01.09.2003

Abseits im Mittelkreis

Analyse von Bernd Herrmann

Bernd Herrmann hat das Stellungsspiel von Hans Magnus Enzensberger beobachtet und findet neben Licht auch zunehmend viel Schatten.

„Es gibt nicht viele Produkte des menschlichen Geistes, von denen sich sagen ließe, daß sie der Gesetze des Marktes spotten. Neben der Poesie genießt nur der Essay eine so enorme Immunität. Sich über ein derartiges Privileg zu beschweren wäre nicht nur undankbar, es wäre widersinnig.“ So Hans Magnus Enzensberger in seinem neuen Essayband Nomaden im Regal, der neben einigen neuen Essays Stücke aus den letzten 25 Jahren versammelt. Auch ein neuer Gedichtband Enzensbergers erschien dieses Jahr, Die Geschichte der Wolken. Wie abseitig sind Essay und Gedicht?

"Enzensberger gefällt sich in seiner angeblichen Nischenexistenz. Diese Koketterie ist ärgerlich, ist er nicht nur einer der wichtigsten deutschen Autoren, sondern auch der deutsche Intellektuelle."

Enzensberger mag Recht damit haben, dass im Ganzen Essay und Gedicht Randsportarten sind. Allerdings gelten je nach Fall andere Regeln. Branding spielt eine Rolle. Wenn über einem Essay „Enzensberger“ steht, dann erscheint der Text in Spiegel oder FAZ – nicht eben die obskursten, marktfernsten Publikationsorte. Und für eine Debatte in den Feuilletons sind seine Essays immer gut. Bei den Gedichten mag es eher zutreffen: Zwar werden auch diese, sind sie von Enzensberger, rezensiert. Ob sie viel gelesen werden? Ich glaube nicht.
Enzensberger gefällt sich in seiner angeblichen Nischenexistenz. Diese Koketterie ist ärgerlich, ist er nicht nur einer der wichtigsten deutschen Autoren, sondern auch der deutsche Intellektuelle. Sollte das eine Nische sein, eine abseitige Nische ist es nicht. Und Enzensberger verteidigt sie mit Bedacht. Seine Aufzählung bedeutender zeitgenössischer Essayisten – Chatwin, Naipaul, Lem, Wolfe, Calvino usw. – ist eine internationale hall of fame. Ein deutscher Autor wird nicht erwähnt, kein Rutschky, kein Goldt, kein Gernhardt. Vielleicht merkt Enzensberger, dass seine Zeit vorbei ist? In einem anderen Essay, „Über die Gutmütigkeit“, steht ein langes Zitat von Max Goldt. Und man fragt sich, wozu es Enzensbergers Text drumherum braucht, hat doch Goldt alles ganz genau und auch viel kürzer auf den Punkt gebracht.
Es lohnt sich, Enzensbergers Band zu lesen. Nicht nur ist er, geht die Eitelkeit nicht mit ihm durch, ein guter Stilist, er kann auch überzeugend und verständlich über sich und die Welt nachdenken – und manchmal hat er Humor: „Auch wenn die Gotteshäuser leer sind und die Bauernhäuser sich in Ferienwohnungen verwandeln, spricht manches für den Rat, die Kirche im Dorf zu lassen.“
Der besondere Vorzug des aktuellen Bändchens ist, dass man einen guten Überblick erhält – über Enzensbergers Themen und über den Weg, den er durch die nähere Vergangenheit genommen hat.

Gute Medien, schlechte Medien

Themenbereiche, zu denen Enzensberger sich immer wieder geäußert hat, sind die Medien und die Medienkritik, internationale Politik, Totalitarismus und Terror sowie das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Der Band Einzelheiten I (1962) versammelt Aufsätze vor allem zu den Medien, die über 40 Jahre nach der Niederschrift immer noch erhellend zu lesen sind. Auch spätere Stücke, wie die im vorliegenden Band wiederveröffentlichten „Lob des Analphabetentums“ (1985) und „Das Nullmedium oder warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind“ (1988), sind Grundtexte ihrer Art. In beiden hebt sich Enzensberger auf kluge und unaufgeregte Art ab vom gängigen, kulturpessimistischen Gejammer über den Untergang des Abendlandes durch Fernsehen und Bildungsmisere. Enzensberger entlarvt die Flachheit der Niedergangskritik als elitäres Geschmotz, das sich nicht um die Realität schert und, damit der aufgeklärte Schreiber sich umso besser im eigenen Glanze sonne, das Vorurteil weiterträgt von der dumpfen, breiten Masse, die von Vulgärmedien nach Belieben manipuliert werden kann. Auch in „Das digitale Evangelium“ (2000) finden sich Passagen wie die folgende: „Man hat oft den Eindruck, daß Journalisten bei ihrer Arbeit kaum einen Gedanken an ihre Leser wenden; worauf es ankommt, ist das Urteil ihrer Konkurrenten, einer winzigen Zielgruppe, von der aber ihre Karriere abhängt.“
Im zitierten Essay stößt Enzensberger aber auch an seine Grenzen. Seine Analyse des Internets krankt nicht nur daran, dass sie den New Economy-Hype zu ernst nimmt (kurz vor dem Crash eine vielleicht verzeihliche Fehlinterpretation), sondern vor allem daran, dass Enzensberger den Eindruck macht, als kenne er sich mit der Nutzung des Netzes nicht sonderlich aus.

Blick in die Welt, Blick in die Heimat

Zu weltpolitischen Themen finden sich in dem Sammelbändchen vor allem ältere Texte. Besonders lesenswert ist „Das höchste Stadium der Unterentwicklung“ (1982), ein Verriss des „Real Existierenden Sozialismus“. Durch das Verschwinden seines Themas ist der Aufsatz heute vor allem von historischem Interesse. Thematisch aktueller sind „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ (1978) und „Über die unaufhaltsame Verbesserung der Welt“ (2002). Im ersten Text heißt es, in einem Brief an einen Freund:
„’Die Kapitalisten sind ebenso wie die Sozialisten außerstande, die Zukunft zu verstehen, und sie sind ebenso verblüfft darüber, daß ihre Theoretiker und Propheten versagt haben.’ Hobsbawn hat recht: Das ideologische Defizit existiert auf beiden Seiten. Dennoch gleicht sich der Verlust an Zukunftsgewißheit nicht aus. Er ist für die Linke schwerer zu tragen als für diejenigen, die nie etwas anderes im Sinn hatten, als um jeden Preis einen Zipfel ihrer eigenen Macht und ihrer eigenen Privilegien festzuhalten. Aus diesem Grunde verlegt sich die Linke darauf, wie du, lieber Balthasar, zu klagen und zu schimpfen.“
Das ist, über zehn Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges, scharf beobachtet. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass auch die Eliten den Verlust an Visionen schlecht wegstecken können. Heute wird allgemein – links und rechts gibt es da nicht mehr – gejammert und gebibbert.
Auf diese allgemeine Katerstimmung ist der Essay „Über die unaufhaltsame Verbesserung der Welt“ eine zeitgemäße Antwort. Welternährung, Medizin oder auch so etwas wie Selbstverwirklichung, erinnert uns Enzensberger, sind sehr moderne Errungenschaften, und in vielen Bereichen geht es, man mag es kaum glauben, auch erheblich voran. Und er schließt: „Schade, daß wir das nicht zu schätzen wissen. Schade, daß auf jede Triumphmeldung wie das Amen in der Kirche der Satz folgt: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“

Der Wörtchenbeschleuniger

Immer wieder hat sich Enzensberger mit den Naturwissenschaften beschäftigt, mit dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften. Dass Enzensberger bemüht ist, die Kluft zwischen den zwei Reichen zu überbrücken, ist gut; was dabei herauskommt, taugt leider nicht viel. So wehrt er sich gegen die unter Geisteswissenschaftlern weit verbreitete Haltung, Naturwissenschaften zu ignorieren und erst gar nicht zu prüfen, ob sich bestimmte Erkenntnisse aus dem einen Reich der Wissenschaft produktiv in das andere übertragen lassen. Konkret kommen dabei zum Beispiel zur Frage der Überbevölkerung aber leider solche Plattheiten heraus wie: „Ihre Experimente [die der Verhaltensforscher] haben gezeigt, daß dort, wo Tiere zuwenig Platz haben, Gewaltausbrüche und psychische Störungen unvermeidlich sind.“ Das ist so überzeugend, wie wenn man behauptete: Da, wie man weiß, der Hexameter der deutschen Dichtung weniger angemessen ist als der griechischen, verläuft auch der Zerfall eines Atomkerns in Berlin anders als in Athen.

"Leider ist seit den 90er-Jahren bei Enzensberger eine Tendenz stark aufgekommen, alte Gewissheiten, deren Verschwinden er oft so gut beschrieben und analysiert hat, zu ersetzen durch feste Größen, durch Lehrsätze aus Mathematik oder Biologie."

Schlimmer noch sieht es mit Enzensbergers Ausflügen in sein Lieblingsgebiet, die Mathematik, aus. Ohne Sinn und Not wirft er immer einmal wieder mit mathematischen Ausdrücken um sich, um Gedankengänge, bei denen es ihm an Beobachtung und Gedanken gebricht, mit einem axiomatischen Satz zu versiegeln – zum Beispiel „das folge aus der Gauß’schen Normalverteilung“. Dergleichen ist nicht nur dumm, es ist kreuzeitel und ärgerlich. Leider ist seit den 90er-Jahren bei Enzensberger eine Tendenz stark aufgekommen, alte Gewissheiten, deren Verschwinden er oft so gut beschrieben und analysiert hat, zu ersetzen durch feste Größen, durch Lehrsätze aus Mathematik oder Biologie. Hier endet das Denken, und hier beginnt nicht die Physik, hier beginnt die Wunderwelt der Metaphysik.
Am Ende des Essays „Die Poesie der Wissenschaft“ (2001) schreibt Enzensberger: „Auf die Gefahr hin, manchen ‚harten’ Verteidiger des Status quo vor den Kopf zu stoßen, kann man die Behauptung riskieren, daß die avancierteste Wissenschaft zur zeitgenössischen Form des Mythos geworden ist.“
Hier gerinnen Enzensberger die Gedanken, nach großem Küchenzauber mit einem Aperçu von Weierstraß, einem Schuss Chaostheorie, einer Prise Risikotheorie zum platten Pfannkuchen. Für einen kurzen Moment, nachdem er einen Abschnitt lang über „dissipative Strukturen und nicht-lineare Logik“ usw. geschrieben hat, kommen ihm noch Zweifel: „Natürlich läßt sich das auch simpler ausdrücken. Man könnte behaupten, die Wissenschaft sei auf dem besten Wege, den Zufall wieder in seine alten metaphysischen Rechte einzusetzen. Allerdings wäre mit dem Rückfall in eine vorwissenschaftliche Begriffswelt nichts gewonnen.“ – Wirklich nicht? Vielleicht wäre gerade damit einiges gewonnen, vielleicht brächte gerade die verworfene Formulierung vom „Zufall“ das, worum es geht, besser auf den Punkt als mathematischer Angeberjargon.
Die Wissenschaft schlägt sich auch im Gedichtband Die Geschichte der Wolken unangenehm nieder. Im Gedicht „Schwäne“ wird, einem Satz von Popper folgend, die Induktion verworfen, weil der Sprecher auf einer Insel Hunderte von schwarzen Schwänen sah. Ah ja, vielen Dank auch. Ähnlich einfältig, ähnlich langweilig sind fast alle Gedichte, unter den 99 sind zwei gute. Zum Rest gibt es nicht viel zu sagen, nichts was freut, nichts was ärgert, keine Gedanken, keine Schönheit – es ist alles nur sehr langweilig. Lassen wir diese Lyrik in ihrer ganz kleinen Nische ruhig stehen.

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