31.10.2014
Zurück in den Naturzustand?
Essay von Sabine Reul
Die westliche Interventionspolitik der letzten zwanzig Jahre ist krachend gescheitert. Gerade angesichts der aktuellen Weltlage brauchen wir eine Renaissance vernünftiger, auf Kooperation zwischen Gleichen beruhende internationale Beziehungen
Westliche Politiker ringen die Hände angesichts ersichtlich chaotischer Weltzustände. Madeleine Albright, von 1997 bis 2003 unter Bill Clinton Außenministerin der USA, beschrieb im August die Lage als „gelinde gesagt, ein Schlamassel“. Und Navi Pillay, die inzwischen turnusmäßig abgelöste UN-Kommissarin für Menschenrechte, fand zum Abschied auf CNN harte Worte für die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrats, Konflikte zu lösen, mit der Folge hunderttausender Toter und Millionen Vertriebener und Flüchtlinge, vor allem im Nahen Osten. [2] Was sie nicht sagten: Die internationale Ordnung zerbröselt, weil der Westen eine Weltpolitik betreibt, die Ordnung zerstört.
Keine Frage: Das Ende des Kalten Krieges war ein dramatischer Einschnitt in den internationalen Beziehungen, der die Außenpolitik vor große Herausforderungen stellt. Seit den 1950er Jahren strukturierte der Systemkonflikt zwischen West und Ost mehr oder weniger alle Konflikte auf der Erde. Sie war politisch und ideologisch in zwei Lager gespalten, und der Grundsatz der Freund meines Feindes ist mein Feind (und umgekehrt) reichte meist aus, um Weltpolitik zu betreiben. Der Kalte Krieg gab dem Westen quasi spontan strategische Orientierung und inneren Halt.
Die gingen mit dem Ende des globalen Großkonflikts verloren, und seither haben Europa und Amerika eine Außenpolitik verfolgt, die chaotische Zustände erzeugt – Zustände, die in niemandes Interesse liegen – auch nicht des Westens. Abgesehen vielleicht von Anhängern schwärzester Verschwörungstheorien würde wohl keiner behaupten, dass die vollständige Zerstörung fragiler staatlicher Strukturen im Irak im Gefolge der US-Interventionen seit den frühen 1990er Jahren im besten Interesse der USA war. Oder die Aufrüstung von Freischärlern, die inzwischen dort und in Syrien einen mörderischen Krieg gegen alle „Ungläubigen“ führen. Und das gilt genauso für den aktuellen Ausbruch eines neuen Großmachtkonflikts im Herzen Europas im Kontext der durch die EU-Erweiterungspolitik ausgelösten Ukraine-Krise – mit allem, was daraus noch erwachsen mag.
Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Wirklichkeit, zwischen verlautbarten Zielen – Demokratisierung, Stabilisierung, wirtschaftliche Entwicklung und Terrorismusbekämpfung – und den völlig gegenläufigen Ergebnissen westlicher Interventionspolitik seit Ende des Kalten Krieges ist eklatant und wirft Fragen auf. Das betrifft auch den enormen Ansehensverlust des Westens, der durch sie entstanden ist. Die Interventionspolitik „hat viele Menschen davon überzeugt“, schrieb Francis Fukuyama 2008, „dass der Ausdruck ‚Demokratie‘ nur ein Codewort geworden ist für militärische Intervention und gewaltsamen Regime-Umsturz“. [3] Wieso haben westliche Regierungen eine Politik verfolgt, die so kontraproduktive Ergebnisse zeigt?
Weltneuordnung
Die Anlässe und Hintergründe dieser Entwicklung sind gewiss komplex. Aber das Kernproblem lässt sich wie folgt zusammenfassen: sie betreiben eine neue Form der Großmachtpolitik, die der Wirklichkeit der heutigen pluralen Staatenwelt widerspricht, indem sie die Grundsätze der Gleichheit aller Staaten und der Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten massiv verletzt.
Mit dem Ende des Kalten Krieges trat der Planet in den Zustand einer pluralen Staatenwelt mit den üblichen vielfältigen innergesellschaftlichen wie zwischenstaatlichen Spannungsfeldern ein, wie sie seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten bis ins 20. Jahrhundert hinein bestand. Europa und Amerika haben auf diese Veränderung, die gegenüber den Eroberungskriegen von 1914 bis 1945 und dem darauf folgenden Systemkonflikt zwischen West und Ost ja ein großer Fortschritt ist, völlig unangemessen reagiert. Man hat den aus dem letzten Jahrhundert gewohnten Hang zur Militarisierung und Internationalisierung lokaler Konflikte unter den neuen Vorzeichen einer Politik der Krisenprävention und -bewältigung fortgesetzt.
Ein entscheidender ideologischer Faktor war dabei die schon seit den 1980er Jahren erstarkende Überzeugung von der Verwundbarkeit der interdependenten globalisierten Gesellschaft, die sich zunächst vor allem auf Gefährdungen der natürlichen Umwelt bezog. Sehr populär wurde damals das Bild des Schmetterlings am Amazonas, dessen Flügelschlag am anderen Ende der Welt Orkane auslöst. Wenn schon so infinitesimale Anlässe so dramatische Effekte hervorbringen, was ist dann erst von Terroristen oder Gewaltherrschern zu erwarten? [4] Angst wurde zu einem bestimmenden Moment der von Soziologen als „Kultur der Angst“ oder „Risikogesellschaft“ beschriebenen sozialen Stimmung westlicher Gesellschaften – spätestens nach dem Unfall im Atommeiler Tschernobyl 1986.
Anlass für die vielfältigen Interventionen seit Beginn der 1990er Jahre wurden nun – von Jugoslawien über Afghanistan bis in den Irak – lokale Krisen und Konflikte, die teils noch aus der Endphase des Kalten Krieges hervorgegangen oder durch die Auflösung der Sowjetunion ausgelöst wurden. Die dortigen westlichen Eingriffe wurden maßgeblich bestimmt durch subjektive Fehleinschätzungen: übertriebene Furcht vor Instabilität selbst in entlegeneren Regionen, Überbewertung kultureller Unterschiede – und die daraus folgende unvernünftige Annahme, durch massive politische oder militärische Einwirkung von außen Ordnung schaffen zu müssen und zu können.
Dass andere Völker oder Regierungen aller Wahrscheinlichkeit nicht genauso sind wie wir, dass sie eigene Konflikte haben, die uns eben nicht unmittelbar betreffen, geriet in dieser Perspektive in Vergessenheit. Eine Art neurotischer Drang zur Konstruktion von Feindbildern und die Projektion moralischer Überlegenheit wurden zu Leitmotiven westlicher Weltpolitik, die zu einer „enthemmten strategischen Globalisierung“ führten. [5] Deshalb besteht das, was wir heute sehen: ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem raumgreifenden moralischen und politischen Führungsanspruch der USA, Deutschlands oder der EU und der Destruktivität ihrer Initiativen auf der Weltbühne.
Von Kant zum Interventionismus
In seiner oft als Aufruf zur sofortigen Völkerverbrüderung fälschlich in Anspruch genommen Schrift Zum Ewigen Frieden schrieb Immanuel Kant: „Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus“. Und er folgerte daraus: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“ Kant konzedierte, dass einen Staat zu unterstützen, der sich durch Sezession gebildet hat, nicht unter dieses Gebot fällt, aber so lange der innere Streit noch nicht entschieden sei, „würde diese Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner inneren Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein, und die Autonomie aller Staaten unsicher machen.“ [6]
Diese und andere über Jahrhunderte hart errungenen Grundsätze einer vernünftigen Weltpolitik haben zum Ziel, die Wirklichkeit der Pluralität der Interessen und Perspektiven auf die Welt nicht zu leugnen, sondern aus höherer Perspektive vereinbar zu machen und ihre destruktiven Tendenzen zu bändigen. Darauf ruhen die Gebote des Völkerrechts: Gleichheit und Autonomie aller Staaten und Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Sie wurden zwar nie universell eingehalten, schon gar nicht gegenüber Kolonialländern, aber sie sind der Bestand an vernünftigen weltpolitischen Prinzipien, den wir haben.
Man hat die Grundsätze des Völkerrechts in den letzten Jahrzehnten über den Haufen geworfen und situativ subjektive weltpolitische Missionen erdacht – vom US-Kampf gegen „Schurkenstaaten“ über die „Responsibility to Protect“, den „Krieg gegen den Terror“ und „humanitäre Intervention“ bis zum „Nation Building“ und Demokratieexport. Im Kern laufen sie allesamt darauf hinaus, anderen Staaten die Fähigkeit zur Selbstregierung abzusprechen. „Wenn ein Volk seine staatliche Freiheit verliert, verliert es seine politische Realität, auch wenn es ihm gelingen sollte, physisch zu überleben“, schrieb Hannah Arendt Anfang der 1950er Jahre. Erläuternd fügte sie hinzu, es handele sich hier um „eine geschichtlich-politische Realität, die, da sie nicht hergestellt war, auch nicht wieder restauriert werden kann“. [7] Diese Worte klingen heute prophetisch.
Der Punkt ist: Politische oder staatliche Macht ist ein immer spezifisches, historisch auf einem bestimmten Boden gewachsenes Verhältnis zwischen Menschen und ihren politischen Einrichtungen; zerstört man staatliche Autonomie, zwingt man nicht nur eine autoritäre Regierung aus dem Amt oder ersetzt lokale Gesetze durch von außen auferlegte. Man zerstört diese Beziehung, und zurück bleiben atomisierte Individuen – konkret heute unter anderem Flüchtlinge, zerstreut in alle Welt. Menschen haben zwar auch dann mehr Selbstbehauptungskraft als vielleicht in Arendts Worten anklingt, aber ihre Welt ist in der Tat verschwunden.
Man zerstört also Staatlichkeit, wie wir sie bislang kennen, und ersetzt sie durch etwas anderes: von außen kommende Agenden anderer, die keiner internen Kontrolle oder Zurechenbarkeit zugänglich sind. Die ideologische Prämisse des Interventionismus lautet, dass sich im Zeitalter der Globalisierung der Nationalstaat überholt hat und überhaupt die Unterscheidung zwischen innen und außen in der Politik. Dieser Nonsens wurde in Deutschland zuerst von Ulrich Beck popularisiert, dann von grünen Politikern aufgegriffen und ist in Deutschland in Politik und Akademien lange etablierter Konsens. Schon 2001 bekannte sich Angela Merkel kurz nach den Terroranschlägen auf die Twin Towers in New York zur „Weltinnenpolitik“ – damals in Form bedingungsloser Unterstützung der USA im „Krieg gegen den Terror“, der kurz darauf in Afghanistan einsetzte, und „wehrhafter“ Verteidigung der „westlichen Wertegemeinschaft“. [8] Weltinnenpolitik ist ein besonders kurioses weltpolitisches Konzept, dessen einziger erkennbarer Inhalt darin besteht, die Aushebelung der Souveränität anderer Länder zu legitimieren.
Wie inzwischen jedermann weiß, war und ist der Krieg gegen den Terror in jeder Hinsicht ein Debakel: Al Qaida, Taliban und andere Terrorgruppen wurden durch die Kriegserklärung der USA in quasi-staatlichen Status gehoben; die wechselnden Kriegsziele verbunden mit oftmals barbarischen Maßnahmen der US-Besatzung vor allem im Irak diskreditierten den Wertanspruch des Westens nachhaltig; die Betonung der „Verletzlichkeit“ der größten Macht der Erde durch Terroristen bestärkte zudem nicht nur letztere in der Überzeugung von der Dekadenz des Westens und ihrer eigenen Macht, sondern beförderte auch die Verunsicherung westlicher Gesellschaften. [9]
Ethik statt Strategie
Seit den 1990er Jahren haben die USA und Europa die traditionellen Grundsätze einer liberalen weltoffenen kooperativen den Konzepten einer sogenannten „ethischen“ Weltpolitik geopfert. Man hat in blinder Selbstgefälligkeit eine moralische Hierarchie der Staaten behauptet, in der die einen strafen oder erziehen und die anderen diese Deklassierung dulden und mit den damit verbundenen Problemen zurechtkommen müssen. Dass das selten gut gelingt, lässt sich nun besichtigen.
Anders als der schöne Ausdruck vermuten lassen mag, verschwinden in dieser Politik auch nicht die Eigeninteressen ihrer Akteure in einem Meer globaler Mitmenschlichkeit. Schließlich handelt es sich auch im Westen um Staaten, deren Bestand ebenfalls gebunden ist an die Behauptung ihrer Integrität, Macht und Autorität – nicht zuletzt in den Augen der eigenen Bevölkerung. Dieses Eigeninteresse wirkt verborgen hinter der selbstgefälligen Fassade altruistischer Weltverbesserungsrhetorik. Dazu meinte der kanadische Philosoph, Historiker und Publizist Michael Ignatieff 1998 angesichts der US-Interventionen der 1990er Jahre: „Wenn Politik durch moralische Motive bestimmt wurde, wurde sie meist durch Narzissmus bestimmt. Wir intervenierten nicht nur, um andere zu retten, sondern uns selbst oder vielmehr ein Bild unserer selbst als Verteidiger universeller Anständigkeit. Wir wollten zeigen, dass der Westen etwas ‚bedeutet‘.“ [10]
Und das erzeugt auch eine Eigendynamik. Wenn ein außenpolitisches Experiment wie die Invasion Afghanistans, gedacht um westliche Autorität nach dem Terrorangriff auf New York von 9/11 zu stärken, in schweres Wasser gerät, meldet sich Bedarf an weiteren invasiven Maßnahmen – in diesem Fall in Pakistan –, um den drohenden Ansehensverslust abzuwenden. Intervention gebiert also mehr Intervention. Darauf machte schon 1998 Großbritanniens Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Krieg im Kosovo aufmerksam: „Der bloße Akt der Entsendung britischer Streitkräfte in eine Situation verwandelt aus Sicht des Vereinigten Königreichs jede Krise in etwas Grundlegenderes, denn dann stehen die Sicherheit und der Ruf seiner Streitkräfte in Frage“ [11], lautete eine Passage seines Berichts zum Kosovokrieg. Die gleiche Dynamik sehen wir heute im Konflikt mit Russland zur Ukrainekrise, in der der Westen seinen Ruf durch Leugnen der eigenen Mitverantwortung für den Bürgerkrieg schützen möchte. [12]
Zumindest in Washington scheint man gewahr zu werden, dass diese expansive Interventionspolitik möglicherweise ihr Verfallsdatum überschritten hat. Barack Obamas Aussage „There is no strategy!“ mit Blick auf den Vormarsch der IS in Irak und Syrien von Ende August kann man als Zeichen werten, dass Amerika sich der Verantwortung für die desaströsen Folgen seiner Abenteuer in der Region möglichst rasch entledigen möchte. Und wenn selbst in Foreign Affairs, dem führenden Außenpolitikmagazin der USA, fast zeitgleich ein Artikel des Politikwissenschaftlers John J. Mearsheimer, bekannt als Vertreter der „realistischen“ Schule im außenpolitischen Establishment der USA, unter dem Titel „Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist. Die liberalen Selbsttäuschungen, die Putin provoziert haben“ erscheint, lässt sich annehmen, dass der Stern des in den USA verwirrenderweise als „liberal“ (zu verstehen als „links“) bezeichneten Interventionismus im Sinken begriffen ist. [13]
In Deutschland braucht gewöhnlich alles länger. Daher dürfte es eine Weile dauern, bis der Berliner Apparat und seine zahllosen NGOs und Stiftungen von ihrer Weltverbesserungsmanie ablassen. Doch wie dem auch sei: Die aktuelle rhetorische und militärische Aufrüstung gegen Russland zeigt, dass der „Feind“ weiter im Mittelpunkt westlicher Außenpolitik steht.
Was die Welt braucht, ist eine Renaissance vernünftiger, auf Kooperation zwischen Gleichen beruhende internationale Beziehungen. Die These von „Ende des Nationalstaats“ ist zumindest auf absehbare Zeit ein bloßes Ideologem und Legitimation für die Zerstörung schwächerer Staaten durch mächtige. Gleichheit und Unverletzlichkeit der Staaten und die demokratische Autonomie der Völker bleiben die moralischen Fundamente für Frieden und Freiheit auf dem Planeten. Alles andere, so sehen wir heute, führt zur Barbarei.