05.12.2011

Kanonenbootpolitik mit technokratischem Antlitz

Essay von Bruno Waterfield

Europa am Scheideweg: Die EU-Technokraten versuchen verzweifelt, ihre überkommenen Institutionen zu retten. Deutschland artikuliert immer aggressiver seine Machtansprüche. Die Demokratie wird mehr und mehr ausgehöhlt. Der ökonomische Kollaps der Eurozone droht

Während viel Unsicherheit herrscht, wie mit der europäischen Schuldenkrise zu verfahren sei, ist eines sicher: Weder die Griechen, die Italiener oder irgendein ein anderes Land werden über die Spar- und Austeritätsmaßnahmen der Europäischen Union abstimmen können. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union tauscht man missliebige Regierungen aus. Sofern sie der „Stabilisierung“ im Weg stehen, ersetzt man sie durch ein „Technokraten“-Regime.

Als die griechische Regierung die Idee äußerte, sich gegen die EU-Orthodoxie zu stemmen, drohte eine Koalition aus Deutschland, Frankreich, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) kurzerhand damit, Griechenland in Chaos versinken zu lassen. Das Ergebnis war, dass Giorgos Papandreou, der damals noch amtierende griechische Premierminister, zum Rapport nach Cannes bestellt wurde, um dort zu hören, dass er zugunsten einer ungewählten Regierung der „nationalen Einheit“ abtreten solle.

Der Premierminister hatte dem seit Juni anhaltenden Druck widerstanden, die parlamentarische Demokratie durch eine Einheitsregierung zu ersetzen. Doch nach seiner Ankündigung, die Griechen über das neueste Rettungspaket abstimmen lassen zu wollen, wurde offenkundig, welches Spiel hinter den Kulissen wirklich gespielt wurde. Sogar nachdem er von seinem Plan abgelassen hatte, ein Referendum abhalten zu wollen, verlangten Frankreich, Deutschland und die EU seinen Abtritt, um Platz für eine „technokratische“ Regierung zu machen. Sonst, so etwa die Warnung von Jose Manuel Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, drohe Griechenland gewaltiges Ungemach: „Was wir verlangen, das ist eine Regierung der nationalen Einheit.“, sagte er. „Was ist denn die Alternative? Zahlungsausfall und ernste Schwierigkeiten, Löhne an die öffentlichen Bediensteten auszuzahlen, an die Schulen, an die Krankenhäuser. (…) Ich bin sicher, dass die Mehrheit des Landes so etwas nicht will.“

Dieses „Angebot“, das Papandreo nicht ablehnen konnte, war nichts anderes als eine Drohung. Papandreos Regierung stürzte aufgrund der bloßen Annahme, dass sonst die Beschlüsse der EU-Gipfel zur „Rettung“ der Eurozone zerredet würden. Die EU opfert demokratische Prozesse einer fragilen „Stabilität“, die zum Mantra der gegenwärtigen Krisenpolitik geworden ist. Das ist nicht neu. Schon seit den 1990er Jahren zeigten sich die europäischen Eliten immer wieder nervös, wenn Länder über ihre Beschlüsse abstimmen lassen wollten. Ganz zu Recht: Die Zustimmung des europäischen Demos erwies sich von Anfang an immer als sehr unsicher. Der Vertrag von Maastricht, welcher der Europäischen Union ihren Namen gab (und der auch die Grundlage für den Euro schuf) wurde nur sehr knapp in einem Referendum in Frankreich bestätigt. Die Dänen votierten dagegen. In Großbritannien zerbrach die Tory-Regierung John Majors fast an der Frage einer britischen Abstimmung – eine Debatte, die auch heute wieder aufflammt.

Im Jahre 2005 gab es Turbulenzen als die Holländer und Franzosen den Europäischen Verfassungsvertrag ablehnten: Das veranlasste die europäischen Regierungen einen Pakt zu schließen, der die EU quasi zu einer referendumsfreien Zone machte [1]. Nur noch den Iren war es erlaubt, über den Lissabonner Vertrag von 2007 abzustimmen, weil es die dortige Verfassung so vorsah. Als die Iren jedoch mit „Nein“ stimmten, drängte man sie schließlich zu einer „Zustimmung“ – mit der Warnung, sie würden sonst durch die sich vertiefende Wirtschaftskrise verschlungen werden. Ein Jahr später zwang die EU den Iren auch noch ein Sparprogramm auf, das weniger für Irland selbst als für die Zentralbanker in Frankfurt hilfreich war. Eine Maßnahme, die den Iren nicht entgangen ist [2].

Es lohnt, der Frage nachzugehen, wie die gegenwärtige Krise zustande kommen konnte und wie das Staatswesen der Europäischen Union und seine Institutionen die Krise weiter angeheizt haben. Zum ersten Mal seit den 1930er Jahren droht ein Kollaps der Finanzinstitutionen und - damit einhergehend - ein wirtschaftlicher Knall. All das fällt zusammen mit dem Wiederaufleben von Drohgebärden als politisches Mittel auf europäischer Ebene. Die Aufrechterhaltung der „Stabilität“ erscheint heute als Freibrief dafür, demokratische Prozesse immer weiter auszuhebeln.

Gefährliches Neuland und Nötigung

Mit der jetzigen Phase der Eurokrise betreten wir gefährliches Neuland: Die EU diskutiert offen über den Sturz (oder zumindest das Übergehen) von gewählten Regierungen. Das Element der Nötigung ist dabei in die Beziehungen der europäischen Staaten zurückgekehrt. Die gegenwärtige Krise wäre vielleicht noch vor zwei Jahren handhabbar gewesen – doch seitdem hat sie sich nur verschlimmert. Die konstitutionelle Verfasstheit der EU birgt destruktive Tendenzen in sich.

Die EU ist so strukturiert, dass ihre Institutionen immer weiter von demokratischen Prozessen abgeschirmt wurden. So konnte sie sich auch von ökonomischen Interessen isolieren – etwa der Energieerzeugung, der herstellenden Industrie sowie der Forschung und Entwicklung. Die EU hat sich als ein Mechanismus etabliert, der sich von öffentlicher Rechenschaftspflicht entbindet [3]. Sie ruht auf einer Struktur, die unfähig ist, mit den gegenwärtigen Herausforderungen einer wirklich ernsten Krise angemessen umzugehen.

Die Entwicklung der Institutionen der EU bzw. der Eurozone und die wachsende Unabhängigkeit der Zentralbankinstitutionen hat Europa an extrem engstirnige Konzepte der Wirtschaftspolitik gebunden. Man fixierte sich u.a. auf niedrige Zinsen und niedrige Defizite. Diese Entwicklung ist äußert undemokratisch, denn sie hat dazu geführt, dass wichtige Elemente der Fiskalpolitik (Ausgaben und Budgets) aus dem Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung ausgeklammert werden. Im Ergebnis führte dies zu absurden monetaristischen Dogmen und Glaubensgrundsätzen wie etwa die Regel, dass nationale Defizite nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschreiten sollen.

Die EZB und die nationalen Zentralbanken sind zu bedeutenden Spielern auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik geworden. Zugleich haben sich die Regierungen ihrer Verantwortung auf immer mehr Feldern der Ökonomie entledigt – und damit auch ihrer Rechenschaftspflicht vor den Bürgern Europas. Die staatliche Politik ist in zunehmendem Maße mit dem Finanzsektor verbunden und so wächst auch die fatale Abhängigkeit von Gläubigerinteressen, die den Entscheidungsspielraum immer weiter einschränken.

Von einer Bankenkrise zu einer Krise der Souveränität

Ein wichtiges Instrument der Krisenbewältigung, die Staatspleite, wird nicht in Betracht gezogen. Daran haben die Zentralbanken kein Interesse. 2009 waren Billionenwerte in Höhe von 39 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aller 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Form von Krediten und Garantien im europäischen Bankensystem gebunden. Sollte die Eurozone bei der Krisenbewältigung scheitern (und so sieht es leider aus), müsste dies zu erheblichen „Korrekturen“ führen. Die europäischen Wirtschaftsräume würden dann durch den Schock einer ungeregelten Zerstörung unproduktiver Wirtschaftsaktivitäten erschüttert werden, die einen wichtigen Teil der Wirtschaft ausmachen.

Ökonomen, vor allem in Deutschland oder im IWF, haben davor gewarnt, dass die Weigerung, geordnete Schuldenschnitte und sonstige Abschreibungen vorzunehmen, eine Risikospirale ausgelöst haben, die zu einem wachsenden Schuldenberg bei manchen Staaten geführt hat. Zu diesen Staaten zählen vor allem die hoch verschuldeten PIIGS (Portugal, Italien, Irland Griechenland und Spanien). Bei dem EU Gipfeltreffen im Oktober wurde eine Abschreibung von 50-Prozent für griechische Schulden, die bei europäischen Banken lagern, beschlossen. Damit sollten die Schulden Griechenlands bis zum Jahr 2020 auf 120 % des Bruttoinlandsprodukts herunter gebracht werden. Dieser Plan, der dazu dienen soll Griechenland vor dem Niedergang zu retten und das Land wieder wettbewerbsfähig zu machen ist aber wahrscheinlich nicht realistisch. Der Plan sieht ein jährliches Wirtschaftswachstum von 2% vor. Tatsächlich aber schrumpft Griechenlands Wirtschaft mit einem negativen Bruttoinlandsprodukt von 5,9% pro Jahr. Hinzu kommt, dass zumindest bis zur Verfassung dieses Textes, noch keine Vereinbarungen mit den Banken darüber getroffen worden waren, wie der freiwillige Schuldenschnitt gestaltet werden könne.

Das Unvermögen, in den sauren Apfel der Zahlungsunfähigkeit zu beißen, geht auf die „too big to fail“ Politik des Jahres 2008 zurück. Damals ging man davon aus, dass ein Zusammenbruch der Banken das ganze System ins Wanken hätte bringen können. Zahlungsunfähigkeit ist keine weiche Option, bietet aber die Möglichkeit einer planvollen Kapitalentwertung. Dies ist besser als ein unkontrollierter „crash“ oder ein Schock. Eine gesteuerte Zahlungsunfähigkeit – ob sie den privaten Investoren aufgezwungen wird oder mit diesen ausgehandelt wird – kann den Weg für neue Investitionen im privaten Sektor ebnen. Statt dessen werden zur Zeit Energien und Ressourcen verbraucht, um Banken zu stützen oder um mit Bürgschaften schmutzige Staatsanleihen zu retten.

Jetzt rächt es sich, dass die Verantwortlichen die Chance einer schmerzhaften, aber immerhin bereinigenden Staatsinsolvenz vertan haben. Die Unfähigkeit zu harten Entscheidungen führt zu immer höheren Kosten. Das erste Rettungspaket für Griechenland belief sich auf etwas mehr als 100 Milliarden Euro. Im Juli 2011 hat die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)? das Volumen des Euro-Rettungsschirms auf 440 Milliarden Euro erhöht. Im Oktober 2011 war es Konsens, dass 2 Billionen nötig seien um die Ansteckungsgefahr der Schuldenkrise zu bekämpfen. Die Vereinbarung vom 27. Oktober 2011, den Rettungsbetrag durch eine Hebelwirkung weiter auszuweiten, um italienische und spanische Staatsanleihen zu sichern, wurde von vielen Kommentatoren als Ausdruck dafür gewertet, dass die EU den Bezug zur wirtschaftlichen Realität verloren habe. Niemand geringeres als Jens Weidmann, der Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied der EZB, warnte vor einer solchen Hebelwirkung. Dadurch mache sich die EFSF weiterhin abhängig von dem hochriskanten Bankengeschäft, das die Probleme überhaupt erst habe entstehen lassen.

Bis zum Jahr 2015 soll 90% des weltweiten Wirtschaftswachstums außerhalb Europas stattfinden. Die Entwicklung der EU hat jedoch dazu geführt, dass die Antwort auf diese globalen Veränderungen engstirnige und destruktive Formen annimmt. Europa scheint viel zu eng mit eben den Institutionen verknüpft zu sein, die zur Entstehung der Krise beigetragen haben.

Wirklichkeitsferne EU und deutsche Blase

Das Nachkriegssystem der öffentlichen Verschuldung und der Finanzbeziehungen zwischen den Staaten, das seinen Ursprung im Abkommen von Bretton Woods und dem IWF hatte, wurde durch verschiedene Faktoren geschwächt. Hierzu zählen vor allem das schnelle Wachstum aufstrebender Schwellenländer wie China, die niedrigen Wachstumsraten in Europa und die plötzlich in die Höhe geschossene öffentliche Verschuldung. Statt sich jedoch diesen Herausforderungen zu stellen und vor allem dem Problem des stagnierenden Wachstums in den westlichen Ländern zu begegnen, versteckte sich die Elite Europas hinter billigen Krediten und verschärfte so die Krise.

Deutschland, das sich gerne als “Wirtschaftslokomotive” Europas bezeichnet, ist viel zu abhängig von der Eurozone als Absatzgebiet für seine Produkte. Die Käuferländer dagegen hängen am Tropf einer Kredit- und Vermögensblase, die bereits Spanien und Irland aufgesaugt hat und die die Probleme Griechenlands und Portugals zusätzlich verschärft hat. Deutsche, aber auch andere europäische Banken, nahmen das Geld aus dem Handelsüberschuss, das durch die Verkäufe an die „PIIGS“ (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) erzielt wurde und gaben es diesen Ländern in Form von billigen Krediten zurück.

Die Eurozone und die Politik der EZB, die darauf fixiert war, die Zinsen niedrig zu halten, ermöglichte es den schwächeren Ländern, billige Kredite aufzunehmen. Staatsanleihen konnten zu fast dem gleichen Zinssatz ausgegeben werden wie deutsche Staatsanleihen. So trug die exportorientierte Politik Deutschlands zur Entstehung der Kreditblase in den Ländern der europäischen Peripherie bei. Dank der eifrigen Unterstützung der Finanzmärkte schien sich dieses riesige Karussell zehn Jahre lang gut zu drehen – so lange, bis der Schock der Finanzkrise das Ganze als riesige Blase entlarvte.

Die Zerstörung, die diese zum Vorteil Nordeuropas zurechtgebastelte Einheitswährungszone verursacht hat, ist so stark, dass Griechenland unterdessen Olivenöl aus Deutschland importiert. Im September kauften Konsumenten in Griechenland von deutschen Anbietern Olivenöl im Wert von EUR 2 Millionen und das, obwohl ein Großteil dieses Öls aus dem Land selber stammte [4]. Die Rezession in Griechenland, die durch die EU-IWF Sparprogramme weiter verschärft wurde, hat zu noch größeren Ungleichheiten zwischen der deutschen und der griechischen Wirtschaft geführt.

Über 60% der deutschen Exporte gehen in andere EU Länder und der beeindruckende Handelsüberschuss Deutschlands wurde zu Lasten von Ländern wie Italien, Spanien und Griechenland erzielt. Einer Schätzung der Schweizer UBS zufolge, hätte ein Kollaps der Eurozone (oder das Ende des Euros) einen Produktionsrückgang in Deutschland von 20-25% zur Folge. Seit über zehn Jahren hat sich Deutschland, ähnlich wie andere europäische Staaten, hinter einer Kreditblase versteckt und es dadurch vermieden, die eigene Wirtschaft zu restrukturieren. Deutschland und andere Nationen wie z.B. die Niederlande hielten inländische Löhne niedrig und schufen einen kreditfinanzierten Absatzmarkt in den südlichen Ländern Europas. Gleichzeitig wurde der Euro durch die Politik der EZB so manipuliert, dass dessen Wechselkurs deutlich niedriger lag als es der Kurs der Deutschen Mark jemals gewesen wäre. Dies gab Deutschland, und anderen, einen zusätzlichen, künstlichen, Wettbewerbsvorteil.

Deutschland ist aber schon lange kein produktives Kraftzentrum mehr. Ein Staat, der zu enormen Kosten seine Atomkraftwerke abschaltet und sich in Zeiten der Krise von teueren Gasimporten abhängig macht, ohne dass dies zu nennenswertem Protest von Seiten der Industriekapitäne führt, befindet sich auf einem schlechten Weg. Frankreich hingegen ist in hohem Maße von billigen Staatanleihen abhängig und versucht, seine gute wirtschaftliche Reputation zu retten. Das AAA Rating Frankreichs ist zu einem wichtigen nationalen Interessen geworden und französische Banken sind eng in die südeuropäische Vermögenswerte-Blase verstrickt.

Eine aufgezwungene Fiskalunion?

In dem Maße, in dem die Eurozone es nicht schafft, der Krise Herr zu werden, steigt das Bestreben der europäischen Politik, externen Druck auszuüben und Länder zu zwingen, gegen ihre nationalen Interessen zu handeln. Dadurch wird die EU zu einem Instrument, durch das die stärkeren Länder die schwächeren bevormunden.

Viele, auch die britische Regierung, drängen als Antwort auf die gegenwärtige Krise darauf, innerhalb der Eurozone eine Fiskalunion zu bilden. Das ist falsch. Die Eurozone und die EU befindet sich auf dem Weg hin zu einer „Zwangsunion“. Eine von außen auferlegte Sparpolitik zwingt ehemals souveräne Staaten in die Knie. Länder wie Portugal, Griechenland oder Italien haben keine andere Wahl, als sich der in Brüssel, Berlin und Paris entworfenen Haushaltsdisziplin zu beugen. Das Ziel dieser Übung ist es, die oben beschriebene wirtschaftlich- irrationale Politik weiterhin aufrechtzuerhalten.

Die EU pflegt seit längerem einen bürokratischen Politikstil, bei dem viel hinter den Kulissen verhandelt wird. Jetzt werden Mechanismen entwickelt, die offen dazu dienen, den Europäern, koste es was es wolle, eine Ordnung aufzuzwingen. Ein kleiner Kreis von Funktionären entscheidet über das Schicksal der ärmeren Mitgliedsstaaten. Geheimdiplomatie und offenes Machtgehabe sind in Europa zurückgekehrt. Dies ist eine gefährliche Entwicklung. Während Deutschland „Haushaltsdisziplin“ einfordert, hat das riskante Spiel der Politik die EU Staaten polarisiert und für Spannungen gesorgt, wie es sie seit Gründung der Gemeinschaft nicht gegeben hat.

Europa als Deutschland

Angela Merkels strenge Rede vor dem Bundestag am 26. Oktober war weniger ein Ausdruck demokratischer Rechenschaftslegung, als vielmehr ein Beispiel puren Machtanspruchs. Hier erlebten wir eine Kanzlerin, die dem Rest Europas - Frankreich eingeschlossen – Regeln vorgab: „Die Welt schaut auf Europa und Deutschland. Sie schaut darauf, ob wir bereit und fähig sind, in der Stunde der schwersten Krise Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Verantwortung zu übernehmen“.

Die Worte der Kanzlerin richteten sich, nur wenige Stunden vor Beginn des Eurogipfels, an die Franzosen. Nicolas Sarkozy, der französische Präsident, drängt verzweifelt darauf, dass die EZB zur Stützung des Euros stärker in die Pflicht genommen wird. Ziel seiner Forderungen ist es, Banken, die in besonders hohem Maße von den griechischen, italienischen und spanischen Schulden abhängig sind, zu helfen (zum Beispiel durch den Ankauf von Staatsanleihen) und dadurch auch Frankreichs AAA Rating zu sichern.

Die Forderung, aus der EZB eine Art Rettungsanker für strauchelnde Banken zu machen (lender of last resort), stößt in Deutschland auf starken Widerstand. Hier wird das Schreckensgespenst der Stagflation (Stagnation und Inflation) der 1930er Jahre beschworen. Damals kollabierte die Wirtschaft, die Nazis kamen an die Macht und der Weg hin zum Zweiten Weltkrieg wurde geebnet. „Niemand sollte glauben, dass ein weiteres halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand in Europa selbstverständlich ist.“, warnte Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 26.10. Mit ihrem Machtwort gegen eine Ausweitung der Aufgaben der EZB (unterstützt durch den Bundestag) stellte sich die Kanzlerin als Verfechterin des Friedens in Europa dar. So deutlich war schon lange kein Machanspruch mehr in Europa formuliert worden. Präsident Sarkozy blieb nichts anderes übrig, als sich den Wünschen der Kanzlerin des Friedens zu fügen.

Ein Wettkampf um die EU

Sowohl für Deutschland als auch für Frankreich stellt die Eurozone eine wichtige Sphäre zur Ausübung ihres wirtschaftlichen und politischen Einflusses dar. Die derzeitigen Spannungen innerhalb der Eurozone sind mehr als nur ein vermeintlicher Rückfall in einen alten Status Quo, wie er vor Einführung des Euro existierte. Deutschland und Frankreich sind globale Mächte. Beide Nationen versuchen, ihren Machtanspruch innerhalb Europas durchzusetzen. In diesem Zusammenhang erhält die Auseinandersetzung um die Kontrolle der EU eine große Bedeutung. Großbritannien, das sich traditionell weniger nach Europa orientiert hat, steht bisher noch am Rande dieser Auseinandersetzungen. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass sich das Land ebenfalls einmischen wird, was die jetzigen Dynamik weiter destabilisieren wird.

Der Vertrag von Maastricht von 1992, der den Euro geschaffen hat, war auch der Vertrag zur deutschen Einheit. Großbritannien und Frankreich waren darauf aus, Deutschland durch das Euro-Arrangement auf lange Sicht zu neutralisieren und einzubinden. Die Bundesrepublik sollte eng an Frankreich und den Rest von Europa gebunden werden und die deutsche Staatsführung abhängig sein von der EU. Wenn Institutionen Bedingungen vorfinden, die ganz anders sind, als diejenigen zur Zeit ihrer Gründung, kann dies destabilisierend wirken. Vor allem, wenn diese Institutionen darauf bestehen, eine engstirnige, abgeschottete Politik zu verfolgen. Dieser Prozess ist umso gefährlicher wenn er, wie jetzt, eng verknüpft ist mit den Auseinandersetzungen zwischen globalen Mächten. Indem die Politik Deutschlands so eng an die EU gebunden wurde, haben Margaret Thatcher und Francois Mitterand möglicherweise ein neues Monster geschaffen, das dem des Vertrags von Versailles um nichts nachsteht.

Der besondere Charakter des deutschen Staates bedeutet, dass dieser enger mit den EU Institutionen und der EU-Politik verbunden ist, als jeder andere Staat. Für Deutschland würde ein Rückzug aus der EU einen tiefen politischen Schnitt bedeuten, der noch größere Veränderungen mit sich bringen würde als die Wiedervereinigung.

Ein Rückzug Deutschlands aus der EU?

Die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland werden zu einem wichtigen Bestandteil der jetzigen EU Krise. Grob gesprochen möchte Frankreich die EU zu einem Vehikel machen, mit dem es protektionistische Tendenzen stärken kann. Die EZB soll dabei den Euro verteidigen. Deutschland dagegen möchte an den vorhandenen vertraglichen Vereinbarungen festhalten. Einmal, weil dies Teil der deutschen Verfassung ist und zum anderen, weil es vom europäischen Binnenmarkt wirtschaftlich abhängig ist.

Manche Kommentatoren sagen ein Ausbrechen Deutschlands aus dem engen Verbund mit Frankreich voraus. Sie glauben, dass sich das Land andere Verbündete suchen könnte, die weniger unter Druck stehen und deren AAA-Rating nicht gefährdet ist. Zu diesen Ländern gehören Finnland, die Niederlande oder Dänemark. Dies verkennt jedoch, wie eng Deutschlands Anspruch, eine Weltmacht zu sein, durch Europa projiziert wird. Ein Ausbruch Deutschlands aus der EU käme zudem einem Akt der Aggression gleich. Frankreich würde sich gegen eine solche Entscheidung stemmen. Der einheitliche EU- Markt würde aufhören zu existieren und die deutsche Wirtschaft wäre stark beeinträchtigt.

Hatten die Euroskeptiker recht?

Die jüngsten Entwicklungen in der Eurozone haben den britischen Euroskeptikern neuen Aufschwung gegeben. Diese sehen sich, in Hinblick auf die wackligen Grundlagen der einheitlichen Währung, bestätigt. Aber viele Skeptiker vergessen, dass sie die Bindung eines vereinigten Deutschlands an die EU und den Euro unterstützt haben. Auch hört man von ihnen kein kritisches Wort zum Aufstieg „unabhängiger“ Zentralbanker, wie etwa dem Leiter der Bank of England, Mervyn King, die in der Krise eine führende Rolle gespielt haben.

Auch hinterfragen die eher dem rechten Lager zuzuordnenden Euroskeptiker die Dominanz des Finanzsektors nicht und sie äußern sich nicht zu der Verankerung monetaristischer Vorgaben – weder in Hinblick auf Großbritannien noch im internationalen Maßstab. Sie haben nur wenige Antworten auf die Frage, wie Europa den wirtschaftlichen Abstieg verhindern kann - was die eigentliche Ursache dieser Krise ist. Ihr Glaube, Großbritannien sei allein deswegen sicher, weil es das Pfund Sterling entwerten kann, ist viel zu kurz gedacht. Wie die Geschehnisse gezeigt haben, ist Entwertung zwar ein notwendiges, aber eben auch ein unzureichendes ökonomisches Mittel.

Auch die britische Regierung teilt die Vorstellung, dass mehr „Haushaltsdisziplin“ die Antwort sei und sie hat ihrerseits Institutionen geschaffen, die mit gehöriger, aber wenig demokratisch legitimierter Macht ausgestattet sind. Die Vorstellung, dass die Eurozone gescheitert sei, weil man es versäumt habe, auf die Einhaltung von Regeln zu achten, ist einer der ungeheuerlichsten Mythen des europäischen Establishments. Viele Euroskeptiker teilen diese Meinung, ebenso wie das misanthropische Vorurteil, dass die südländischen Griechen und Italienern nicht mit Geld umgehen können und sie sich deshalb dem Kommando der sparsamen und produktiven Deutschen oder Niederländer zu fügen haben.

Eine neue europäische Ordnung

Vor einem Monat haben die Niederländer, ziemlich sicher mit deutscher Zustimmung, ein System der „Vormundschaft“ für Fiskalsünder wie Griechenland vorgeschlagen. Ihnen soll die „Fürsorge“ der EU-EZB in stärkerem Maße zuteil werden. Länder, die diese Fürsorge ablehnen, würden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Griechenland wurde ja mit diesem Szenario offen gedroht, nachdem es undankbarer Weise angekündigt hatte, ein Referendum abhalten zu wollen.

In einer Reihe von wichtigen Artikeln hat Leigh Phillips vom EUobserver dargelegt, wie die Krise dazu beigetragen hat, dass nationale Regierungen -  unabhängig davon, ob sie gegen Austeritätspolitik eingetreten sind oder für Rettungsaktionen zahlen müssen -  sich immer mehr von den Wählern entfernt haben, um ein neues europäisches System von Experten zu etablieren. „Dies ist nicht durch einen Putsch oder einen Staatsstreich geschehen und schon gar nicht mit Waffen oder Panzern. Es gibt keine Obersten oder Partisanen, die Garnisonen in Beschlag nehmen und die Telefonzentralen überwachen“, schrieb er. „Es hat sich aber dennoch eine Art Junta installiert, eine Junta von ‚Experten’ und Technokraten, eine Junta derer, die im Wissen von Was getan werden muss erzogen wurden.“. [5]

Der Umgang mit der ökonomischen Realität erfordert echte politische Führerschaft. Es geht darum, sowohl gegenüber den Eliten als auch der Öffentlichkeit klare Vorgaben zu machen, wie Restrukturierungsmaßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene aussehen könnten, um die Produktivität anzukurbeln. Dies wird von den EU-Staaten nicht geleistet. Stattdessen sind sie damit beschäftigt, überkommene Routinen und abgehobene Institutionen aufrechtzuerhalten. Die EU wird immer mehr zu einem bloßen Werkzeug von Dominanz. Da sie nicht in der Lage ist, die neuen ökonomischen und politischen Realitäten in den Griff zu bekommen, widersetzt sie sich ihnen mit allen Mitteln der Staatskunst.

Für ein angebliches Friedensprojekt hat die EU jetzt eine ziemlich hässliche Fratze angenommen. Europäische Belange werden wieder einmal von geheimer Gipfeldiplomatie und Machtspielen dominiert. Dabei geht es explizit darum, die Durchsetzung einer auf Ungleichheit zwischen den Staaten basierenden Ordnung durch Zwang sicherzustellen.

„Wir sind keine Kinder“

Im Schnee vor der Dubliner Hauptpost im November 2010 wendet sich der irische Intellektuelle und Kommentator Fintan O’Toole an eine Menge von 50.000 Menschen, die gegen die von EU und IWF auferlegte Austeritätsmaßnahmen demonstrierten. In seiner Rede macht O’Toole einen wichtigen Punkt.

Er argumentiert, dass die Leute darauf vorbereitet wurden, Opfer zu bringen und diese in der Tat jeden Tag aufbringen, um für ihre Familien und Kinder zu sorgen und um ihre Kommunen aufzubauen. Während sie bereit seien, für die Sanierung der irischen Wirtschaft zu arbeiten, seien sie aber nicht bereit, auf dem Altar von undemokratischen Institutionen geopfert zu werden: „Wir können aus dieser Krise mit einem erneuerten Solidaritäts- und Gerechtigkeitssinn herausgehen und mit einer kräftigen Demokratie, in der die Macht zu den Menschen zurückgekehrt ist“, sagte O’Toole. „Wir sind heute hier, um zu sagen, dass wir keine ökonomischen Einheiten sind, deren einzige Funktion darin besteht, sich anständig zu benehmen… Wir sind keine Kinder, die ihre Medizin nehmen oder ohne Abendbrot ins Bett geschickt werden müssen… Wir sind Bürger. Und wir wollen unsere Republik zurück.“ [6]

Die Vertreibung der Öffentlichkeit aus den EU-Entscheidungsprozessen und -Institutionen hat die wirtschaftliche Situation mehr verschärft als es sein müsste. Die EU und die Institutionen der Eurozone haben aufgehört, die Leute überzeugen zu wollen und setzen stattdessen auf Zwang, um ihre Politik durchzusetzen. Ohne echte demokratische Streitkultur oder den Wettbewerb gegensätzlicher ökonomischen Interessen kann sich keine Alternative zu der außer Kontrolle geratenen Abfolge bürokratischen Flickwerks entwickeln, das Europa aktuell an den Rand des Abgrunds drängt.

Unterstützeraufrufe für Referenden, egal ob sie Notverkäufe (Bailouts), Austeritätspolitik oder die EU-Mitgliedschaft - ob in Griechenland, Deutschland oder anderswo - zum Thema haben, könnten helfen, politische Prozesse in Gang zu setzen, die den destruktiven Kreislauf aufhalten, zu dem die EU degeneriert ist. Um gescheiterte Institutionen künstlich am Leben zu erhalten drohen Europäische Union und Euro, die Weltwirtschaft und ganze Völker an den Abgrund zu manövieren. Demokratie mag in der Welt von Euro-Gipfeln und Zentralbankern als störend empfunden werden, aber sie ist Europas einzige Chance

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