01.11.2001

Zur Sache 7

Von Thomas Deichmann

Dysfunktion...

...beschreibt in der Medizin eine gestörte Funktion des Organismus. Wir haben den Begriff dysfunktionale Eliten erstmals vor einigen Monaten benutzt – angesichts der BSE- und der MKS-Paniken und den Massenverbrennungen von Vieh schien uns das nur zu passend. Auch der politische Budenzauber gegen hinreichend geprüfte und sichere Nahrungspflanzen und Lebensmittel aus Gentechlabors bekräftigten uns in der Vermutung, dass ein vernünftiger politischer Entscheidungsprozess zu allen möglichen Fragen unseres Lebens im wahrsten Sinne des Wortes gestört ist. Mehr zu diesem Themenbereich gibt es in unserem aktuellen Schwerpunktthema »Ernährung«.

Wo man auch hinschaut: Allem Anschein nach haben Politiker den Glauben an sich und das Fortkommen der Menschheit verloren. Von Selbstzweifel geplagt, suchen sie ihr Glück in symbolischen Aktionen. Dazu zählen die Scheiterhaufen fürs Schlachtvieh und seit dem 7. Oktober der Luftkrieg gegen Afghanistan. Das Inferno des 11. September hat die Dysfunktionalität und die Selbstzweifel der Eliten bestärkt, das Resultat ist ein seltsamer Mix aus Kriegsaktionismus, Apologetik und Defensivität. Ihr Agieren vor und nach dem Schreckenstag brachte ihre tief sitzende Verunsicherung und Orientierungslosigkeit zum Vorschein.
Das ging so weit, dass mit den Zwillingstürmen in New York vorübergehend auch Präsident Bush von der Bildfläche verschwand. Die Vereinigten Staaten waren für einen Tag führungslos. Unzählige Menschen warteten vergeblich nach moralischem Halt und Zuspruch ihrer Politiker. Die Feuerwehrmänner von Manhattan wurden zu den Helden des 11. September, während sich der Präsident versteckt hielt.
Bush tauchte wieder auf und kündigte wenig später einen militärischen Gegenschlag an, bei dem keine 2-Millionen-Dollar-Raketen auf 10-Dollar-Zelte mit Kamelen darin gefeuert würden. Das »Kameleschiessen« begann dann doch am 7. Oktober, und die versprochene Offenlegung der Beweise für die Schuld Osama bin Ladens blieb er ebenfalls schuldig. Auf die Frage, gegen wen genau und vor allem mit welchem Ziel der Krieg begonnen wurde, sollte der Hinweis auf einen »monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse« genügen.

Wie nie zuvor bei Fragen des Krieges brachen Unstimmigkeiten im US-Establishment hervor. Man stritt im Pentagon darüber, ob die Militäroperation überhaupt als Krieg bezeichnet werden dürfe. Es dauerte nach dem 7. Oktober keine zwei Wochen, bis die ersten Politiker Nerven zeigten. So wurden Sorgen darüber geäußert, dass man gegen die »Taliban-Propaganda« an Boden verlieren könne. Die Ausstrahlung von Videoaufzeichnungen mit Osama bin Laden, die ihn eher als irren Demagogen denn als überzeugenden Redenschwinger entblößten, wurde kritisiert. Auch vor dem Charisma des einschläfernden Taliban-Sprechers in Pakistan wurde gewarnt. Obwohl die Kommunikationdefizite des »Gegners« augenfällig waren, glaubte man allen Ernstes, diese beiden Personen könnten den US-Sprechern mitsamt ihres gigantischen PR-Apparats den Rang ablaufen. Die USA haben zwar alle Militärmacht mit Afghanistan anzustellen, was immer man sich vorstellt. Doch es fehlt offenbar allerorts an der nötigen Überzeugung, dass der eingeschlagene der richtige Weg ist.

An dieser neuen Zögerlichkeit in der westlichen Politik zeigt sich das gescheiterte Projekt, nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue Weltordnung unter Führung der USA auch politisch auf stabile Fundamente zu stellen und das eigene weltpolitische Handeln neu und glaubhaft zu legitimieren. Die moralisierende und unglaubhafte Menschenrechtsrhetorik konnte das alte Blockdenken nicht ersetzen. Sie führte vielmehr zur Relativierung aller Leitbilder und Werte, die der US-Führung einmal Stärke und Zuversicht gaben. Heute dominieren relativistische Selbstzweifel das politische Geschäft und befördern einen gefährlichen Aktionismus. Die aktuelle Militäroperation zielt wohl am ehesten darauf ab, dieser Misere spontaneistisch zu begegnen. Den US-Bürgern soll Entschlossenheit und eine neue Scheinmission der in Wirklichkeit ratlosen und desolaten Eliten vorexerziert werden. Der US-Luftkrieg ist weniger ein Kampf gegen den Terrorismus denn ein halbherziger Kreuzzug zur Selbstfindung der verloren gegangenen Designation.

Fest steht: Um die Entwicklungen seit dem 11. September klären zu können, bedarf es Fragestellungen, die den gegenwärtigen Diskurshorizont in Politik und Medien sprengen. Anregungen dazu finden Sie in der Rubrik »Krieg und Terrorismus«.


Ich wünsche Ihnen trotz allem und schon jetzt erholsame Feiertage, einen guten Rutsch ins neue Jahr und eine anregende Lektüre


Thomas Deichmann

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