01.11.2003

75 Jahre Penicillin – ein Grund zum Feiern!

Essay von Thilo Spahl

Thilo Spahl plädiert für einen rationalen Umgang mit Antibiotika.

Vor 75 Jahren machte der Engländer Alexander Fleming eine der größten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Er bemerkte, dass ein Schimmelpilz Gift produzierte, das Bakterien tötet. Der Name des Schimmelpilzes war Penicillium notatum, das Gift ist bis heute unter dem Namen Penicillin wohl bekannt. Fleming stieß 1928 zufällig auf die segensreiche Wirkung des Pilzes, als er ein paar stehen gebliebene Bakterienkulturen entsorgen wollte und bemerkte, dass sie teilweise abgestorben waren und sich stattdessen ein Pilz, eine Art grünlicher Schimmel, in den Petrischalen ausgebreitet hatte. Der Bakteriologe sah sich die Sache genauer an und erkannte um die Schimmelkolonien herum eine Zone, in der keine Bakterien wuchsen. Der Pilz schien für sie tödlich zu sein. Er experimentierte weiter und fand heraus, dass Staphylokokken, Streptokokken, die Erreger von Milzbrand, Diphterie, Pfeifferschem Drüsenfieber und Starrkrampf von dem Penicillin-Extrakt vernichtet wurden. Eigentlich hätte dieser Zufallstreffer einschlagen müssen wie eine Bombe. Doch als Fleming seine Ergebnisse im British Journal of Experimental Pathology veröffentliche, nahm kaum jemand Notiz davon. Fleming übergab das Projekt an ein Team aus Chemikern und Pilz-Spezialisten, das sich nach einiger Zeit ohne große Erfolge auflöste. Erst 1938 stolperte Ernst Chain, ein Mitarbeiter des Pathologen Howard Florey von der Oxford University, wieder über Flemings ursprüngliche Arbeit, stürzte sich auf den famosen Pilz und testete dessen Gift an Mäusen und Menschen. Am 12.2.1941 wurde der erste Patient von Chain erfolgreich behandelt. Der an Staphylokokken- und Streptokokkensepsis erkrankte 43-jährige Mann erhielt Penicillin. Danach ging es ihm deutlich besser. Nach dieser Behandlung war der Penicillin-Vorrat jedoch aufgebraucht und der Mann starb einen Monat später. Das große Problem bestand darin, ausreichende Mengen der Bakterien tötenden Substanz herzustellen, die nur durch einen aufwändigen Prozess zu gewinnen war.


Doch wieder stockte die Forschung, da England sich mittlerweile im Krieg befand. Florey besorgte daher neue Gelder von der amerikanischen Rockefeller-Stiftung und führte das Projekt in den USA fort. Dort gelang schließlich der Durchbruch, wobei wieder der Zufall eine große Rolle spielte. Florey half zunächst dem Team bei der Auswahl der geeigneten Nahrung für den Pilz. In den USA wurde in großem Maßstab Mais angebaut und aus nahe liegenden Gründen auch als Nährsubstanz für Bakterienkulturen verwendet. Der Pilz zeigte sich darüber hoch erfreut und steigerte seine Giftproduktion gleich auf das 500-fache. Als es anschließend darum ging, einen Penicilliumstamm zu finden, der aufgrund seiner individuellen genetischen Ausstattung noch größere Mengen des begehrten Giftes produzierte, half erneut der Zufall nach. Die US-Luftwaffe sammelte Bodenproben aus aller Welt, aber ausgerechnet auf einer verschimmelten Melone auf einem Markt in der Kleinstadt Petoria in Illinois, direkt vor der Tür des Forschungsinstituts, fand sich schließlich der Champion, mit dem man in die Großproduktion des Antibiotikums ging, die nun, da auch die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, von der Regierung massiv ausgebaut wurde. 1945 erhielten Chain, Fleming und Florey den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

„Antibiotika haben einen guten Teil dazu beigetragen, dass die Welt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine bessere geworden ist.“

Ein zweischneidiges Schwert?

Mit dem Penicillin wurde die Medikamentenklasse der Antibiotika begründet. Sie haben einen guten Teil dazu beigetragen, dass die Welt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine bessere geworden ist. Für uns Spätgeborenen ist es nicht einfach, sich vorzustellen, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine große Ausnahme war, wenn in einer Familie alle Kinder das Erwachsenenalter erreichten. Und auch das dauerte in der Regel nicht lange genug, um schließlich an Krebs oder Herzinfarkt zu sterben. Man starb an Pest und Cholera, an Syphilis und Tuberkulose, an Lungen- und Hirnhautentzündung. Neben den Impfstoffen und der öffentlichen Hygiene ist es in erster Linie das Verdienst von Antibiotika, dass heute in den entwickelten Ländern Infektionskrankheiten Lebensdauer und -qualität nicht mehr drastisch vermindern.


Dennoch erfreuen sich Antibiotika heute keineswegs allgemeiner Wertschätzung. In der verbreiteten Praxis, medizinische Methoden in sanfte und weniger sanfte einzuteilen, landen sie oft in der brutalen Ecke. Viele reagieren mit Unbehagen, wenn ihnen selbst oder ihren Kindern ein Antibiotikum verabreicht werden soll, manche nehmen sogar große Schmerzen in Kauf, wenn sie sich etwa entschließen, eine schwere Mittelohrentzündung ohne Antibiotika zu durchleiden. Dieses Unbehagen kommt nicht von ungefähr. Es hat einen rationalen Kern. Doch worin genau der besteht, davon haben viele keine sehr präzise Vorstellung. Entsprechend unsicher sind sie im Umgang mit diesen Medikamenten.
Zunächst einmal sollte man festhalten, dass Antibiotika nicht, wie viele andere Medikamente, für den Menschen selbst ein Gift darstellen. Nebenwirkungen einer Antibiotikatherapie sind selten schwer. Wie der Name sagt, handelt es sich zwar um Substanzen, die „gegen das Leben“ gerichtet sind, glücklicherweise jedoch nur gegen das Leben bestimmter Bakterien. Für Menschen sind Antibiotika hingegen ungiftig, sonst könnten sie ihren Zweck nicht erfüllen. Dies liegt daran, dass Bakterienzellen sich stark von menschlichen oder anderen tierischen Zellen unterscheiden. Die Moleküle, an denen Antibiotika in den Stoffwechsel des Bakteriums eingreifen, existieren bei Menschen gar nicht. Man darf also nicht von hoher Wirksamkeit auch auf starke Nebenwirkungen schließen. Ein Antibiotikum wird von uns in kurzer Zeit abgebaut, ohne eine Wirkung auf unsere eigenen Zellen zu entfalten. Nebenwirkungen entstehen in erster Linie durch die Schädigung von Bakterien, die in unserem Darm leben und uns bei der Verdauung helfen, und in Form allergischer Reaktionen.


Trotz der spezifisch antibakteriellen Wirkung und der Unschädlichkeit für den Menschen werden Antibiotika oft umstandslos mit Umweltgiften in eine Reihe gestellt. So schreiben etwa die europäischen Grünen in einem Papier zur Agrarpolitik: „Dioxin, PCB, Hormone, Antibiotika, gentechnisch veränderte Organismen (GMO) und viele andere gesundheitsgefährdende Stoffe konzentrieren sich zunehmend in Futter- und Lebensmitteln.“ Als Gifte kann man jedoch gewiss nur die beiden ersten der fünf genannten bezeichnen.

„Es wird suggeriert, Fleisch von mit Antibiotika behandelten Schweinen, Puten oder anderen Tieren sei ungesund. Tatsächlich müsste man ungefähr 100.000 Hähnchenschenkel essen, bis die therapeutische Tagesdosis einer Behandlung mit Chinolon-Antibiotika erreicht wäre.“

Insbesondere wird suggeriert, Fleisch von mit Antibiotika behandelten Schweinen, Puten oder anderen Tieren sei ungesund. Tatsächlich stellen jedoch Antibiotikarückstände im Fleisch aus heutiger medizinischer Sicht kein Gesundheitsrisiko dar, da sie keinerlei Wirkung auf den menschlichen Organismus haben. Berechnungen haben ergeben, dass man bei der gängigen Praxis in der Mast ungefähr 100.000 Hähnchenschenkel essen müsste, bis die therapeutische Tagesdosis einer Behandlung mit Chinolon-Antibiotika erreicht wäre. Im Fall eines anderen Antibiotikums, dem Chloramphenicol, wäre diese Dosis sogar erst nach Verzehr von weit mehr als einer Million Schenkeln erreicht.

Ein stumpfes Schwert?

Eine Gesundheitsgefährdung durch den Einsatz von Antibiotika ergibt sich erst auf Umwegen. Der rationale Kern des diffusen Unbehagens in Hinblick auf Antibiotika ist das Problem der Antibiotikaresistenzen. Vereinfacht gesagt ist damit gemeint, dass sich die Bakterien schlicht an das Gift gewöhnen, mit dem man gegen sie vorgeht, und es daher nicht mehr wirkt. Und wo kein verfügbares Antibiotikum mehr wirkt, stirbt der Patient im Zweifelsfall. Die heutige Situation ist somit zwar weit besser als vor Erfindung der Antibiotika, denn es wird Millionen geholfen, denen vorher nicht geholfen werden konnte. Doch sie ist schlechter als zu Beginn der Ära der Antibiotika, als man optimistisch davon ausging, dass das Kapitel der (bakteriellen) Infektionskrankheiten nun abgeschlossen sei, denn zumindest einigen Wenigen kann mittlerweile mit den Wunderwaffen nicht mehr geholfen werden.


Um den Prozess der Resistenzbildung zu verstehen, müssen wir uns etwas mit Evolutionsbiologie beschäftigen. Jedes Lebewesen lebt in einer bestimmten Umwelt, und je nachdem, wie gut es in dieser zurechtkommt, vermehrt es sich gut oder weniger gut. Jedes Lebewesen ist jedoch ein Individuum und unterscheidet sich in seiner genetischen Ausstattung von seinen Artgenossen. Es gibt immer welche, deren Gene für die jeweils aktuelle Umwelt etwas vorteilhafter sind, und andere, die weniger gut angepasst sind. Die ersten vermehren sich besser als die zweiten. Das gilt gleichermaßen für Bakterien wie für Gänseblümchen oder Menschen. Im speziellen Fall geht es um Bakterien, die in eine giftige antibiotische Umwelt geraten. Sobald sie mit einem spezifisch wirksamen Antibiotikum in Kontakt kommen, sterben viele von ihnen; einige jedoch sind zäh und halten durch. Sie vermehren sich meist nicht mehr so schnell, aber sie vermehren sich. Unter ihren Nachkommen haben wiederum vor allem die Überlebenschancen, die noch etwas besser mit der giftigen Umgebung klarkommen, indem sie zum Beispiel Antibiotika, die durch ihre Zellwand dringen, einfach wieder nach draußen pumpen, wie jemand, der Wasser aus einem lecken Boot eimert. Das Antibiotikum darf daher erst abgesetzt werden, wenn auch diese Standhaften weitgehend ausgelöscht sind. Ist das noch nicht der Fall, entstehen in kurzer Zeit wieder eine große Menge von Bakterien, die nun aber alle von den ursprünglich nur wenigen Resistenten abstammen und daher ebenfalls resistent sind. Wie eine Eiszeit dazu führt, dass die Tierwelt sich auf jene Arten reduziert, die an ein frostiges Dasein angepasst sind, bildet sich dort, wo viele Antibiotika eingesetzt werden, eine Bakterienpopulation aus resistenten Stämmen. Solche Reservoirs für resistente Keime sind zum Beispiel Krankenhäuser oder Schweineställe.


Daher sollten Antibiotika entweder richtig oder gar nicht angewendet werden. Leider geschieht dies aber nicht immer so. Zu oft werden Antibiotika bei leichten Infekten verabreicht oder sogar bei Viruserkrankungen, bei denen sie gar nicht helfen. Und ausgerechnet das schlechte Image von Antibiotika führt bei vielen Patienten zu dem fatalen Fehler, die Behandlung schnell abzubrechen, wenn die Symptome verschwunden sind. Doch genau durch dieses Verhalten entstehen, wie oben erläutert, die resistenten Stämme. So tragen sowohl Antibiotika-Fans, die bei jedem Pups nach ihnen verlangen, als auch Antibiotika-Skeptiker, die sie zu schnell wieder absetzen, zur Resistenzbildung bei.
Eine weit geringere Rolle spielen die Schweine bzw. ihre Mäster, die ihnen Antibiotika in kleinen Mengen ins Futter mischen und damit das Wachstum fördern. Da das Problem der Resistenzbildung seit langem bekannt ist, wurden schon in den 50er-Jahren diejenigen Fütterungsantibiotika verboten, die auch in der menschlichen Medizin Verwendung finden, unter anderem das Penicillin. Es gibt heute eine klare Trennung zwischen solchen Antibiotika, die als Leistungsförderer in der Tierfütterung verwendet werden, und solchen, die in der menschlichen Medizin eingesetzt werden. Ende 1998 wurden schließlich sogar alle bis auf vier Mittel für die Fütterung in der EU verboten. Diese sind von ihrer chemischen Struktur her von den in der Humanmedizin verwendeten so verschieden, dass auch Kreuzresistenzen vermieden werden. Ab 2006 werden auch diese verboten sein.


Dies mag hilfreich sein für die Verhinderung der Ausbreitung resistenter Stämme; sehr viel dringlicher wäre jedoch ein rationalerer Einsatz von Antibiotika in der Humanmedizin durch Ärzte und Patienten.

Gefahr vom Acker?

Der Antibiotikaeinsatz in der Tiermast trug zumindest in der Vergangenheit in gewissem Maße zur Resistenzproblematik bei. Ganz und gar unberechtigt ist jedoch die diesbezügliche Kritik an transgenen Nutzpflanzen. Viele Gentech-Pflanzen, insbesondere die der ersten Generation, sind aus technischen Gründen mit Antibiotikaresistenzgenen ausgestattet. Die Frage, inwieweit ein horizontaler Gentransfer auf Darm- oder Bodenbakterien stattfinden kann, wurde hinlänglich erforscht, und es wurde festgestellt, dass dieses Risiko annähernd Null ist. Ein Gentransfer wäre nur dann erfolgreich, wenn die resistenten Gene komplett von Pflanzenzellen in Bakterien übertragen würden. In der Natur konnte ein solcher Gentransfer aber noch nie nachgewiesen werden. Der Erfinder des »Goldenen Reises«, Ingo Potrykus, und seine Kollegin Kirsten Schlüter haben die Wahrscheinlichkeit eines Transfers eines Resistenzgens gegen das Antibiotikum Kanamycin von transgenen Tomaten auf Darmbakterien berechnet. Die Hochrechnung ergab, dass bei täglichem Konsum einer solchen Tomate bei 260 Menschen höchstens eine Übertragung des Resistenzgens auf ein Darmbakterium zu erwarten wäre. Berechnungen der Übertragungswahrscheinlichkeit von Amipicillinresistenzgenen lauten ähnlich. Die Wahrscheinlichkeit solcher Transfers liegt schätzungsweise zwischen 2x10-11 bis 1,3x10-21 – mithin zwischen 0,000.000.002 und 0,000.000.000.000.000.000.13 Prozent.

„Angstmacherei und Desinformation tragen dadurch, dass verunsicherte Patienten ihre Antibiotikabehandlung zu früh abbrechen, mehr zur Bildung von Resistenzen bei als der Einsatz des Mittels in Tiermast und Gentechnik.“

Wie unbedeutend eine solche Übertragung ist, wird klar, wenn man bedenkt, dass im Boden von Natur aus viele Bakterien mit den gleichen Resistenzen wie bei den in der Grünen Gentechnik verwendeten Markergenen vorkommen. Tagtäglich nehmen wir etwa 1 bis 1,5 Millionen antibiotikaresistente Bakterien mit unserer konventionellen Nahrung auf. Hinsichtlich der erwähnten Kalkulationen beim Verzehr transgener Tomaten errechneten Schlüter und Potrykus, dass eine transformierte Bakterienzelle zu 260.000.000.000 bereits existierenden kanamycinresistenten Bakterien im Darm hinzukommen würde. Wenn sich also in unseren Darm alle hundert Jahre ein Bakterium hinzugesellt, das sein Resistenzgen aus einer Gentechpflanze hat, wäre das in etwa so gravierend, wie wenn der Wind ein Sandkorn in die Sahara weht. Streng genommen lügt Greenpeace also nicht, wenn die Organisation behauptet, Antibiotikaresistenzgene könnten „auf dem Acker oder im Magen-Darm-Trakt von Menschen und Tieren von Bakterien aufgenommen werden“. Doch über die Dimension dieses Problems, vor dem so eindringlich gewarnt wird, schweigen sich die Aktivisten aus.


Angesichts dieser Zahlen kann mit gutem Recht behauptet werden, dass heute die verbreitete Angstmacherei und Desinformation rund um Antibiotika dadurch, dass verunsicherte Patienten ihre Behandlung zu früh abbrechen, mehr zur Bildung von Resistenzen beiträgt als der Einsatz in Tiermast und Gentechnik. Angst, Unbehagen und emotionale Abwehr erweisen sich im Umgang mit den nützlichen Bakterienkillern sowohl bei der medizinischen Behandlung als auch in der Ernährung und der Pflanzenzucht als schädlich. Das Penicillin hat etwas Besseres verdient.

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