Mittel zur Stärkung des Selbstwertgefühls und hilft Menschen, sich mit sich selbst wohler zu fühlen“, heißt es in einer Stellungnahme von „Sport Scotland“ zum Thema soziale Inklusion. Auch Bibliotheken und Museen werden von der Regierung angeregt, sich um die Stärkung des Selbstwertgefühls der Ausgegrenzten zu kümmern. Ebenfalls diesem Ansatz folgt nun auch die nordirische Regierung. Eines ihrer jüngsten Konsultationspapiere unterstrich die Notwendigkeit, „soziale Inklusion und die Stärkung der Selbstachtung durch Teilnahme an Kultur, Kunst und Freizeitaktivitäten“ zu fördern. Gerade die besonders öffentlichkeitswirksamen Initiativen der Blair-Regierung – etwa zum Thema Schwangerschaft bei Minderjährigen, Beschäftigungsförderung und Elternberatung – heben in erster Linie auf die Steigerung des Selbstwertgefühls ab. Beispielhaft für diesen Trend war der von der Regierung gesponserte „Body Image Summit“ im Juni 2000. Stellungnahmen der Regierung in den Monaten vor dieser Veranstaltung galten der vermeintlichen Gefährdung der Selbstachtung junger Mädchen durch das Schlankheitsideal. Die damalige Frauenministerin Tessa Jowell erklärte, junge Frauen würden „durch Mangel an Selbstvertrauen und Selbstachtung daran gehindert, ihre Wünsche und ihr Potenzial zu verwirklichen“. In diesem Jahr hat die Regierung wiederholt verlautbart, geringe Selbstachtung sei für eine ganze Reihe von Problemen verantwortlich, darunter Kinderprostitution, Obdachlosigkeit, minderjährige Mutterschaften, Drogenmissbrauch und viele Formen antisozialen oder destruktiven Verhaltens. Gesellschaftliche Probleme werden zunehmend als Folge von Psychopathologien betrachtet, die therapeutischer Behandlung bedürfen. Sogar das Finanzministerium folgt inzwischen diesem Ansatz. So erklärt ein Konsultationspapier der Treasury, Enterprise and Social Exclusion, regionale Entwicklungspolitik könne nur etwas bewirken, wenn sie dazu beitrage, „Talente und Selbstachtung der Menschen“ zu fördern. Ähnlich heißt es in einem anderen Papier, dass „wirtschaftliche Benachteiligung durch Förderung des Selbstwertgefühls der Armen“ zu überwinden sei.

“Anerkennung ohne Dialog und kritische Auseinandersetzung erbringt eine Form der Selbstbestätigung, die nur instabile und defensive Identitäten heranbilden kann”

Die Neuausrichtung der Politik auf das Individuum und dessen subjektive Empfindungen reflektiert eine breite geistige Strömung der Subjektivierung der westlichen politischen Ideologie. Sie fasst den Kampf des Individuums um Anerkennung als ein Politik und Gesellschaft prägendes transzendentales Bestreben. Charles Taylor, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Strömung, betrachtet Anerkennung als eines der vitalsten Bedürfnisse des Menschen und dessen Missachtung als unmittelbare Bedrohung demokratischer Gesellschaften. Die anglo-amerikanischen politischen Eliten sind der Forderung nach Anerkennung durch Übernahme der Identitäts- und Therapiepolitik inzwischen sehr weitgehend entgegengekommen. Peter Berger nahm das Ergebnis dieser Wende schon Anfang der siebziger Jahre in einem sehr interessanten Beitrag voraus. In „On the Obsolescence of the Concept of Honour“ schrieb er, der Begriff der Ehre habe dem der Würde Platz gemacht. Während Ehre sich auf die Gemeinschaft bezog, so Berger, beziehe sich das Konzept der Würde auf das „aller sozialen Normen und Rollen bare Selbst an sich“. Diese Neubestimmung impliziere eine „im Wesentlichen von institutionellen Rollen unabhängige“ Identität, und das Ergebnis dieser Wende sei eine „ erhebliche Schwächung der identitätsstiftenden Macht von Institutionen“.

Die Legitimitätskrise der Institutionen des westlichen Staats und der Aufstieg der Identitätspolitik bestätigen diese Diagnose. Aber vieles spricht dafür, dass die Ausrichtung auf das Primat der persönlichen Würde zumindest eine provisorische Lösung des Legitimitätsproblems bereithält. Durch Neuausrichtung des politischen Lebens auf die Verwaltung und Bestätigung individueller Subjektivität konnte der Staat seine Macht und Autorität, Identität zu prägen, bewahren. Obwohl Identität nun auf extrem individualisierter Grundlage gefasst wird, die Begriffen wie Gemeinschaft oder Kollektivität grundsätzlich zuwiderläuft, kann die politische Elite sich in diesem subjektivierten Rahmen als Verwalter emotionaler Ängste eine neue Rolle geben. Viele Kommentare zur Entwicklung der therapeutischen Kultur sehen sie als Ergebnis der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft. Als Beschreibung eines wichtigen kulturellen Trends ist dies sicher zutreffend. Nur lässt sich einwenden, dass das Konzept Individualismus die Entwicklung nur unzureichend kennzeichnet, da die heutige Forderung nach Anerkennung und Schätzung des Selbst von zutiefst anti-individualistischem Charakter ist. Das staatlich anerkannte Recht auf Schätzung des Individuums verträgt sich sehr gut mit bürokratischer Standardisierung der Individuen. Trotz ihrer Ausrichtung auf den Einzelnen führt die therapeutische Intervention im Leben der Menschen eher zur Normierung von Verhaltenserwartungen als zur Förderung selbstbestimmter Individualität.

Schon der Ruf nach Anerkennung impliziert die Vorstellung eines schwachen Selbst. Er bringt den Einzelnen in die Lage eines Bittstellers, dessen Identität von bürokratischer Anerkennung abhängt. Hier wird der Einzelne nicht durch eigene Aktivität und seine Beziehungen zu anderen bestätigt oder verwirklicht, sondern durch die Rechtsform. Wendy Brown beschreibt daher die „Sprache der Anerkennung“ nicht zu Unrecht als „Sprache der Unfreiheit“. Warum? Weil „sie danach strebt, vergangenen und aktuellen Schmerz im Gesetz und anderen politischen Institutionen zu verankern, statt eine Zukunft zu denken, durch die das Selbst sich neu schafft“. Autonomie, wohl der wirklich entscheidende Aspekt menschlicher Würde, wird hier gegen die Scheinlösung institutionell bestätigter Identität eingetauscht. Dennoch gilt die Politik der Anerkennung weithin als fortschrittliche Alternative zur traditionellen Kultur der Subordination und als Zeichen der Entstehung einer bewussteren Subjektivität. Scott Lash und John Urry sprechen von einer „Vertiefung des Selbst“. Viele Soziologen meinen, das Selbst sei heute reflexiver, bewusster und besser befähigt, komplexe Lebensentscheidungen zu treffen denn je. Diese positive Sicht verträgt sich aber nicht ganz mit der ausgeprägten Abhängigkeit des heutigen Selbst von Anerkennung und Bestätigung und erst recht nicht mit der Furcht vor dem Schaden, der nach herrschender Meinung mangelnde Anerkennung für das Individuum nach sich ziehen kann. „Nichtanerkennung oder Misserkennung können Schäden auslösen, können als Unterdrückung erlebt werden oder als Einkerkerung in einer falschen, verfälschten oder reduzierten Daseinsform“, warnt der Philosoph Charles Taylor. Die Gefährdung des Einzelnen ist ein Leitmotiv der Kultur der Anerkennung. Sie impliziert das Bild eines sehr verletzlichen, schwachen Selbst – ein Bild, das die Praxis der Politik der Anerkennung dann noch verstärkt.

Das Recht auf Anerkennung impliziert zudem, dass die subjektiven Aussagen von Menschen über ihre Befindlichkeit als gültig hinzunehmen sind. Das Postulat, subjektive Selbstdarstellungen seien nicht hinterfragbar, verstärkt und bestätigt den Trend zum moralischen Relativismus. Aber gerade das Fehlen einer gemeinsamen moralischen Grammatik sorgt dafür, dass Anerkennung immer nur oberflächlich und provisorisch sein kann. Anerkennung ohne Dialog und kritische Auseinandersetzung erbringt eine Form der Selbstbestätigung, die nur instabile und defensive Identitäten heranbilden kann. Daher handelt es sich hier ironischerweise doch um eine neue Kultur der Subordination – allerdings keiner Subordination gegenüber traditionellen Normen und Autoritäten, sondern gegenüber dem institutionellen Anerkenner und schließlich dem Therapeuten. Die Verletzbarkeit des Selbst ist eine der zentralen Prämissen der anglo-amerikanischen Ethnopsychologie. Und in dieser Perspektive bedeutet Anerkennung vor allem Anerkennung der Verwundbarkeit. Nicht zu Unrecht bezeichnet Kenneth Gergen die therapeutische Kultur daher als „Aufforderung zur Invalidität“. Die eigene Verletzbarkeit einzugestehen gewinnt hier den Status einer moralischen Aussage, die soziale und kulturelle Affirmation fordert. Diese Kultur fördert das, was Brown als „Erhebung des Leidens zum Maßstab sozialer Tugend“ beschreibt.

Die therapeutische Politik ermuntert Menschen, sich als Objekte statt als Subjekte ihres Schicksals zu empfinden. Wenn auch nicht bewusst, so doch implizit, läuft sie darauf hinaus, das Individuum mit einem Regime niedriger Erwartungen zu versöhnen. Einer der führenden Anhänger der therapeutischen Politik rät: „Einer der wichtigsten Beiträge des psychotherapeutischen Ansatzes zum politischen Leben könnte darin bestehen, Menschen zu helfen, mit der Unvermeidbarkeit von Enttäuschungen zurechtzukommen.“ Die therapeutische Politik stützt sich auf eine Kultur, die Menschen auffordert, ihre Erwartungen herunterzuschrauben und sich ein reduziertes Selbstbild zu eigen zu machen.

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