01.03.2000

Diagnose des Problems

Analyse von Frank Furedi

Nicht Ärzte oder Experten, sondern Paare sind am besten geeignet, darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind mit einer Erbkrankheit zur Welt bringen sollen.

Die Präimplantationsdiagnostik (PID) kann viel zur Vermeidung genetischer Erkrankungen beitragen. Die Technik wurde vor einem Jahrzehnt entwickelt, um es Menschen mit erhöhtem Risiko für die Vererbung genetischer Erkrankungen zu ermöglichen, gesunde Kinder zu bekommen.
Es handelt sich um einen zweistufigen Prozess, bei dem man zunächst Embryos durch In-Vitro-Fertilisation gewinnt und diese dann auf bestimmte genetische Defekte hin testet oder das Geschlecht bestimmt (falls der zu überprüfende Defekt nur bei einem Geschlecht vorkommen kann). Embryos, bei denen kein Defekt festgestellt wird, werden in die Gebärmutter übertragen, in der Hoffnung, dass sie sich einnisten und eine normale Schwangerschaft folgt.
Die PID garantiert keine gesunden Kinder. Sie hat keine 100-prozentige Erfolgsquote, und natürlich können beim Kind auch noch andere Defekte vorhanden sein als die, die überprüft wurden. Ebenso wenig schützt PID vor den Komplikationen, die während Schwangerschaft und Geburt auftreten und zu Behinderungen führen können. Doch die PID ermöglicht es ganz bestimmten Paaren, die Träger von Krankheitsgenen sind, eine Schwangerschaft zu beginnen, bei der die Chancen auf ein gesundes Kind ebenso hoch sind wie bei nicht vorbelasteten Eltern – und das ist doch eine höchst erfreuliche Sache.

Als es noch keine PID gab, war das Kinderkriegen für Menschen, die Gene für die Mukoviszidose, die Huntingtonsche Krankheit, die Muskeldystrophie nach Duchenne oder andere schwere Erbkrankheiten trugen, eine weit kompliziertere Angelegenheit. Viele entschieden sich wegen des hohen Risikos dafür, gar keine Kinder zu bekommen. Andere nahmen das Risiko in Kauf, gingen Schwangerschaften ein, um sie nicht selten im fünften Monat abzubrechen, nachdem mit herkömmlicher Diagnostik die Krankheit beim Fötus festgestellt wurde. Diese – oft wiederholten – Schwangerschaften auf Probe waren für die Eltern sehr belastend. In manchen Ländern, etwa in Deutschland, werden Betroffene aufgrund der restriktiven Gesetzgebung aber noch immer dazu gezwungen.


Es mag verwundern, dass eine medizinische Maßnahme mit so klaren Vorteilen nun auch in Großbritannien unter moralischen Beschuss gerät. Aufgrund der zunehmenden Debatten um den möglichen Missbrauch von Technologien im Bereich der Humangenetik führt die Britische Aufsichtsbehörde ”Human Fertilisation and Embryology Authority” (HFEA) nun eine öffentliche Anhörung durch, um die Einstellungen der Bevölkerung zur PID zu ermitteln. Insbesondere geht es um die Frage, ob es Anwendungen der PID gibt, die grundsätzlich verboten werden oder die nur unter bestimmten Bedingungen zulässig sein sollten. Im Rahmen dieser Anhörung werden sich unvermeidlich jene zu Wort melden, die alles verbieten wollen, was ihrer Meinung nach unnatürlich ist und gewiss auch die wachsende Gruppe derer, die einzelne oder alle Formen der Pränataldiagnostik als Akte einer neuen Eugenik bezeichnen. Deshalb sollten jene von uns, die die neuen Methoden unbedingt begrüßen, ebenfalls Stellung beziehen. Wir stellen im Folgenden Argumente vor, die in der Diskussion nicht fehlen sollten.

Das Dokument, das die HFEA als Diskussionsgrundlage vorgelegt hat, ist, wie meist, informativ und ausgewogen. Viele Fragen werden angesprochen, viele Aspekte beleuchtet – doch was bedenklich stimmt, ist die unausgesprochene Grundannahme, es bedürfe einer Regulierung der PID. Das Hauptziel des Dokuments scheint zu sein, zwischen legitimen und nicht legitimen Anwendungen der Technik zu unterscheiden. Es versucht zu definieren, in welchen Fällen ein Missbrauch zu konstatieren sei und wie solcher vermieden werden könne. Es geht beispielsweise um die Frage, wer Zugang zu PID hat und ob eine Definition erforderlich ist, die festlegt, welche genetischen Abweichungen schwer wiegend genug sind, um eine Anwendung der PID zu rechtfertigen – die Wahl des Geschlechtes mit nicht-medizinischer Begründung ist bereits verboten.
Es wird gefragt, ob ein Aussortieren von Embryos gestattet sein darf, die zwar Träger eines defekten Gens sind, aber selbst von der Erkrankung nicht betroffen, ebenso ob Krankheiten, die erst später im Leben zum Ausbruch kommen, für die PID in Betracht kommen dürfen. Bereits zu Kontroversen hat der hypothetische Fall geführt, in dem Eltern absichtlich einen Embryo mit Defekt auswählen und damit ihrem Kind eine schwere Krankheit oder Behinderung zumuten. Soll solches je passieren dürfen?
Jede der Fragen, die das Papier anspricht, dürfte für endlose Diskussion in Seminaren über medizinische Ethik genügen. Doch wir sollten bei all den Gedankenexperimenten nicht vergessen, dass das irgend Erdenkliche die Grenzen des Wahrscheinlichen weit überschreitet und für die Realität letztlich von geringem Belang ist.

Die häufig von Behindertenaktivisten vertretene These, die Präimplantationsdiagnostik degradiere Menschen, die von einer Erbkrankheit betroffen sind, lehnen wir grundsätzlich ab

Die PID ist eine technische Dienstleistung, die für einen kleinen Kreis von Familien, der sie in Anspruch nimmt, von sehr großer Bedeutung ist. Es wäre tragisch, wenn hypothetische Missbrauchsszenarien in der öffentlichen Diskussion die Überhand gewännen. Daher plädieren wir für die folgenden Grundsätze: Fortschritte im Bereich der PID sind eindeutig positiv sowohl für Einzelne als auch für die Gesellschaft. Die meisten Menschen wollen die besten Chancen für gesunde Kinder, und für solche, die ein erhöhtes Risiko für Erbkrankheiten haben, ist die PID eine großartige Möglichkeit, sich von großen Ängsten und Belastungen bei der Familienplanung zu befreien. Eine Regulierung der PID sollte vom Grundsatz her liberal und nicht restriktiv sein. Sie sollte sich darauf konzentrieren, Paare vor Geschäftemachern im Bereich der Reproduktionsmedizin zu schützen und sicherzustellen, dass höchste medizinische Standards zur Anwendung kommen. Es erscheint bizarr, darüber nachzudenken, ob man den Zugang zu Angeboten beschränken müsse, die eine erhebliche körperliche und finanzielle Belastung mit sich bringen. Eine In-Vitro-Fertilisation ist eine aufwendige und oft langwierige medizinische Prozedur, die wohl kaum leichtfertig und ohne guten Grund in Anspruch genommen wird.


Eine gesetzliche Vorgabe, bei welchen genetischen Defekten PID erlaubt und bei welchen untersagt sein soll, ist abzulehnen. Die Entscheidung muss allein bei den Eltern liegen, die das betroffene Kind zur Welt zu bringen und aufzuziehen beabsichtigen. Professionelle Ethiker und Ärzte mögen für sich selbst zu wohl bedachten und gut überlegten Urteilen kommen, doch am Ende des Tages gehen sie nach Hause zu ihren eigenen Familien, während das Paar, dem sie eine Untersuchung erlaubt oder verboten haben, den Rest des Lebens mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben muss. Wie man bei der jeweils gegebenen genetischen Situation der Eltern vorgehen will, soll von diesen selbst nach eingehender Erörterung mit den sie unmittelbar beratenden Ärzten entschieden werden.
Niemand kann die ganz spezielle Situation betroffener Paare, die Bedeutung der einen oder anderen Entscheidung für diese und ihre Familien besser beurteilen als sie selbst. Sie brauchen keine ”Ethikexperten”, die ihnen sagen, wie sie zu denken haben. Menschen sind grundsätzlich gut dafür gerüstet, auch schwere Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, rational und bewusst zu treffen. Manchmal mögen sie zu einem Urteil kommen, das dem mainstream der öffentlichen Meinung zuwiderläuft. Es mag sogar vorkommen, dass man als Beobachter moralisch entrüstet ist über die Art und Weise, wie Einzelne von den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Gebrauch machen. Die meisten von uns wären gewiss entsetzt, sollte ein Paar sich bewusst und absichtlich gegen ein gesundes und für ein zum Beispiel taubes Kind entscheiden. Aber die meisten von uns würden auch entschieden ein Gesetz ablehnen, das es behinderten Paaren verböte, Kinder zu bekommen, auch wenn sie die Behinderung notwendig vererben. Und wir würden ebenso eine staatlich verordnete Pränataldiagnostik oder eine gesetzliche Pflicht zur Abtreibung bei diagnostiziertem genetischen Defekt ablehnen.
Unser Plädoyer gilt der freien und unabhängigen Entscheidung jedes Einzelnen über die Inanspruchnahme von Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik ohne gesetzliche Restriktion.
 

Zukunft der Reproduktionsmedizin in Deutschland Das Bundesministerium für Gesundheit veranstaltet vom 24.-26. Mai 2000 in Berlin ein Symposium zu den aktuellen medizinischen, ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen der Fortpflanzungsmedizin und der damit in Zusammenhang stehenden Fragen des Embryonenschutzes. Die Veranstaltung soll der Vorbereitung der Entscheidungsfindung dienen, ob und inwieweit die Bundesregierung (federführend ist hier das Bundesministerium für Gesundheit) von der seit 1994 bestehenden Gesetzgebungskompetenz zu Regelungen auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin Gebrauch machen und dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf darüber zuleiten soll. Die Veranstaltung ist öffentlich. Programm und Anmeldeunterlagen finden sich unter: http://www.bmgesundheit.de/vorhaben/fpm/fragen/ein.htm



Die häufig von Behindertenaktivisten vertretene These, die PID degradiere Menschen, die von einer Erbkrankheit betroffen sind, lehnen wir grundsätzlich ab. Die Entscheidungen, die Menschen hinsichtlich ihrer eigenen Fortpflanzung und ihrer Familie treffen, beinhalten kein Urteil über andere. Paare, die selbst keine Kinder haben wollen, sagen damit nicht aus, dass sie generell etwas gegen Kinder oder Menschen haben. Ebenso wenig wollen Eltern mit nur einem Kind damit nicht ihre Ablehnung großer Familien zum Ausdruck bringen. Menschen, die versuchen, möglichst gesunde Kinder zu bekommen, diskriminieren dadurch nicht Behinderte – ebenso wie Eltern, die ein behindertes Kind zur Welt bringen, nicht die Gesunden zu diskriminieren beabsichtigen. Alle tun es, weil sie davon überzeugt sind, für sich selbst die richtige Entscheidung zu treffen.

Oberstes Prinzip in der Diskussion um die neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin sollte das Recht auf die freie individuelle Entscheidung sein, das überall dort gilt, wo dadurch nicht die Rechte anderer verletzt werden.
Diejenigen, die darüber entscheiden, ob Richtlinien und Gesetze zur PID verabschiedet werden, sollten sehr genau darauf achten, in welchen Fragen tatsächlich eine Regulierung erforderlich ist und in welchen nur deshalb Regulierung gefordert wird, weil manche glauben, dass es unangemessen sei, solch bedeutsame Gebiete nicht zu regulieren. In der PID geht es um die Erschaffung neuen Lebens – aber genau darum geht es auch, wenn wir uns überlegen, wann und mit wem wir Kinder haben wollen. Es ist zu hoffen, dass von der HFEA nie verlangt wird, auch hierfür ein Gesetzeswerk zu verabschieden.

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