01.05.2003

100 Jahre Tour de France

Analyse von Bernd Herrmann

Das härteste Radrennen der Welt feiert dieses Jahr sein 100. Jubiläum. In den Features und Artikeln dazu, das lässt sich jetzt schon sagen, werden wir viel Nostalgie ertragen müssen, mahnende Worte und düstere Ausblicke. Warum nicht einfach feiern, fragt Bernd Herrmann.

Es ist eine Binsenweisheit: Sport war früher kameradschaftlich, er war fair, weniger leistungsfixiert, unkommerziell und deshalb spannend. Zum Beispiel die Tour de France – die erste Frankreichrundfahrt wurde 1903 ausgetragen, um das schöne, gesunde und umweltfreundliche Hobby des Radwanderns einem breiten Publikum nahe zu bringen. Oder etwa nicht?

Es verhielt sich etwas anders. Die erste Tour de France wurde 1903 veranstaltet von Henri Desgrange, dem Herausgeber der Zeitschrift L’Auto (die sich, wie der Titel ahnen lässt, auch an Motorsportbegeisterte richtete). Auf die Idee mit der Tour war Desgrange gekommen, weil seine Zeitschrift kränkelte und er dringend ein Vehikel suchte, mit dem sich das Blatt promoten ließ. Warum nicht das Fahrrad als Werbeträger testen?
Und wie sah es mit der Fairness aus? Radprofis – und es handelte sich um Profis, kein Amateur kann eine Frankreich-Rundfahrt fahren – hielten es damit nicht so genau. In den ersten Jahren der Tour kam es wiederholt vor, dass Fahrer eine Strecke mit dem Zug oder Auto fuhren; Konkurrenten ließ man schon einmal mit einem Steinwurf vom Rad holen, oder man tat ihnen Gift in die Trinkflasche.

Und die Leistungen? In der Frühzeit der Tour war es üblich, Etappen von 500 Kilometern und mehr zu fahren. Die Straßen waren im Allgemeinen Schotterpisten und das technische Gerät den Rennrädern von heute ziemlich unähnlich. Dennoch fuhr man bereits 1910 in den Pyrenäen auf den Tourmalet und 1911 über den 2556 Meter hohen Col du Galibier in den Alpen. Es versteht sich, dass die Etappen seinerzeit nicht mit der Dämmerung zu Ende waren – die Nacht über wurde durchgefahren.

Der Glaube, die heutige Zeit sei krankhaft leistungsfixiert, ist ein sehr frommer Glaube. In einer anderen Radsportdisziplin, dem Sechstagerennen, hat nach wie vor ein Weltrekord von 1924 Bestand: 4544,2 Kilometer in 144 Stunden. Der Grund? Man fuhr ohne Pause durch, etwas, das heute nicht mehr erlaubt ist.

Und Doping? Doping wurde im Radsport erfunden. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wird von zahlreichen Geheimmittelchen berichtet, das bekannteste davon war das wenig gesunde Strychnin.

Bedeutet das nun, der Sport sei immer schon korrupt gewesen, pervertierte Leistungssucht, die nur das Schlechteste im Menschen zum Vorschein bringt? Ganz und gar nicht. Die angeführten Beispiele zeigen nur, dass die gute alte Zeit etwas anders war, als man gemeinhin glaubt. Schon vor hundert Jahren waren die Radfahrer Helden, Überwinder, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengten. Ihren nie für möglich gehaltenen Leistungen – daran ändern auch Doping und die ein oder andere Schummelei nichts – lagen ungeheure Disziplin, höchste Zielstrebigkeit und unnachgiebiger Wille zugrunde.

„Sport ist das Gegenteil von Natur.“

In seinen Anfangstagen wurde der Radsport belächelt. Offiziere und Aristokraten sahen von ihrem hohen Ross auf die strampelnden Bürger hinab – denen würden sie schon zeigen, was adeliger Geist und ein kräftiges Ross vermöchten. Längere Zeit schon hatten sie Distanzrennen zu Pferde ausgetragen. Der Rekord für die 580 Kilometer lange Strecke Wien-Berlin, aufgestellt von Graf Starhemberg, lag bei 71 Stunden. Als 1893 das erste Radrennen Wien-Berlin ausgetragen wurde, war der Sieger Joseph Fischer nach 31 Stunden im Ziel.

Sport ist das Gegenteil von Natur. In keiner Gesellschaft vor der Moderne gab es Sport – und selbst in der Moderne entwickelte sich Sport erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Industrialisierung. Man komme nicht mit Naturvölkern, die auch Ball spielten, oder fernen Ritualen, bei denen gerannt wurde. Beides hat mit Sport nichts zu tun – es waren Spiele oder rituelle Handlungen. Sport, wie wir ihn heute kennen, wurde erst möglich, als durch die Industrialisierung für eine große Zahl von Menschen Freizeit und Freiraum entstanden für Betätigungen, die keinen unmittelbaren Zweck hatten (etwas, das sich zuvor nur die sehr kleine Oberschicht leisten konnte). Diese zweckfreie Zone bot die Chance, sie in Freiheit dazu zu nutzen, ganz neue Dinge auszuprobieren, Dinge, an die zuvor niemand gedacht hatte, sie zu tun und Grenzen zu überwinden, die früher fraglos galten. Hierin liegt der Sinn, hierin liegt die Schönheit des Sports.

„Warum sollen Sportler nicht außer neuem Material, neuen Trainingsmethoden, neuen Diäten auch andere neue Mittel erproben?“

Doch ist diese Entwicklung nicht vielleicht doch heute an einem toten Punkt angekommen? Ein Experte, Gunter Gebauer, hat versucht, diesen Punkt zu definieren. Er begrüßt das Verbot des Dopings, denn dieses Verbot wende sich zu Recht „gegen eine bestimmte Richtung des Fortschritts“. In dem Verbot sieht er eine „Abwehr gegen alle technischen Mittel, die den Körper über die sich aus seinen eigenen Möglichkeiten ergebende Leistungsfähigkeit hinaus entwickeln.“ Diese Grenze zwischen Körper und Technik gilt es ihm nicht allein um des Sports willen zu verteidigen, sondern „weil die wissenschaftlichen Manipulationen von ursprünglich natürlichen Vorgängen, insbesondere die Reproduktionsmedizin und die Gentechnologie“ die Abgrenzung zwischen Natur und Technik schon viel zu sehr verwischt haben. Im Wahlspruch Pierre de Coubertins, dem Begründer der modernen Olympischen Spiele – er dient der Olympischen Bewegung immer noch als Motto –, im „citius – altius – fortius“ (schneller, höher, stärker) hat Gebauer die Ursache der heutigen Probleme ausgemacht. Für ihn ist dieses Motto „nicht nur veraltet, sondern heute auch gefährlich. Der Sport muss den Mut aufbringen, eine Reihe von Fortschrittsmotiven des vorigen Jahrhunderts aus seiner Ideologie zu entfernen. Er muss begreifen, dass die größte Gefahr für ihn von der Simulation der Natur durch die Technik ausgeht“. („Der Sport und die Grenzen der Fortschrittsgläubigkeit“, in: Olympisches Feuer (OF) 6/95)

Warum aber sollen Sportler nicht außer neuem Material, neuen Trainingsmethoden, neuen Diäten auch andere neue Mittel erproben? Worum geht es im Sport, wenn nicht darum, sich selbst zu überwinden, andere zu überwinden, Höchstleistungen zu vollbringen?
Mit dem Argument, Doping sei wider die Natur, kommt man nicht weit. Damit lassen sich nicht einmal Höchstleistungen disqualifizieren. Ein Rekord, eine Goldmedaille kommt nicht vom Doping allein – genauso wenig, wie sie allein vom Turnschuhhersteller oder von der Fahrradmarke kommt.

Und was spricht dagegen, mit „künstlichen“ Mitteln Höchstleistungen zu vollbringen? Künstlich sind Rennanzüge und Räder aus Karbon ebenso wie isotonische Drinks, wie die Sportmedizin, wie das Höhentraining. Warum sollen Substanzen, Substanzen zudem, die unklar definiert sind, verboten sein? Juristisch findet Doping dann statt, wenn Mittel eingenommen werden, die auf der (sich ständig ändernden) Liste verbotener Mittel stehen. Eine andere Definition gibt es nicht. Der einzige Grund, leistungssteigernde Mittel zu verbieten, sollte die Feststellung sein, dass sie tödlich oder ernsthaft schädigend sind. Bei den meisten heutigen Dopingmitteln ist beides nicht der Fall.

Und wenn man dem Argument „hier künstlich – da natürlich“ weiter nachgeht – wie verhält es sich dann mit dem Behindertensport? Lange schon liegen die Siegerzeiten beim Rollstuhlmarathon unter denen der Läufer. Aber auch ohne Räder verändert die Technik einiges. Mittlerweile gibt es Beinprothesen, die mittels Spezialgelenken, Servos und hochentwickelter Elektronik behinderte Läufer schon annähernd so schnell machen wie nicht-amputierte. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Läufer mit Prothese schneller sind als solche mit Füßen. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich im Radsport ab, wo es möglich ist, Amputierte mittels spezieller Prothesen mit ihrer Rennmaschine direkt zu verbinden. Was ist daran falsch? Ist es nicht wunderbar, dass Menschen mit einer Behinderung dank modernster Technik bald vielleicht sogar noch leistungsfähiger sein können als Nicht-Behinderte? Hier kann der Sport gar nicht künstlich genug sein.

Ein Manko des Hightech im Sport – seien es die Sportgeräte, leistungssteigernde Mittel oder aufwändige Trainingsmethoden und -anlagen – ist, dass solche Möglichkeiten nur den Allerwenigsten zur Verfügung stehen – die fast ausschließlich aus den reichsten Ländern kommen. Allerdings kann man diese Ungleichheit kaum dem Sport zum Vorwurf machen. Fahrer aus Sierra Leone oder aus Vietnam werden von der Tour nicht ausgeschlossen, es gibt sie nicht. Hier wäre es an der Zeit, statt Chancengleichheit durch Technikverzicht einzufordern, dass Sportentwicklungsprogramme aufgelegt werden, die auch Athleten aus ärmeren Ländern die Chance geben, auf dem neuesten Stand zu trainieren. Geschieht dies nicht, werden wir weiterhin die Situation haben, dass Sportler aus armen Ländern (oder aus benachteiligten Gruppen in reichen Ländern) nichts weiter bleibt, als ihren Körper in Lowtech-Sportarten zu Markte zu tragen – wofür sie dann von der weißen Gesellschaft gönnerhaft ob ihrer tigerhaften Geschmeidigkeit, ihres feurigen Temperaments, ihrer urwüchsigen Kraft und was es an naturverbundenen, rassistischen Klischees sonst gibt, gelobt werden.

„Gesund lebt der, der gesund sterben will. Leisten wird derjenige etwas, der nicht immer erst an die Gesundheit denkt.“

Bleibt die Frage: Ist es gesund, Höchstleistungen anzustreben? Es ist dies eine etwas merkwürdige Frage, die dennoch gerade heute oft gestellt wird. Formulieren wir die Frage einmal anders: Ist es gesund, in kurzer Zeit viele tausend Kilometer per Rad durch Frankreich zu fahren, auf höchste Berge, bei häufigen Stürzen, Jahr für Jahr, mit vielen anderen Rennen dazu und vom Training ganz zu schweigen?
Selbstverständlich ist das nicht gesund. Leistungssport ist nie gesund. Es ist eine sehr merkwürdige, in neuerer Zeit aufgekommene Vorstellung, man könne versuchen, Höchstleistungen zu erreichen und dabei gleichzeitig auch noch gesund zu leben. Man muss sich schon entscheiden. Selbst Hobbysportlern und denjenigen, die Hobbysportler kennen, dürfte bekannt sein, dass diejenigen, die viel Fahrrad fahren, Fußball spielen, turnen oder Ski fahren, sich deutlich häufiger Knochen brechen und Bänder reißen als diejenigen, die nichts von alledem tun. Und hier sprechen wir von Sport als Hobby.

Radprofis erreichen, wie andere Leistungssportler auch, eher selten den Altersdurchschnitt der Bevölkerung. Wenn man alles gibt, wenn man versucht, das Beste zu geben, sich selbst und andere und sogar Rekordmarken zu schlagen, dann kann man dabei nicht auch auf die Gesundheit achten. Der Sportler, der es doch tut, hat schon verloren. Man kennt das Phänomen von verletzten Sportlern, die ihr Comeback versuchen. Häufig sind sie physisch wieder sehr leistungsfähig, allein der Gedanke an die erlittene Verletzung hemmt sie so, dass sie selbst hinter körperlich schwächere Konkurrenten weit zurückfallen. Gesund lebt der, der gesund sterben will. Leisten wird derjenige etwas, der nicht immer erst an die Gesundheit denkt.

Dass Leistungssport dennoch alt werden kann, zeigt die Tour de France. Trotz der Klagen über den Tod des Sports wird sie hundert Jahre alt. Darauf ein „Hals- und Beinbruch!“

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