01.11.2006

Abwägungsspiele der inneren Sicherheit

Kommentar von Horst Meier

Über Videoüberwachung, Antiterrordatei und Kronzeugenregelung.

Die Welt der Risikogesellschaft, ein heilloses Chaos aus schwelenden Konflikten und verdeckten Gefahren, ist naturgemäß unübersichtlich. Es kommt also darauf an, klare Alternativen zu formulieren, die Dinge zu gewichten und dann möglichst vernünftig zu entscheiden. Unter Juristen heißt dieses Spiel „Abwägung“ und ist aus dem Verfassungsrecht, gerade bei der Interpretation der Grundrechte, gar nicht wegzudenken.

"Der wiederbelebte Kronzeuge ist so wenig nützlich wie der einst zu Grabe getragene."

Auch in der politischen Rhetorik sind Abwägungsfloskeln längst gang und gäbe. Jüngste Beispiele sind die uferlose Videoüberwachung von Bahnsteigen, Straßen und Plätzen oder auch die sogenannte Antiterrordatei, mit der man verspricht, die Datensammlungen von Polizei und Geheimdiensten effektiv zu vernetzen. Innenminister bevorzugen, nach ihrer Einschätzung gefragt, das Abwägungsspiel Nummer eins: Die Sicherheit und das Recht auf Privatheit sind hohe Güter, uns gleichermaßen lieb und teuer. Doch bei aller Freiheitsliebe, so mahnen sie, sollte man nicht vergessen, dass es beim Streben nach Sicherheit letztlich um das Leben der Bürger gehe. Diesem höchsten Gut müsse notfalls ein bisschen Privatheit geopfert werden. Totaler Datenschutz sei Täterschutz, behaupten sie. Innenminister votieren also, das sind sie ihrem Amt schuldig, im Zweifel für die Sicherheit.

Datenschützer hingegen warten mit dem Abwägungsspiel Nummer zwei auf: Recht auf Privatheit und Sicherheit sind hohe Güter, uns gleichermaßen lieb und teuer. Doch bei allem Sicherheitsbedürfnis, so mahnen sie, sollte man nicht vergessen, dass es beim Datenschutz letztlich um die Freiheit der Bürger gehe. Und diesem höchsten Gut müsse notfalls ein bisschen Sicherheit geopfert werden. Totale Sicherheit sei eine negative Utopie, sie führe in den Überwachungsstaat, behaupten sie (und haben gute Gründe dafür). Datenschützer votieren also, das sind sie ihrem Amt schuldig, im Zweifel für das Recht auf Privatheit.

Das Abwägungsspiel hat noch jeden ans Ziel gebracht. Freiheit in Sicherheit oder Sicherheit in Freiheit wollen alle irgendwie. Natürlich gilt das auch, drittes Beispiel, für die Kronzeugenregelung, deren Verlängerung im Rahmen der Antiterrorgesetze geplant ist. Hier wird mit den Stichworten „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ und dem Recht auf einen fairen Prozess jongliert. Und es ist klar, was dabei unter den Tisch fällt. Denn der Kronzeuge hat ein vitales Interesse daran, den eigenen Tatbeitrag zu bagatellisieren und vermeintliche oder wirkliche Komplizen wacker zu belasten: je größer die tätige Reue, desto großzügiger der Strafrabatt.

Die Karriere, die diese traurige Gestalt hinter sich hat, ist wendungsreich: 1989 im Kampf gegen die „organisierte Kriminalität“ in das Strafgesetzbuch eingeführt, wurde der Kronzeuge 1999 sang- und klanglos beerdigt: weil eine rot-grüne Mehrheit des Parlaments einsah, dass er mehr schadet als nützt. Doch nach dem 11. September 2001 erschien der zu Grabe Getragene als Widergänger der inneren Sicherheit.

Dass der Kronzeuge notorisch lügt und vom Staat dazu gleichsam angestiftet wird, räumen die Intelligenten seiner Befürworter ein: Mit den Kronzeugen, sagen sie schulterzuckend, verhält es sich so wie mit den V-Leuten des Verfassungsschutzes: Es seien eben nicht die charakterstärksten Persönlichkeiten, die bereit wären, Komplizen für Strafrabatt in die Pfanne zu hauen. Unappetitliche Gestalten, gewiss, aber leider unverzichtbar. Die Bilanz, die der Deutsche Anwaltsverein kürzlich aufgemacht hat, fällt dementsprechend aus: Der wiederbelebte Kronzeuge sei so wenig nützlich wie der einst zu Grabe getragene. Ja, er sei gefährlich, denn seine schädliche Neigung zu Falschaussagen beschwöre die Gefahr von Fehlurteilen herauf.

Was also tun mit dem Kronzeugen? Was tun mit der Videoüberwachung? Was mit der Antiterrordatei? Alles eine Frage der richtigen Abwägung, nicht wahr? Vielleicht sollte man das Abwägen nicht nur den anderen überlassen. Wenn man bloß wüsste, wie das zusammengeht: das eigene Sicherheitsbedürfnis mit der eigenen Freiheitsliebe. Ein Radikaler aus dem 18. Jahrhundert, Benjamin Franklin, hat es so formuliert: „Die, die bereit sind, wirkliche Freiheit aufzugeben, um vorübergehend ein bisschen Sicherheit zu gewinnen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“

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