30.04.2025

Die Verfinsterung politischen Denkens

Von Marcel Matthies

Nikita Dhawan möchte in ihrem Buch „Die Aufklärung vor Europa retten. Kritische Theorien der Dekolonisierung“ eine Brücke zwischen dem Wokeismus und der Frankfurter Schule schlagen. Das misslingt.

Nikita Dhawan strebt mit ihrem im Oktober 2024 erschienenen Buch an, ein höchst anspruchsvolles Projekt zu verwirklichen, will sie damit doch nicht weniger als „die Aufklärung vor Europa retten“. Die an der TU Dresden lehrende Politikwissenschaftlerin bezieht sich darin explizit auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Buch „Dialektik der Aufklärung“. Dhawans vernunftkritischer Ausgangspunkt ist die „Diagnose, dass die Aufklärung die Wurzel der genozidalen Gewalt sowohl des Kolonialismus als auch des Holocaust ist.“ (S. 97) Mit diesem Befund knüpft sie an die Kritische Theorie der ersten Generation und an die Postkolonialen Studien an. Ausgehend davon will sie nicht nur neue Perspektiven in den Postkolonialen Studien eröffnen, sondern auch an das ‚unvollendete Gespräch‘ zwischen den Postkolonialen Studien und den Holocaust-Studien anknüpfen und zudem einen transdisziplinären Beitrag zu Gender Studies, Queer Studies und Critical Race Theory leisten. Es geht ihr darum, „globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ (S. 29) zu hinterfragen und „das europäische Monopol auf die Praktik der Kritik zu brechen“ (S. 26). Insofern ist der Buchtitel durchaus programmatisch zu verstehen: Es gelte, die Aufklärung in zweifacher Hinsicht zu retten: Denn zum einen wüssten die ‚weißen‘ Europäer nicht mit dem giftigen Erbe der Aufklärung umzugehen; und zum anderen sei die Aufklärung für emanzipatorische Projekte dennoch unabdingbar.

Gegen Kants Fundamentalismus

In dem Prozess gegen die Barbarei sitzt die Aufklärung jetzt auf der Anklagebank und nicht mehr auf dem Platz [...] des Staatsanwaltes. (Alain Finkielkraut)

Zur Umsetzung dieses Vorhabens bedarf es Dhawan zufolge radikaler Schritte. Um die Vorherrschaft westlichen Denkens zu brechen und damit die Bedingung der Möglichkeit für Wissen und Erkenntnis neu zu ordnen, fordert sie sowohl eine „Entsubalternisierung nicht-westlicher Epistemologien“ (S. 27, 172) als auch eine „Enthegemonisierung eurozentrischer Theorien“ (S. 172). Aber gibt es die von Dhawan angenommene Vorherrschaft Europas überhaupt? Angesichts des zunehmenden Bedeutungsverlusts, den Europa auch auf dem Weltmarkt erleidet, basiert der dem Postkolonialismus immanente Glaube an eine bis heute fortdauernde europäische Vormacht- oder Monopolstellung maßgeblich auf in die Vergangenheit gerichteten Projektionen. Anders als von Dhawan behauptet, hat Europa weder „das europäische Monopol auf die Praktik der Kritik“ (S. 26) noch erstreckt sich „seine territoriale Autorität und seine Herrschaft über das eigene Land und die Welt“ (S. 154). Eine Provinzialisierung Europas, wie sie der im Buch häufig zitierte Dipesh Chakrabarty fordert, findet faktisch in vielerlei Hinsicht längst statt und wird sich voraussichtlich verstärken, ohne dass dazu postkoloniale Interventionen vonnöten wären.1 Europa zu provinzialisieren, meint den seit dem Kolonialismus geltenden Universalitätsanspruch des europäischen Denkens zu entuniversalisieren. Ziel ist es, die angeblich der Aufklärung entsprungene koloniale Vernunft und deren bis heute andauernde Vorherrschaft zu destabilisieren und die geistige Dominanz Europas zu dezentrieren.

Dhawan stellt der vermeintlichen „Hegemonie europäischer normativer Ordnungen“ (S. 51) eine „Pluralisierung und Diversifizierung der normativen Legitimität und ihrer narrativen Vermittlung“ (S. 116) entgegen. „Nur durch die Demontage des Vokabulars des westlichen politischen Denkens kann ein neuer Begriff von Politik und eine radikal andere Ethik entstehen.“ (S. 154f.) Pluralisierung und Diversifizierung epistemischer Praktiken seien notwendig, aber nicht hinreichend. Die planetarische Ethik verlange darüber hinaus eine nicht-formelhafte Offenheit für das Ungedachte, welches nicht nur das sei, was noch nicht gedacht wurde, sondern auch das, was sich rigorosen epistemischen Bestrebungen entzieht. Um den epistemischen Wandel auch auf Seiten der Unterdrückten herbeizuführen, brauche es vielmehr kontinuierliche pädagogische Arbeit, etwa indem man „in die ideologische Subjektkonstitution der Subalternen“ (S. 181) eingreife.

„Europa ist ein Kollektivsingular, aber kein handlungsfähiger Akteur, dem man Verantwortung oder Schuld zuschreiben könnte.“

Zugleich verfolgt Dhawan ein weiteres Anliegen. So geht es ihr ausdrücklich um eine Verteidigung der Postkolonialen Studien gegen lauter werdende Beschuldigungen, diese würden den Auswüchsen der Identitätspolitik und einem gefährlichen Anti-Universalismus Vorschub leisten. Sie moniert, insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 werde die postkoloniale Welt erneut als barbarisch und gewalttätig dargestellt, ja sogar als antisemitisch verunglimpft. Dem setzt Dhawan die Absicht des Postkolonialismus entgegen, „Europa für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen“ (S. 22).

Dieses Vorhaben erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen ist Europa ein Kollektivsingular, aber kein handlungsfähiger Akteur, dem man Verantwortung oder Schuld zuschreiben könnte. Zum anderen setzt sich Dhawan mit einem derart monolithisch dargestellten Europa dem Vorwurf des Okzidentalismus aus, weil sie umstandslos auch Nationen wie Irland, Tschechien, die Slowakei, Belarus, die Ukraine oder die Balkanländer für nie begangene Kolonialverbrechen verantwortlich macht. Zudem zeigt schon ein Blick auf die Geschichte des Osmanischen Reichs, dass genozidale Gewalt oder imperiale Herrschaft keine originär europäischen Phänomene sind. Diese Aspekte berücksichtigt Dhawan ebenso wenig wie den immensen Institutionalisierungsschub des Postkolonialismus in Hochschulen, Stiftungen, Redaktionen, Lehrplänen, Gedenkstätten und der veröffentlichten Meinung. Mit einem Rammbock rennt sie offene Türen ein.

Bereits in der Einleitung ihres Buchs klärt Dhawan die Schuldfrage, indem sie eine streng binäre Zuweisung kollektiver Täter- und Opferschaft entlang genealogischer Herkunft vornimmt. Die Europa und den ehemaligen Kolonien zugewiesenen Rollen sind klar verteilt, Ambiguitäten nicht vorgesehen. Zustimmend zitiert Dhawan die indisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak – Dhawans erleuchtete Mentorin –, die sich darüber beklagt, dass „wir in einer Welt leben, in der die Vergewaltiger für die Spurensicherung zuständig sind“ (S. 21). Indes kann Dhawan ihren methodischen Anspruch, beständig die eigenen Annahmen und Vorurteile zu hinterfragen, nur rudimentär einlösen. Denn anders als von Dhawan behauptet, wird hier gerade kein ergebnisoffener Prozess geführt, sondern ein vorab gefälltes Urteil vollstreckt. Mit ihrem weniger theoretisch als vielmehr interventionistisch ausgerichteten Buch greift sie mitunter auf ein Vokabular der juridischen Anklage zurück, um „die transnationale Umverteilung von Handlungsmacht“ (S. 342) der ‚Subalternen‘ zu forcieren. Das ist insofern konsequent, als Dhawan das Erbe der Aufklärung zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen machen will.

Hierzu werden von Dhawan essentialistische Identitäts- und geglättete Geschichtskonstruktionen in Stellung gebracht, die kennzeichnend sowohl für ihr Buch als auch für andere Vertreter der postkolonialen Theorie sind, deren oft zur Totalität tendierende Welterklärungsmodelle mit Dialektik als Erkenntnismethode kaum etwas zu tun haben. Indessen verfolgt die postkoloniale Forschung die Absicht, einer scheinbar gegenhegemonial konzipierten Wissensproduktion die dafür nötige Geltungs- und Wirkmacht zu verschaffen. An dieser Strategie beteiligt sich auch der Campus Verlag, der das Buch auf der Rückseite des Einbands als „ein interdisziplinäres Referenzwerk zur Postkolonialen Theorie“ bewirbt.

„Dhawans Bezug auf die Kritische Theorie beruht auf gravierenden Missverständnissen.“

Paradigmatisch für Dhawans Haltung gegenüber der Aufklärung ist ihre Einordnung von Immanuel Kant, dessen Œuvre sie nämlich genauso wie das von Bacon, Diderot, Rousseau und auch Habermas als „erkenntnistheoretischen Fundamentalismus“ (S. 116) verstanden wissen will. Sie erklärt, dass Kants Denken maßgeblich von Rassismus, Sexismus und Antisemitismus geprägt gewesen sei. Daraus leitet sie direkt ab, dass diese Ideologien tief in der westlichen Vernunft verwurzelt seien. Dagegen wird an Adornos Begriff der ratio deutlich, dass Dhawans Verständnis einer genuin westlichen Vernunft und ihr Bezug auf die Kritische Theorie der ersten Generation prinzipiell unvereinbar sind. In der siebten Vorlesung „Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit“ stellt Adorno sein Verständnis der Rationalität dar. Es sei außerordentlich leicht, so Adorno, nun auch die ratio, also die sich entfaltende Vernunft als solche, für das perennierende Unheil in der Geschichte verantwortlich zu machen. Man dürfe aber die ratio nicht von dem abspalten, wozu sie dient, wofür sie da ist und worin sie eingebettet ist. Sie sei abstrakt – und daher gerade nicht als der absolute Ursprung etwa von Herrschaft zu verstehen. Die ratio sei keine reine Bewusstseinsform und daher nicht unabhängig von dem Inhalt, auf den sie sich bezieht. Herrschaftsverhältnisse seien also nicht aus der ratio zu erklären, obwohl sie sich durch die ratio hindurch reproduzieren. Ursächlich für den drohenden Umschlag der ratio in ihr Gegenteil sei der irrationale Zustand des Ganzen, dessen Dynamik darauf ausgerichtet sei, den Naturzwang zu brechen.2 Es lässt sich festhalten, dass Dhawans Bezug auf die Kritische Theorie auf gravierenden Missverständnissen beruht.

Geburt des Holocaust aus dem Geist der Aufklärung?

Wir brauchen uns nur momentweise rückzuversetzen in den Zustand von Welt und Geist vor Anbruch der Aufklärung, und mit Entsetzen werden wir der Angst inne: Angst vor den ungebändigten Naturgewalten, Angst vor Körperschmerz, für den es keine Linderung gab, Angst vor dem bösen Blick, vor Göttern, Götzen, Dämonen, Angst vor den Herrschenden, deren sadistische Machtausübung durch kein Gesetz eingeschränkt war, Angst vor der eigenen Angst, die aus dem Unbewussten herauftauchte und den Menschen zum Sklaven des ‚Es‘ machte. (Jean Améry)

Ein weiterer Schwachpunkt von Dhawans Buch ist die Engführung von Aufklärung und Holocaust. Dies zeigt sich auch an ihrer Auseinandersetzung mit Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“. Sie liest eine historische Erfahrung in das Buch hinein, die während dessen Niederschrift noch nicht in der von ihr unterstellten Form da gewesen sein kann: Irrtümlicherweise will Dhawan die „Dialektik der Aufklärung“ als ein Buch verstanden wissen, das auf den Holocaust reagiert. Der Holocaust gelte Horkheimer und Adorno, so Dhawan, als Zeugnis einer verhängnisvollen Verschränkung von Mythos (Antisemitismus) und Aufklärung (bürokratisch operationalisierter Massenmord). Im Zentrum des epochalen Buchs stehe das provokante Argument, der Umschlag der Zivilisation in die Barbarei sei nicht etwa ein kontingenter Zusammenbruch der Prinzipien der Aufklärung gewesen, sondern stelle vielmehr deren triumphale und systematische Verwirklichung dar (vgl. S. 99), so Dhawan.3 Obwohl die „Dialektik der Aufklärung“ bekanntlich eine zutiefst pessimistische Kritik der europäischen Zivilisationsgeschichte entfaltet, konnte die Spezifik der NS-Verbrechen von Horkheimer und Adorno aufgrund ihres beschränkten Kenntnisstands jedoch keineswegs als „das logische Ergebnis des herrschenden modernen Rationalismus“ (S. 100) gefasst werden, wie von Dhawan unterstellt wird.

Horkheimers und Adornos Kritik an der instrumentellen Vernunft in der „Dialektik der Aufklärung“ gründet sich auf Informationen etwa über die Errichtung ‚gewöhnlicher‘ Konzentrationslager, die Ausschaltung der Opposition, den Erlass der Nürnberger Rassengesetze, den Schock anlässlich der Reichspogromnacht und schließlich den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Vor diesem Erfahrungshorizont wird ihr Gedanke, „die Judenfrage erwiese sich in der Tat als Wendepunkt der Geschichte“4, bereits hinreichend plausibel. Hätten Horkheimer und Adorno aber schon bei der Niederschrift von Erschießungsgruben, Gaswagen oder Gaskammern gewusst, so hätte sich dies unmittelbar im Buch Ausdruck verschafft. Die „Dialektik der Aufklärung“ kann schon allein deshalb nicht im Bewusstsein von systematischer Vernichtung der europäischen Juden geschrieben worden sein, weil das Buch im Zeitraum von 1941 bis Mai 1944 im US-amerikanischen Exil entstanden ist – zu einem Zeitpunkt also, als das Ausmaß der Judenvernichtung weder absehbar war noch machbar erschien.5

„Dhawans unscharfer Antisemitismus-Begriff ist ihrem intersektionalen Ansatz geschuldet.“

Auch deshalb distanzieren sich beide Autoren im Vorwort zur 1969 publizierten Neuausgabe teilweise stark von einigen ihrer damaligen Überlegungen: Sie weisen ausdrücklich auf den ihre Theorie kennzeichnenden Zeitkern der Wahrheit hin, der an nicht wenigen Stellen für die Erfassung der Realität in der Gegenwart nicht mehr angemessen sei. Ihre Distanznahme liegt auch im Bruch des historischen Bewusstseins begründet, der die Geschichte in eine Zeit vor und in eine Zeit nach Auschwitz zerteilt.6

Bemerkenswert ist, dass Dhawan ausgerechnet das Kapitel „Elemente des Antisemitismus – Grenzen der Aufklärung“, in dem sich die Quintessenz der „Dialektik der Aufklärung“ verbirgt, beinahe in Gänze ausblendet, wenn sie daraus ausschließlich den letzten Satz zitiert. Dhawans unscharfer Antisemitismus-Begriff ist ihrem intersektionalen Ansatz geschuldet, will sie damit doch vor allem „Überschneidungen zwischen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und anderen Formen der Diskriminierung“ (S. 97) verstehen. Problematisch an der Intersektionalität ist deren vage Gleichförmigkeit, die es erforderlich macht, die Unterscheidungsfähigkeit zu verlernen. Weil Dhawan Antisemitismus zu einer bloßen Diskriminierungsform umdeutet, verkennt sie dessen wahnhafte Elemente. Zudem bezieht sie sich positiv auf eine bizarre Kritik am Antisemitismus-Begriff, die der Religionsphilosoph Elad Lapidot vertritt: Demnach „wird nach der Shoah nicht mehr nur das Denken ‚gegen Juden‘, sondern immer häufiger schon das Nachdenken ‚über Juden‘ als antisemitisch aufgefasst.“ (S. 61)

Wie bereits im Hinblick auf die Vernunftkritik ersichtlich, zeigt sich hier eine weitere Differenz zwischen ihr und den frühen Vertretern der Kritischen Theorie. So machen Horkheimer und Adorno interessanterweise gleich zu Beginn des genannten Kapitels auf den Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus aufmerksam: Demnach seien die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches. Sie seien das auserwählte Volk, weil sie vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt worden seien. Daraus folge, dass sie den Vernichtungswillen auf sich ziehen. Während man die Schwarzen ‚nur‘ dort halten wolle, wo sie hingehören, solle die Welt aber von den Juden gereinigt werden.7

Ein imaginäres Gespräch

Der Kampf mit dem Feind zwang die Nationalsozialisten in die Rationalität zurück, während sie in den Vernichtungslagern ihre Gegner dehumanisierten: Triumph absoluter Herrschaft. (Detlev Claussen)

Das größte Manko des Buchs besteht in der vertanen Chance zu einer fundierten Auseinandersetzung mit den Holocaust-Studien. Obgleich Dhawan vorgibt, an das ‚unvollendete Gespräch‘ (S. 24, 32, 90, 118) zwischen den Postkolonialen Studien und den Holocaust-Studien anzuknüpfen, kommt kein einziger namhafter Repräsentant der Holocaust-Studien im Buch zu Wort. Einschlägige Namen wie Yehuda Bauer, Christopher Browning, Saul Friedländer, Ulrich Herbert, Raul Hilberg, Hans Mommsen oder Léon Poliakov fehlen. Timothy Snyders „Black Earth“ ist das einzige von Dhawan aufgegriffene Buch, das sich den Holocaust-Studien zuordnen lässt. Das Gespräch zwischen beiden Forschungszweigen entpuppt sich als Selbstgespräch der Postkolonialen Studien. Das wirft die Frage auf, welchen Stellenwert Dhawan als Repräsentantin postkolonialer Theorie der Erforschung des Holocaust beimisst. Ihr Vorgehen stellt aus wissenschaftlicher Sicht eindeutig einen Etikettenschwindel dar.

Zugleich liefert Dhawans Auslassung der Holocaust-Studien eine Antwort auf die Frage, warum sich Theoretiker des Postkolonialismus so schwertun damit, die Spezifik des Holocaust zur Kenntnis zu nehmen. Sie bezieht sich an einer Stelle direkt „auf die Durchsetzung der ‘Singularität‘ des Holocaust im öffentlichen Diskurs“ (S. 96). Den Kolonialismus habe man dabei von Anfang an aus den deutschen Narrativen zu Rechenschaftspflicht und historischer Verantwortung ausgeschlossen und abweichende Stimmen seien zum Schweigen gebracht worden. Die postkolonialen Bemühungen, dieses Defizit zu korrigieren, würden von vielen Deutschen als Affront empfunden. Wer koloniale Völkermorde zu thematisieren versuche, so Dhawan, dem werde angeblich regelmäßig vorgeworfen, den Holocaust relativieren zu wollen.

„Erst durch Vergleiche wird die Besonderheit des Holocaust offenkundig.“

Ohne sich inhaltlich mit der sogenannten Singularitätsthese auseinander zu setzen, gibt sie sich als Anhängerin von A. Dirk Moses‘ Provokation „Der Katechismus der Deutschen“ zu erkennen. Wer meint, den Postkolonialismus reflexhaft gegen etwaige Relativierungsvorwürfe verteidigen zu müssen, sobald von der Präzedenzlosigkeit8 der Judenvernichtung die Rede ist, erweckt den Eindruck, für sachliche Argumente nicht mehr erreichbar zu sein. Postkolonialisten unterstellen in diesem Zusammenhang mitunter ein klandestin ausgehecktes Vergleichsverbot, mit dem die Unvergleichlichkeit des Holocaust quasi ex cathedra verordnet werden soll. Doch es gibt kein Vergleichsverbot. Erst durch Vergleiche wird die Besonderheit des Holocaust offenkundig.

Jean Améry liest Frantz Fanon

Wenn es schon keine Gerechtigkeit in der Geschichte gibt, sollte man wenigstens in der Geschichtsschreibung anders verfahren. (Detlev Claussen)

Um kenntlich zu machen, „wie Kolonialismus und Nationalsozialismus durch die Aufklärung miteinander verstrickt sind“ (S. 96), beruft sich Dhawan mehrfach auf den von Jean Améry geprägten Begriff der „Schicksalsverwandtschaft“ (S. 21, 90, 96, 114, 145). Denn dieser Begriff hebt laut Dhawan die kollektiven Erfahrungen der Entmenschlichung und Brutalität hervor, die die Opfer sowohl des europäischen Kolonialismus als auch des Nationalsozialismus (NS) erlitten hätten. Ihr Vorhaben, den „geteilten Schmerz der Opfer von Kolonialismus und Nazismus“ (S. 114) zu akzentuieren, läuft auf eine Angleichung der Leiderfahrungen sowie eine Angleichung von NS und Kolonialismus hinaus. Sich dabei auf den Essayisten und Holocaust-Überlebenden Améry und dessen Formulierung einer „Schicksalsverwandtschaft“ zu berufen, dient dazu, „Affinitäten zwischen Rassismus und Antisemitismus und Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Holocaust“ (S. 96) zu belegen und etwaige Bedenken gegen einen historiographischen Eintopf mit dessen geliehener moralischer Autorität von vornherein zu entkräften.

Zur Vorgeschichte: Mithilfe des Neologismus „Schicksalsverwandtschaft“ wollte Améry nach der Lektüre eines Aufsatzes des antikolonialen Denkers Frantz Fanon seine geistige Verwandtschaft mit diesem zum Ausdruck bringen. Ausschlaggebend für Amérys Gefühl der Verbundenheit waren die Gewalt- und Folter-Erfahrungen, die sie beide – aufgrund eines vermeintlich ähnlichen Schicksals – haben erleiden müssen. Eine weitere Gemeinsamkeit sah Améry in Überlegungen zur Legitimität von Gegengewalt, die sowohl Fanon als auch ihn selbst beschäftigten. Wie viele andere europäische Intellektuelle seiner Zeit unterstützte Jean Améry in seinem 1968 erschienenen Essay „Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz“9 den Kampf für die algerische Unabhängigkeit. Er war zunächst begeistert von Fanons Aufsatz „Die gelebte Erfahrung des Schwarzen“. Dennoch würde sich Améry der Vereinnahmung seines Begriffs durch Dhawan vehement verweigern.

Schon 1969 distanzierte sich Améry in seinem Essay „Im Warteraum des Todes“10 explizit von Fanon, indem er auf die spezifischen Unterschiede zwischen der Lage der Kolonisierten in Algerien und den Juden in den Ghettos oder Lagern der Nazis hinwies: So betonte Améry nicht nur den fundamentalen Unterschied zwischen Ausbeutung und Vernichtung, sondern erklärte zudem, dass die von Juden ausgeübte Gegengewalt einen existentiell anderen Charakter gehabt habe als die antikoloniale Gewalt: Im Gegensatz zu den algerischen Unabhängigkeitskämpfern hätten die Juden unter NS-Herrschaft nicht darauf hoffen können, sich mittels Gewalt ihre Freiheit zu erkämpfen. Stattdessen sei damit nur ihr ohnehin sicherer Tod als ‚Lohn‘ ihrer Gewalt zeitlich nach vorn gerückt worden.

Améry würde sich auch nicht mit Dhawans zentralen Anliegen gemein machen, NS und Kolonialismus erstens in eine monokausale Beziehung zur Aufklärung zu setzen und den NS zweitens als eine bloße Variation des Kolonialismus (im Sinne eines Bumerang-Effekts oder Rückwärtsschocks) zu fassen. Dieser postkoloniale Erklärungsversuch, auf den sich auch Dhawan – in Anlehnung an Hannah Arendt, Aimé Césaire und Michael Rothberg – bezieht, ist in theoretischer Hinsicht sicherlich originell, hält einer genaueren Überprüfung jedoch nicht stand: Wenn sich der Holocaust innerhalb einer Gewaltspirale des Kolonialismus ereignet hätte, dann müssten Belgier, Briten und Franzosen ähnlich grausame Massenmorde in Europa veranstaltet haben wie die Deutschen.11

„Nikita Dhawan liefert mit ihrem Buch das Narrativ eines negativ gewendeten Eurozentrismus im Jargon der Dekolonisierung.“

Abgesehen davon ist Améry ein inbrünstiger Anhänger der Aufklärung, der weder Foucaults Anti-Humanismus noch der Vernunftkritik der „Dialektik der Aufklärung“ viel abgewinnen konnte. Damit nicht genug, war er einer derjenigen, die schon früh vor den Gefahren der Entdifferenzierung und Überverallgemeinerung in der Geschichtsschreibung warnten: „[D]ie [...] von einem hochzivilisierten Volk [...] vollzogene Ermordung von Millionen wird als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen neben die mörderische Austreibung der Armenier durch die Türken oder die schändlichen Gewaltakte der Kolonialfranzosen. Alles wird untergehen in einem summarischen ‚Jahrhundert der Barbarei‘.“12

Pseudo-progressiver Zeitgeist

Dhawans Forderung, dass Europa sich in ein postimperiales Europa verwandeln müsse, ist daran geknüpft, sich als Europa neu zu entwerfen und dem Experiment des „Unmöglichen“ (Jaques Derrida) auszusetzen. Um ein Europa zu werden, „das der Differenz und der Alterität mit Verantwortungsbewusstsein und Respekt begegnet“ (S. 153), sei es zudem notwendig, „dass die Gastgeber ihr Verständnis von Heimat überdenken.“ (S. 154) Eine postimperiale Zukunft Europas ist Dhawan zufolge davon abhängig, ob Europa sich Fragen der Wiederherstellung und Wiedergutmachung stellt. Sie bezieht sich dabei auf Achille Mbembes Politik der Fürsorge und Reparatur.

Obwohl es an moralischen Appellen nicht fehlt, steht es um das analytische Potenzial des Buches weitaus schlechter. Wer eine reflektierte politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Vernunftbegriff und den Traditionen der Aufklärung sucht, wird enttäuscht, weil sich Dhawans Ausführungen über weite Strecken auf eine das politische Denken betreuende Pädagogisierung, eine Verzerrung der Geschichtsschreibung und eine Poststrukturalisierung der Kritischen Theorie beschränken. Sie scheitert mit ihrem Vorhaben, die Aufklärung vor Europa zu retten, auch weil die Geschichte der Aufklärung und des aufklärerischen Denkens hier so grob vereinfacht umrissen werden, dass die Lektüre erfordert, an das Gelesene zu glauben, nicht etwa weil es plausibel ist, sondern weil es einem pseudo-progressiven Zeitgeist entspricht.

Nikita Dhawan liefert mit ihrem Buch das Narrativ eines negativ gewendeten Eurozentrismus im Jargon der Dekolonisierung: Sie will das Denken der Aufklärung unbedingt als Kausalnexus von Kolonialismus und Holocaust verstanden wissen, richtet sie sich doch explizit „gegen die Leugnung der Verflechtungen zwischen Aufklärung, Kolonialismus und Nationalsozialismus“ (S. 24). Weil sich Dhawans gewagte Idee, Kolonialismus und NS seien dem Geiste der Aufklärung entsprungen und in diesem Sinne verwirklicht worden, nicht plausibilisieren lässt, wandelt sie ihre Idee zu einer Prämisse um: Die Aufklärung müsse dekolonisiert werden, weil aus deren Vermächtnis Kolonialismus und NS erwachsen seien.

Mit der fragwürdigen Prämisse, Kolonialismus und NS seien gleichursprünglich in der Aufklärung angelegt gewesen, kann Dhawan nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zwei ungleichartige Herrschaftsformen als einander äquivalent darstellt. Ihre Argumentation erschöpft sich darin, epistemische Verflechtungen von Kolonialismus und Nazismus sowie von Rassismus und Antisemitismus stur zu wiederholen, ohne sie wissenschaftlich fundiert zu belegen. Frappant bleibt das Fehlen der Holocaust-Forschung.

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