01.07.2007

Zweierlei Maß

Kommentar von Jürgen Wimmer

Die Jugendschutzdebatte wird bar jeglichen verbindlichen Maßstabs geführt.

Ob ein Film zur Kinderbelustigung taugt, entscheidet bei uns bekanntlich die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK), und dazu gibt es die Freigabe-Staffelung ab 6/12/16/18 Jahre. Die wurde vor Urzeiten so festgelegt und seither nicht geändert. Mit einer Ausnahme: Kinder ab sechs Jahren dürfen „in Begleitung eines Personensorgeberechtigten“ nun auch FSK-12-Filme sehen. Den Eltern wird also mehr Verantwortung überlassen, was im Grunde zu begrüßen ist. Gleichwohl verlassen sich viele Eltern auf die FSK-Siegel, und wenn dort „ab zwölf“ steht, ist das ein Hinweis auf Familienfreundlichkeit. Die allerdings wird in letzter Zeit manchmal recht seltsam definiert, etwa bei „Borat“ (2006) von Sacha Baron Cohen.


Als fiktiver Reporter aus einem ebenso fiktiven Kasachstan provoziert Cohen konservative Amerikaner nicht allein mit derben Zoten über Fäkalien und Genitalien; besonders verstörend ist sein vorgetäuschter Antisemitismus, der stets ohne Widerrede hingenommen wird.


Die FSK findet, Jugendliche ab zwölf hätten genug Medienkompetenz, um das als Satire zu erkennen. Sicher doch, der durchschnittliche Schüler kennt sich bestens aus mit den Ursachen und historischen Wurzeln des Antisemitismus und ist auch in der Lage, dies zusammen mit den Scherzen über Pädophilie und Vergewaltigung richtig einzuordnen. Zur Not kann der „Personensorgeberechtigte“ hinterher seiner sechsjährigen Tochter noch erklären, warum der eine Onkel dem anderen die Gummifaust in den Anus schieben wollte.


Auf der anderen Seite wird dem erwachsenen Menschen dann weniger Medienkompetenz zugetraut als dem Schulkind. Action- und Horrorfilme finden auch ohne Jugendfreigabe oft nur gekürzt der Weg in die Kinos oder auf DVD („The Punisher“, 2004). In jüngster Zeit sind bevorzugt Horrorfilme betroffen, etwa „Hostel“ oder „Saw III“. Zugegeben, mit diesen Produkten hat der Hollywood-Mainstream ein Maß an Sadismus erreicht, das noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Andererseits kann sich keiner dieser Filme mit diversen italienischen Kannibalenfilmen der 70er-Jahre messen, etwa Ruggero Deodatos „Nackt und zerfleischt“ (siehe „Cannibal Holocaust“, 1980). Dort wird keinesfalls nur Filmblut vergossen; die grausamen Tiertötungen sind echt.


Und da regt sich heute jemand über einen pubertären Quatsch wie „Hostel“ auf? Darin geraten ein paar oberflächliche junge US-Touristen in eine osteuropäische Herberge, wo man sie dann mit Bohrmaschine und Kettensäge malträtiert – für denkende Menschen ziemlich langweilig und nichts, worüber man sich echauffieren müsste. Während aber bei Filmen wie „Hostel“ oder „Saw III“ das ganze Medienwächter-Instrumentarium mit allen Wabbel-Vokabeln wie „entwicklungsbeeinträchtigend“, „jugendgefährdend“ oder „sozialethisch desorientierend“ großzügig Anwendung findet, sind stundenlange Folterszenen völlig in Ordnung, wenn jemand so tut, als sei das Kunst.


Womit wir bei Mel Gibson sind. Sein fundamentalchristliches Splatter-Movie „Die Passion Christi“ (2004) geht ungekürzt ab 16 durch, und das mit Szenen, die aus jedem Horrorfilm gnadenlos herausgeschnitten worden wären: Da lässt Gibson in einer endlosen Geißelungsszene meterweit Blut und Fleischstückchen herumspritzen, bis der ganze Hof praktisch in Rot umgestrichen ist. Aber Gibson setzt noch eins drauf.
Sein nächster Film, „Apocalypto“ (2006), erzählt – angeblich zivilisationskritisch – vom Untergang der Maya-Kultur, schon mehr freilich von Gibsons Bildfetischen, die sich stets in vier Buchstaben zusammenfassen lassen: Blut. Trotz der pausenlosen Aneinanderreihung von Gräueln wäre auch das beinahe ab 16 durchgegangen.


Dann wieder gibt es Fälle wie John Woos „Bullet in the Head“ (Hongkong, 1990), der in der deutschen Fassung kaum noch verständlich ist. Ein tumber Ballerfilm? Das katholische Medieninstitut ist im Lexikon des Internationalen Films anderer Ansicht: „Das virtuos zwischen Actionfilm und Melodram changierende Opus ist eine schonungslose Abrechnung mit den politischen Verhältnissen, mit den seelischen wie körperlichen Deformationen, die alle Figuren kennzeichnen.“ Die deutsche FSK-18(!)-Fassung ist trotzdem um schlappe 28 Minuten gekürzt. In Worten: achtundzwanzig.


Der erwachsene Zuschauer darf schließlich nicht sehen, was eine Kugel anrichtet, wenn sie in einen Körper einschlägt, dies könnte bekanntlich Horden von Amokläufern auf den Plan rufen. Kindgerecht sind dagegen Schlachtszenen wie in „Die Chroniken von Narnia“ (2005), wo nach dem Gemetzel die Schwerter aussehen wie frisch aus der Spülmaschine, und ein Kratzer an der Backe ist das Äußerste an Verwundung. Da teilt sich Kindern früh mit, wie sauber und unblutig so ein Krieg doch ist.


Und überhaupt: Warum eigentlich geht es immer nur um Gewaltfilme? Sind keine anderen schlechten Einflüsse denkbar? Was schauen wohl – zum Beispiel – jene Mütter, die ihre Kinder in die Tiefkühltruhe stecken?
Das interessiert niemanden. Schade eigentlich. Sind es am Ende vielleicht kitschige Familienfilme der Sorte „Im Dutzend billiger“ (2003), wo Mutterschaft blind verklärt wird? Was fordert im Durchschnitt mehr Todesfälle pro Jahr: durchgeknallte Waffennarren, die sich für Rambo halten, oder die Model-Shows mit ihren Laufsteg-Bohnenstangen, die Teenager in die Magersucht treiben und schon Kinder zu Essgestörten machen? Ist das nicht auch alles ein wenig „entwicklungsbeeinträchtigend“?


Es bleibt ein unaufgelöster Widerspruch: Einerseits wird im Namen des Jugendschutzes wüst an allen möglichen Filmen herumgeschnippelt, weil sie irgendwelchen Feingeistern nicht gefallen; andererseits dürfen sich Sechsjährige im letzten James Bond („Casino Royale“, FSK 12) ansehen, wie der Held einer ausführlichen Genitalfolter unterzogen wird. Welche Freigabe ein Film bekommt, hängt also offensichtlich von der Laune und Tagesform derjenigen ab, die da zufällig gerade in der Kommission sitzen. Das passt alles nicht zusammen und zeigt, dass die ganze Jugendschutzdebatte bar jeglichen verbindlichen Maßstabs geführt wird. Auch irgendwie ziemlich desorientierend.

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